Außer Atem: Das Berlinale Blog

Zwei unbeschriebene Blätter: "Never Rarely Sometimes Always" von Eliza Hittman (Wettbewerb)

Von Anja Seeliger
25.02.2020.


Wie wir aus zahlreichen Reportagen und Berichten wissen, ist es in einer ganzen Reihe von Bundesstaaten in den USA inzwischen fast unmöglich, eine Abtreibung vornehmen zu lassen. Davon erzählt dieser Film. Eine 17-Jährige in Pennsylvania, Autumn, wird schwanger - Vater ist vermutlich der Vater - und wird von ihrer Frauenärztin, einer Abtreibungsgegnerin, über die Dauer ihrer Schwangerschaft so hinters Licht geführt, dass es für eine einfache Abtreibung zu spät ist. Sie muss nach New York in eine Spezialklinik. Niemand soll was wissen, nur ihre Cousine errät, worum es geht und begleitet sie. Dass ihr Vater sie vergewaltigt hat, errät man aus den Fragen der Frauenärztin, die sie mit "never, rarely, sometimes, always" beantworten soll. Nach einigen Hindernissen klappt es mit der Abtreibung und die beiden fahren wieder nach Hause. Wie war es, fragt sie ihre Cousine. Irgendwie unbedeutend, antwortet Autumn. Das trifft den Film perfekt.

Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen wäre der Film gut aufgehoben, wenn man noch ein paar Infos für Betroffene drum rum bauen würden. Ja, die Situation ist für viele Frauen, die ungewollt schwanger werden, einfach schrecklich. Man findet wirklich erstklassige Magazinartikel zu diesem Thema, die nicht nur Betroffenenschicksale beleuchten, sondern auch die politisch Verantwortlichen benennen. Gibt einem der Film etwas darüber hinaus? Nicht das Schwarze unterm Fingernagel. Die Männer in dem Film sind alle Schweine, und damit haben sie eindeutig das große Los gezogen, denn sie sind wenigstens irgendwas. Von den beiden Mädchen weiß man am Ende des Films so viel wie vorher. Es geschieht ihnen nichts in New York, die Stadt gleitet an ihnen vorbei. Sie erleben nichts, nichts weckt ihr Interesse. Sie reden nicht einmal miteinander. Man erfährt nichts über sie. Wenn sie zurückfahren - sie würden niemals auf die Idee kommen, in New York zu bleiben - sind sie die selben unbeschriebenen Blätter wie vorher.

Als wollte sie das ausgleichen, klebt die Kamera oft so dicht an ihnen, dass die Schärfe immer wieder nachgestellt werden muss. Aber was soll ich über den Charakter eine Person lernen, wenn ich ihre Poren zähle?



Dass die beiden Hauptprotagonistinnen trotzdem nicht nur Pappfiguren sind, die das Thema Abtreibung illustrieren sollen, liegt nicht an der Regisseurin, sondern an den beiden Schauspielerinnen. Sidney Flanigan liefert als Autumn eine Performance in so fein getunetem Minimalismus, dass Robert de Niro daneben aussieht wie Pacino. Mit einem Nichts an Material macht sie aus dem Illustrationsobjekt Autumn immer wieder momentweise einen Menschen. Und Talia Ryder, die die Cousine mit dem naiven Wagemut einer jungen Romy Schneider spielt, ist so schön wie nur irgendein Filmstar aus den vierziger oder fünfziger Jahren. Wenn sie im Bild ist, sieht man niemand anderen. Alles, was Kino ist an diesem Film, liegt in den Gesichtern dieser beiden jungen Frauen.

Never Rarely Sometimes Always. Regie: Eliza Hittman. Mit Sidney Flanigan, Talia Ryder, Théodore Pellerin, Ryan Eggold, Sharon Van Etten u.a., USA 2020, 101 Minuten. (Alle Vorführtermine)