Außer Atem: Das Berlinale Blog

Früchtchen des Zorns: Nora Fingscheidts "Systemsprenger" (Wettbewerb)

Von Thekla Dannenberg
08.02.2019.


Auf einmal ist nur noch wilde Wut auf der Leinwand. Eben noch zogen sich lustig bunte Kinderkleckse über den Vorspann, da rastet das Mädchen aus, schreit und tobt und schmeißt mit allem um sich, was ihm in die Finger kommt. Vor allem die bescheuerten Bobbycars. Lehrer, Erzieher, Betreuer flüchten hinters Panzerglas, doch das hält die Attacken ebenso wenig aus wie die Nerven aller Beteiligter. Benni ist neun Jahre, das aggressivste und brutalste Kind, das jemals auf der Leinwand zu sehen war, und man schließt dieses Früchtchen des Zorns sofort in sein Herz.

Für ihre Mutter klaut sie eine Handtasche, einem Mann im Rollstuhl höhnt sie "Geile Karre!" hinterher, selbst die älteren Jungs geben vor ihr, der Psycho, klein bei. Die Profis im Sozialsystem haben schon längst kapituliert. Keine Einrichtung will das Monster noch haben, erst recht keine Pflegefamilie. Besonders übel: Kaum geht es dem Kind irgendwo besser, muss es weg, sonst würden ja Bindungen entstehen. 37 Absagen hat die freundliche Frau Banafé vom Jugendamt schon gesammelt. Die labile, überforderte Mutter verspricht dem Kind immer wieder, es aus dem Heim zu holen, aber dann packt sie es doch nicht.

Nora Fingscheidts Film "Systemsprenger" jagt uns durch alle Gefühlszustände, die in diesem vereinsamten Kind mit all seinen Traumata wabern: Ist Benni gut drauf, singt sie ihrer lieben Mama selbstgereimte Lieder vor. Redet man schlecht von ihr, pinkelt sie ihren Betreuern vors Besprechungszimmer. Wenn sie einen Koller kriegt, geht sie mit dem Messer auf den freundlichsten Sozialarbeiter los. Benni ist die reinste Zeitbombe, blondgelockt, in hübschen Signalfarben gekleidet und liebenswert gespielt von Helena Zengel, aber lebensgefährlich für alle Beteiligten. Wenn's ganz schlimm wird, kommt sie in die Klapse. Und die Leinwand wird pink vor Zorn. So sieht ein mentaler Filmriss aus.



Die nette Frau Banafé will nicht aufgeben, die lebensferne Ärztin will sie nach Kenia schicken. Der coole Micha (Albrecht Schuch), ihr Schulbegleiter, Boxtrainer und Vaterersatz, nimmt sie für drei Wochen mit in den Wald, er hat eine Hütte in der Lüneburger Heide. Da soll Benni Holz hacken und sich beruhigen. Der Bauer nebenan stöhnt nur: "Schon wieder so ein gestörtes Kind, das meine Tiere quält." Aber Micha macht seine Sache gut. Schon weil auch er heftig ausrasten kann, hat das Kind Respekt vor ihm. Das Interessante an einem solchen Kind ist, dass es das System und die Menschen an Grenzen bringt, im Guten wie im Schlechten.

"Systemsprenger" ist das Debüt der 1983 geborenen Filmemacherin Nora Fingscheidt, eine absolute Low-Budgetproduktion, durchaus ein Sozialarbeiterdrama, aber mit Power und Präzision. Zwei Stunden lang folgt man diesem Kind von einer emotionalen Übersteuerung zur nächsten, was den Film zu einer echten Nervenprobe macht. Aber anrührend sind die Momente der Freundschaft zwischen Benni und Micha, bewegend der Zusammenbruch der engagierten Frau Banafé und die Dialoge immer pointiert. Und auch wenn der Film die eine oder andere dramatische Wendung zuviel nimmt, reißt das Ende es wieder raus: Dann wird zur Abwechslung nicht die deutsche Jugendhilfe auf ihre Belastbarkeit getestet, sondern das System der internationalen Flugsicherheit: Die Security verlangt von Benni, das Stofftier abzugeben. Großartige Szene. Danach hat nur Nina Simone Worte.

Systemsprenger. Regie: Nora Fingscheidt. Mit Helena Zengel, Albrecht Schuch, Gabriela Maria Schmeide, Lisa Hagmeister, Melanie Straub. Deutschland 2019. 118 Minuten (Alle Vorführtermine).