Außer Atem: Das Berlinale Blog

"Zufrieden? Nein." - der Berlinale-Pressespiegel

Von Thomas Groh
12.02.2019. Carlo Chatrian zieht mit seinem Locarno-Team nach Berlin um, meldet Variety. Zhang Yimous Wettbewerbsfilm "One Second" wurde überraschend aus dem Programm genommen - chinesische Zensur, fragt sich der Tagesspiegel. Ästhetisch reizvoll, aber doch begähnenswert: Denis Côtés "Ghost Town Anthology" im Wettbewerb. Und beim Porträtfilm "What She Said" über die Filmkritikerin Pauline Kael trauert die Filmkritik den alten Zeiten nach. Der fünfte Berlinale-Tag im Rückblick.
Zwei Nachrichtenmeldungen zum Auftakt: Ziemlich aufmerken lässt die Variety-Meldung, dass Kosslicks Nachfolger Carlo Chatrian mit seinem Locarno-Programmteam nach Berlin kommen wird. Das spricht für einen deutlich härteren Schnitt gegenüber der Kosslick-Berlinale als bislang angenommen. Man darf gespannt sein, wie sich dies auf Chatrians ersten Jahrgang auswirkt. Und: Zhang Yimous Wettbewerbsfilm "One Second" musste in letzter Sekunde aus dem Programm genommen werden, meldet der Tagesspiegel. Von offizieller Seite werden "technische Probleme in der Postproduktion" als Grund für die überraschende Absage angegeben. Der Tagesspiegel mutmaßt allerdings, ob nicht auch Zensurprobleme in China der Grund sein könnten: Immerhin spielt der Film zur Zeit der Kulturrevolution.

Als die Filmkritik noch im Fernsehen stattfand: "What She Said" über Pauline Kael
In "What She Said" findet Filmkritik ausnahmsweise mal auf der Leinwand statt: Rob Garver ist ein "hinreißender Dokumentarfilm" über die legendär geliebte, legendär gehasste US-Filmkritikerin Pauline Kael gelungen, schreibt Verena Lueken in der FAZ. Katrin Doerksen bewundert die Porträtierte auf Kinozeit: Kael stand für "mutiges, eigenständiges Denken." Den Film kennzeichnet eine "versöhnliche Heiterkeit, die der Kritikerin völlig fremd gewesen sein dürfte", berichtet Thekla Dannenberg im Perlentaucher und wird fast ein bisschen wehmütig, wenn sie auf diese große Zeit der intellektuellen Debatten zurückblickt: Damals wurden "die wichtigsten intellektuellen Debatten über Kunst, Ethik und Ästhetik in Filmkritiken und mit existenzieller Dringlichkeit ausgetragen" und "Filmkritiker waren wichtige Gäste in den Talkshows der Fernsehsender waren. André Bazin, Manny Farber und der unvergleichliche Robert Warshow hatten bewiesen, dass Kritiken nicht Leserservice sind, sondern Essays von höchstem intellektuellen Rang. ... Alle waren überzeugt, dass es ohne Kritik keinen Fortschritt im Film geben könne. Tempi passati." Auch Frank Arnold wischt sich in epdFilm eine Träne aus dem Augenwinkel.

Langeweile in 16mm: "Ghost Town Anthology"
Traumhaft schöne karge Bilder, entsättigt und winterlich, atmosphärisch dicht - der Winter in Québec: Damit kann Denis Côtés "Ghost Town Anthology" fraglos punkten, schreibt Anja Seeliger im Perlentaucher. Das ist aber nicht das Verdienst des Regisseurs, sondern des Kameramanns François Messier-Rheault, "der mit seinem grobkörnigen 16mm-Material wahre Wunder vollbringt." Der Film selbst ist in seiner Verrätseltheit indessen weniger wunderbar: "Es gibt keine Geschichte." Till Kadritzke vom Tagesspiegel fühlt sich in diesem "Psychogramm der kanadischen Provinzwelt" an David Lynchs "Twin Peaks" erinnert, allerdings umgibt den Film auch "eine Aura der Beliebigkeit." tazlerin Eva-Christina Meier vermisst eine "überraschende Auflösung" des Geraunes, das dem zweifelhaft schön anzusehenden Film am Ende wenigstens noch etwas Pfiff gegegeben hätte. Und Nino Klingler kloppt den Film auf critic.de vollends in die Tonne: Nichts, aber auch gar nichts, was man sich Kluges zu dem Film denken kann, wird vom Film eingelöst. "Letzter Ausweg für den ratlosen Kritiker: Es ist ein Meta-Film! Côté arbeitet auf doppelter Bühne: Er dreht eine Zombiegeschichte als Wiederkehr untoter Erzähl- und Inszenierungsstandards. Zufrieden? Nein."

Andreas Busche hat für den Tagesspiegel mit Dominik Graf gesprochen, dessen 90er-Actionfilm "Die Sieger", vom Regisseur selbst lange als Filmruine eingeschätzt und damals an den Kassen krachend gescheitert, gestern Abend als digitale Restaurierung in einer annäherungsweise kompletten Fassung auf dem Festival lief. Der Zukunft sieht der zwischen Fernsehen und Kino pendelnde Regisseur mit vorsichtiger Skepsis: "Öffentlich-rechtliches Produzieren, wie ich es noch kannte, mit den Personen, die dort das Erzählen wirklich befeuerten und denen, die dies heute noch nach Kräften tun: Das hat Legendäres geleistet. Und immer waren die besten RedakteurInnen dabei unter Beschuss ihrer Vorgesetzten. Vielleicht kommt ja trotz allen Verwerfungen von dort auch noch mal was, bevor die Strukturreformen ihre zerstörerische Wirkung voll entfalten."

Die Berlinale gibt sich gern politisch und sozial engagiert. Kinomitarbeiter klagen dennoch über unfaire Löhne, wie derzeit alle Besucher am Potsdamer Platz bestätigen können. Auf ein für das Festival peinliches Detail weist Hanns-Georg Rodek in der Welt hin:  Gut möglich, "dass die Berlinale (...) ihren Festivalbetrieb mit Hilfe einer der in Literatur und Film meistverachteten Gruppen aufrecht erhält: durch Streikbrecher."

Weiteres: Einen Heidenspaß hat critic.de-Kritiker Martin Gobbin mit "Die Kinder der Toten" im Forum, einer auf Super8 gedrehten, lose auf Elfriede Jelinek basierenden Splatter-Groteske mit Satans-Einschlag in den österreichischen Alpen. Fabian Tietke spricht für die taz mit der Filmemacherin Jennifer Reeder über ihren in der "Generation" gezeigten Film "Knives and Skin". Ulrich Sonnenschein blickt für epdFilm auf die erste Halbzeit der "Frauenberlinale" zurück. Im FAZ-Blog berichtet Bert Rebhandl von Entdeckungen aus dem Rückblick des Panoramas auf die eigene Geschichte. Claus Löser gibt in der Berliner Zeitung Retrospektive-Tipps. Und für critic.de haben sich Olga Baruk, Nino Klingler, Philipp Schwarz und Silvia Szymanski zum Podcast-Plausch über das Festival eingefunden.

Hätten Sie ihn erkannt? Christian Bale als Dick Cheney
Besprochen werden Adam McKays außer Konkurrenz gezeigtes, satirisch gefärbtes Dick-Cheney-Biopic "Vice", für das sich Christian Bale wieder mal bis zur Unkenntlichkeit maskiert hat (Perlentaucher, Tagesspiegel, Presse, Berliner Zeitung, SZ), Emin Alpers Wettbewerbsfilm "A Tale of Three Sisters" (Berliner Zeitung), Mark Jenkins "Bait" (Perlentaucher, critic.de), Agnieszka Hollands "Mr. Jones" (Perlentaucher, critic.de, Tagesspiegel, mehr dazu bereits hier), David Schalkos Remake "M - Eine Stadt sucht einen Mörder" mit Udo Kier (Tagesspiegel), Zhu Xins "Vanishing Days" (Tagesspiegel), Hikaris "37 Seconds" (taz), die Türsteher-Doku "Berlin Bouncer" (ZeitOnline), Teona Strugar Mitevskas "God Exists, Her Name is Petrunya" (taz, mehr dazu in der gestrigen Presseschau), Jonah Hills "Mid90s" (taz, Berliner Zeitung, epdFilm) und "Light of My Life" mit Casey Affleck (Tagesspiegel).

Für den schnellen Klick im Laufe des Tages immer wieder interessant: Der Kritikerinnenspiegel von critic.de, die Festival-SMS von Cargo und selbstverständlich unser fortlaufend aktualisiertes Berlinale-Blog.