Außer Atem: Das Berlinale Blog

Botschaften an Putin: Andrey Gryazevs "Kotlovan" (Panorama)

Von Nina Sabo
25.02.2020.


Ein russisches Wort hallt in den Köpfen der Zuschauer bereits nach den ersten zehn Minuten wieder: "Kotlovan". Ins Deutsche übersetzt heißt das Wort so viel wie "Baugrube", es kehrt in allen Clips wieder und gibt Andrey Gryazevs Found-Footage-Film den Titel.

Ob Gryazevs Baugruben für das Unfertige, Gefährliche, Bodenlose stehen oder schlichtweg für das Versagen der Regierung - diese Deutung überlässt der Regisseur dem Publikum. Unverkennbar ist jedoch, dass sich Gryazev damit an den gleichnamigen Roman von Andrej Platonow aus dem Jahr 1930 anleht, der vom Leid einer sowjetischen Arbeiterschaft handelt, die für den Bau eines "gemeinproletarischen Hauses"  verantwortlich ist. In Platonows Roman brechen die Arbeiter unter dem Druck zusammen, ohne Regierungshilfen für die Zukunft ihrer Landsleute sorgen zu müssen. Im Film "Kotlovan" wird das eindrucksvolle Bild einer wütenden, verzweifelten, unterworfenen russischen Gesellschaft gezeichnet, die ihre letzten Hilferufe an den verehrten Wladimir Wladimirowitsch Putin richtet - über YouTube.

Der russische Regisseur Andrey Gryazev hat sich durch die Tiefen der Plattform geklickt, hat gewühlt, gegraben und Ungesehenes ausgebuddelt. Aus dieser Fundgrube stellt er seinen 70-minütigen Film zusammen, eine Collage aus Videoclips der russischen Bevölkerung, die sich an ihren Präsidenten richtet. Eine der vielen Botschafterinnen beginnt ihr Video mit der höflichen Erklärung: Normalerweise würde sie den Präsidenten mit "lieber Wladimir" anreden, aber sie habe keinen Respekt mehr vor ihm, darum beginne sie einfach mit ihrer Forderung. Andere Botschafter schreien ihre Wut und Verzweiflung heraus, beschimpfen Putin, fordern ihn auf, Russland so schnell wie möglich zu verlassen - die ganze Nation stehe sowieso längst gegen ihn - oder wünschen ihm den Tod. Eine Frau, vielleicht Anfang vierzig, mit zwei Veilchen im Gesicht, erklärt in die Kamera, sie werde von ihrem Mann geschlagen. Der Mann wurde zwar kurz verhört, dann aber nach Hause geschickt, um sich wieder an ihr zu vergreifen. Nüchtern spricht sie in die Kamera und bittet die Regierung um Hilfe.



Was als unterhaltsamer Zusammenschnitt stolzer Bauarbeiter vor ihren Gruben anfängt, geht dem Zuschauer im Laufe des Films an die Substanz. Auf der einen Seite stehen steigende Benzinpreise, Hungerlöhne, Gegenden ohne Wasser, Strom, Gas oder medizinische Versorgung, auf der anderen Seite steht der seit sechzehn Jahren amtierende Präsident Putin. Dazwischen blickt man auf eine russische Gesellschaft, die sich verzweifelt wünscht, gehört zu werden. Regisseur Gryazev trotzt jeglicher Zensur und verschafft seinen Video-Akteuren Stimme und Gehör.

So unterschiedlich die Töne sind, die in den Videos getroffen werden, so divers sind die Akteure vor den Kameras mit ihren Anliegen. Äußerst präzise und aufmerksam hat Gryazev die Videoclips für seinen Film ausgewählt, sie spiegeln die gesamte Bandbreite der russischen Bevölkerung wider. Man sieht die Videonachrichten tattriger Senioren, die in Altersarmut leben, im Chor sprechende Großfamillien, kleine Dorfgemeinden, die sich der Größe nach aufreihen, ernst in die Kamera blicken und ihrem Präsidenten erklären, warum ihre Heimat nicht länger bewohnbar ist. Bedrückt blicken die Zuschauer auf weinende Mütter, die um die Freilassung ihrer Söhne bitten, und auf körperlich Beeinträchtigte, die ohne Barrierefreiheit zu Gefangenen ihrer Eigenheime wurden. Die Zuschauer blicken auf lange Menschenketten, die Putin erreichen sollen und hören Protestparolen aus den entlegensten Dörfern Russlands.

Spannungsvoll und gebannt folgt man der filmischen Montage bis zum letzten Clip, der dem Publikum ein Lächeln abringen muss: Mit vollgepacktem Bollerwagen und großem Schäferhund brechen zwei Bauern zu Fuß nach St. Petersburg auf, werden mit Segen verabschiedet und biegen erstmal falsch ab.

Kotlovan - The Foundation Pit. Regie: Andrey Gryazev. Dokumentarische Form. Russland 2020, 71 Minuten. (Alle Vorführtermine)