Außer Atem: Das Berlinale Blog

Absolut modern: Die Viehhirten in "Öndög" von Wang Quan'an (Wettbewerb)

Von Anja Seeliger
09.02.2019.


Dieser Film tut so, als könnte er kein Wässerchen trüben, als wäre er einer dieser chinesischen Breitwandfilme mit rotbackigen Mongolen, die ihr Vieh, ihre Familie und das traditionelle Bogenschießen hochhalten. Auch hier endlose Weiten, die endlose Minuten lang durchquert werden müssen. Lange schaut die Kamera immer wieder auf die goldgelbe Steppe unter einem riesigen blauen Himmel. Wir sehen beim Schlachten eines Schafs zu und bei der Geburt eines Kalbs - jedesmal in Echtzeit.

Das dauert. Man langweilt sich offen gesagt ein wenig. Die Geschichte gibt auch nicht viel her: Irgendwo auf der Steppe wird die Leiche einer Frau gefunden. Ein junger Polizist bleibt zur Bewachung des Leichnams zurück. Abends tanzt er, um sich warm zu halten, zu Heavy Metal aus seinem Handy. Eine allein lebende Viehhirtin bringt ihm Essen, doch erst muss sie auf ihrem wolligen, würdevoll-majestätisch blickenden Kamel die Schafherde zusammentreiben und schlachten. Dann hilft sie ihm die Nacht zu überstehen, mit Essen, einem Feuer, dem Kamel im Rücken. Der junge Polizist raucht seine erste Zigarette und hat seinen ersten Sex. Noch während des Akts greift die Frau zu ihrem Gewehr, um die Wolfsmutter zu töten, die sich auf der Suche nach Beute der Leiche nähert.



Am nächsten Tag hat man ganz unspektakulär den Täter gefasst. Die Hirtin, stellt sich bald heraus, ist schwanger. Sie sitzt im Krankenhaus, schaut auf die Abtreibungspillen und denkt nach. Viel mehr passiert nicht. Das ist nicht viel Handlung für einen anderthalbstündigen Film, dessen Breitwandformat zwar viel von der Landschaft einfängt, der aber sonst ästhetisch vor allem durch eine gewisse Derbheit charakterisiert ist: Wenn die Frau auf der Steppe auf den Schwangerschaftstest pinkelt, blickt die Kamera ungeniert auf den kräftigen Strahl zwischen ihren nackten Hinterbacken. Es ist der Blick eines Bauern.

Seufzend verlässt man das Kino - und stellt eine Stunde später fest, dass man immer noch über den Film nachdenkt. Diese Hirtin - sie lebt allein, hatte zwei Fehlgeburten, erfahren wir ganz nebenbei, von ihrem Nachbarn, mit dem sie immer noch befreundet ist. Und haben mongolische Frauen einfach mal so Sex mit einem Fremden? Und mit einem Nachbarn? Ziehen mongolische Männer ganz unbefangen - um nicht zu sagen freudig - das Kind eines anderen auf? Die Beiläufigkeit, mit der diese Dinge entschieden werden, und von der Frau allein, die setzt sich doch fest im Betrachter. Man stelle sich vor, dies wäre ein europäischer oder amerikanischer Film. Zwei Fehlgeburten - allein das wäre schon episches Drama. Die Frau allein in der Steppe lebend - ein die Psyche sezierendes Kammerspiel. Und der One-Night-Stand mit Folgen - endlose Diskussionen würden geführt. Aber hier, in diesem mongolischen Film, wird das beim Verzehr eines Apfels geklärt. Während uns die Moderne schon wieder abhanden zu kommen scheint, kann man sie in der Mongolei noch in ihrer ganzen Pracht bewundern.

Anja Seeliger

Öndög (Wettbewerb). Regie: Wang Quan'an. Mit Dulamjav Enkhtaivan, Aorigeletu, Norovsambuu Batmunkh, Gangtemuer Arild. Mongolei 2019, 100 Minuten (Vorführtermine)