Außer Atem: Das Berlinale Blog

in jeder Hinsicht tief gehängt: Kelly Reichardts "First Cow" (Wettbewerb)

Von Thekla Dannenberg
22.02.2020.


Der Westen war eine männliche Welt, besonders oben im kalten Norden, in Oregon. Hierhin verschlug es nur Heimatlose und Trapper, die sich um die Forts herum ansiedelten, in selbst zusammengehauenen Bretterverschlägen. Frauen nahmen sie sich mit List oder Gewalt von den indianischen Bewohnern Amerikas oder ließen sie aus New Orleans und Saint Louis kommen, mit der Bahn oder dem Schaufelraddampfer. Das war oft, wenn auch nicht immer, ein Geschäft zum gegenseitigen Nutzen. Mit den Frauen kamen die Hoffnung auf eine Familie, das Gefühl von Zuhause, der Duft gebackenen Kuchens.

Kelly Reichardt lässt in ihrem fantastischen Oregon-Western eine Kuh den Fluss hoch schaffen. Es ist ein unspektakuläres Ereignis. Die Kuh steht angebunden auf einem Floß, die sanften, schön geschwungenen Augen verraten nichts über die Seelenlage des edlen Tiers, von dem man später erfährt, dass der Bulle und das Kalb ums Leben gekommen sind. Die Kuh gehört dem Chef des Forts Tilikum, einem Engländern, der gern seinen Tee mit einem Schuss Sahne trinkt. Die beiden Freunde Cookie und King-Lu melken die Kuh nachts heimlich, denn Cookie kann backen. Und weil alle Mann in der Siedlung das freudlose Brot aus Wasser und Mehl leid sind, machen die beiden Freunde ein gutes Geschäft mit ihren in Öl gebackenen Krapfen. Die riechen nach London! Wirklich genießen können sie ihren Erfolg nicht, es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, bis jemand die Milch im Gebäck herausschmeckt. Dass es nicht der feine Herr aus England sein wird, ist Cookie allerdings von Anfang an klar: Er ist sich seiner selbst einfach zu sicher um zu glauben, dass man ihn bestehlen könnte.

"First Cow", revidiert die Western-Erzählung in jeder Hinsicht. Reichardts Bilder vermeiden das Erhabene, Weite, Offene. Sie sind in jeder Hinsicht tief gehängt. Die Kamera bewegt sich wenig, sie zeigt die Menschen im Unterholz beim Pilzesuchen, beim Fallenstellen, in selbstgezimmerten Hütten, im Matsch. Das Licht verliert hin und seine Fahlheit, wird strahlender, aber winterlich bleibt es in dieser übervollen, aber rauen Landschaft. Vor allem aber ist "First Cow" nicht die Geschichte des einen Mannes, der seinen Weg geht, es ist die Geschichte der Freundschaft zwischen Cookie und King Lu.




Cookie kommt aus Maryland, seine Mutter ist bei seiner Geburt gestorben, sein Vater kurze Zeit später. Er hat sich sein Leben lang durchgeschlagen, ist aber ein gutmütiger Mensch geblieben. Backen hat er als Schuldknecht in Boston gelernt. In den äußersten Westen ist er mit einem Trupp Pelztierjäger gekommen, die ihn schikanierten, wo sie nur konnten. Unter ihnen herrschte das Recht des Stärkeren, der sanftmütige Cookie hat sich ihm gebeugt.

King Lu kommt aus dem Norden Chinas. Er hat sein Glück in Kanton versucht, aber dort hasst man die Nordchinesen noch mehr als die Weißen, sagt er. Sehr subtil konterkariert er als Figur auch die Selbstverständlichkeit, mit der die weißen Trapper ihre eigene Anwesenheit in Oregon betrachten, aber nicht seine. King Lu glaubt aber auch nicht an den Westen: Arme Menschen haben hier keine Chance, sich etwas aufzubauen, denn um anfangen zu können, braucht man Kapital, ein Wunder oder ein Verbrechen. Dennoch träumt er von einem Hotel in San Francisco.

Die Freundschaft, von der Reichardt erzählt, ist keine Männerfreundschaft, die beiden sind Cowboys, sie reiten nicht zusammen, sie treiben nicht die Rinder nach Wyoming. Sie treffen sich in der Bar des Forts, lassen das kleine Baby allein, auf das sie aufpassen sollen. Aber kaum sind sie in Lus Hütte, beginnt der eine ganz selbstverständlich Holz zu hacken, der andere fegt und schüttelt die Felle aus. Ein wunderschöner Moment voller Zartheit, Anteilnahme und gegenseitiger Fürsorge. Auch das kann Grundlage einer Freundschaft sein.

Und noch einen Topos des klassischen Westers konterkariert Reichardts kluger und schöner Low-Budget-Film: Hier kann niemand einfach ein neues Leben beginnen, die meisten müssen ihr altes fortsetzen, und zwar unter härteren Bedingungen: In Fort Tilikum lebt nur eine Handvoll Engländer in gemauerten Häusern, mit quasi eingesperrten Frauen. Drum herum hausen die Menschen in Holz- und Blechhütten, im Matsch watscheln die Gänse, und das traurige Gefiddel wird vom Grunzen der Schweine übertönt. Die Szenerie erinnert an heutige Trailerparks.

In seiner Startsausgabe zum Festival berichtete Variety von zwei großen Trends im Independent-Kino: Zum einen stiegen Bedeutung und Anteil der Regisseurinnen am Markt enorm, zum anderen müsse billiger produziert werden, da die Kinos weniger Gewinne einspielten. Konnten sich Indie-Produktionen bisher ein Budget von drei Millionen leisten, liege die Grenzen jetzt bei einer. Wer würde Arges dabei denken?

Kelly Reichardt hat bereits etliche großartige Filme gedreht, von "Meek's Cutoff" bis "Certain Woman". Nie konnte sie vom Filmemachen leben. Sie unterrichtet am Bard College, um Geld zu verdienen. Man könnte heulen. Können, Ideen, eine eigensinnige Bildsprache reichen nicht. Es braucht Kapital, ein Wunder oder ein Verbechen.

First Cow. Regie: Kelly Reichardt. Mit John Magaro, Orion Lee, Toby Jones und anderen. USA 2019, 122 Minuten. (Alle Vorführtermine)