22.02.2020.
Am Anfang gibt es eine Art Establishing Shot: eine verschneite Landschaft, irgendwo in Osteuropa, ein luxuriöses Landgut, eine Schafherde, die in den Bildkader getrieben wird.
Nach der nächsten Schwarzblende befinden wir uns im Haus, und das werden wir in den folgenden 200 Minuten nicht mehr oft verlassen.
Am Anfang gibt es eine Art Establishing Shot: eine verschneite Landschaft, irgendwo in Osteuropa, ein luxuriöses Landgut, eine Schafherde, die in den Bildkader getrieben wird. Nach der nächsten Schwarzblende befinden wir uns im Haus, und das werden wir in den folgenden 200 Minuten nicht mehr oft verlassen. Der
Gutsbesitzer Nikolai hat geladen, und bis der Tag sich dem Ende neigt - dies ist auch ein
Film des vergehenden Lichts -, wird gespeist, getrunken und vor allem geredet werden. Denn der neue Filme des großen rumänischen Filmemachers Cristi Puiu ist die Verfilmung eines Dialogstücks des russischen Religionsphilosophen
Wladimir Solowjow, der in seinen "Drei Gesprächen über den Krieg, den Fortschritt und das Ende der Weltgeschichte" seine
dramatis personae am Ende des 19. Jahrhunderts über Krieg und Frieden, Religion und Moral, Asien, Russland und Europa debattieren lässt.
Auch Puius ProtagonistInnen diskutieren und streiten so ausführlich wie geschliffen, und doch kommt man nicht um den Gedanken herum, dass es hier um ihre Positionen und Argumente nicht eigentlich geht. Nicht dass sie nicht zeitgreifend und bis in feinste Details ausgeführt würden: es geschieht nicht viel neben ihnen in "Malmkrog", und entscheidet man sich, sich auf diesen durchaus fordernden Film einzulassen, so bleibt einem keine Wahl, als sich auch
ihren rhetorischen Volten auszuliefern. Und doch ist da auch noch etwas anderes, das sich zunehmend in den Film einschleicht. Das eigentlich schon immer da ist.
Die epische Breite, die nachgerade überbetonte Literarizität und die philosophische Schwere der Themensetzung von "Malmkrog" verleitet zur Täuschung. Tatsächlich erzählt Puiu hier weniger in der Zeit als
im Raum, und weniger im wortreichen Vorder- als im stummen, ständig
betriebsamen Hintergrund. Der beständig fließende Dialog im Duktus des intellektuellen Großbürgertums am Fin de siècle bringt keinen Naturalismus hervor, sondern ist vielleicht eher als eine Art Re-enactment zu begreifen, wie überhaupt eine Annäherung an diesen überaus eigenwilligen, ungreifbaren Film eher des Handwerkszeugs der Bildenden Künste bedarf.
Wenn nämlich Solowjews Gespräche als Re-enactments in der Zeit einfrieren, dann böte es sich an, sie
mehr skulptural denn literarisch zu begreifen, und "Malmkrog" erschiene einem plötzlich als eine Art beredtes Stillleben. Entschiede man sich für diese Form der Annäherung, würden plötzlich ganz andere Elemente in Puius Inszenierung sinnstiftend. Dann ginge es plötzlich um die Konstellation der Figuren im Raum, um die Rahmungen des Bildkaders und um dessen Öffnungen in weitere, dahinterliegende Räume etwa durch die in der Kadrage
sehr präsenten Türen, die in diesem Haus - von einer einzigen abgesehen, hinter der sich eine ganz eigene, hier kaum anerzählte Geschichte verbirgt - stets geöffnet scheinen. Und es ginge um das, was im Hintergrund, auch durch das Sound Design omnipräsent, vor sich geht, um
die Bediensteten, die wortlos und geschäftig dort wirken, gelegentlich auch im Vordergrund durchs Bild huschen, selten mit einem geflüsterten Wort angesprochen werden und die fortwährend neue Speisen auftragen und sie, zumeist kaum berührt, wieder forttragen.
Plötzlich erschlösse sich auch jene enigmatische Schocksequenz, die nach guten zwei Stunden ein Loch in den Film reißt, das sich niemals mehr schließen wird. Auf ein ungeheures Geschehen folgt da - nichts. Eine Schwarzblende beendet das dritte ebenso wie jedes der sechs Kapitel des Films, und wenn Puiu wieder aufblendet, ist es so, als sei nichts geschehen. Der Film aber ist von diesem Punkt an im Grunde
ein Geisterfilm, und viel näher liegt es, ihn von Anbeginn als einen solchen zu begreifen. Ein Film über die Gespenster von Nationalismus, Völker- und Geistesgeschichte, die nach wie vor unerlöst auf einem auf ewig verschneiten russischen Zauberberg herumspuken.
Malmkrog. Regie: Cristi Puiu. Mit Frédéric Schulz-Richard, Agathe Bosch, Diana Sakalauskaité, Marina Palii, Ugo Broussot u.a., Rumänien / Serbien / Schweiz / Schweden / Bosnien und Herzegowina / Nordmazedonien 2020, 200 Minuten. (
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