Außer Atem: Das Berlinale Blog

Eine Seele von Mann: Franz Biberkopf in Burhan Qurbanis "Berlin Alexanderplatz" (Wettbewerb)

Von Anja Seeliger
26.02.2020.


Lautes Keuchen, dann läuft der Vorspann, in schwarz und rot, dazwischen ein Kampf im Wasser, die Farben ändern sich nicht, die Szene steht auf dem Kopf. Mehr braucht es nicht, diesen kleinen Trick - die Köpfe unten, das Wasser oben - und man hat ein Bild vom Ertrinken, das man so schnell nicht mehr von seiner Festplatte löschen kann. Ida geht unter, Francis kriecht an Land, "triefend von den Sünden einer vergangenen Zeit", wie uns eine kindliche Frauenstimme aus dem Off mitteilt.

Er landet in einer Notunterkunft, Behörden tauchen hier nie auf, dafür Reinhold. Mit schief gelegtem Kopf, eine Hand seltsam in die Taille gepresst, fast wie ein Fotomodell, mit Schnauzbart und Fistelstimme. Eine lächerliche Figur, völlig gaga, spricht halb Englisch, halb Deutsch, wie die Flüchtlinge. Nichts könnte weniger nach einem weißen Herrenmenschen aussehen. Ein Außenseiter, also einer von ihnen. Reinhard ist ein Verführer, so einen hat man selten gesehen. Albrecht Schuch gibt seinen sämtlichen Affen Zucker in dieser Rolle! Wie er im Stripclub die Treppe runter zum Tanzboden shimmied, lässt einen glatt vergessen, dass er eben noch eine junge Frau aus dem Bett getreten hat, weil er den Geruch der Frauen nach dem Sex nicht erträgt.

Reinhold ist ein Dealer, er sammelt in der Notunterkunft Nachschub für seine Drogenverticker auf der Hasenheide. Francis macht da lange nicht mit, aber irgendwann dann eben doch, wird er reingezogen, oder, wie Eva ihm sagt, er geht Reinhold auf den Leim. Als Reinhold ihm ein Gorillakostüm zum Kostümball überreichen lässt, zieht Francis das an. Reinhold kommt später im weißen Kolonialanzug, mit Helm. Da heißt Francis schon lange Franz. Er ist von Reinhold aus dem fahrenden Auto geschubst worden, hat dabei seinen Arm verloren, ihm aber wieder verziehen. Und er hat Mieze kennengelernt, die Jella Haase in einer hinreißenden Mischung aus Straßenklugheit und Naivität spielt. Wie es ausgeht, weiß man.



Vom Montageprinzip des Romans ist nicht viel übrig geblieben. Trotzdem ist Burhan Qurbanis Film handwerklich ein deutsches Filmwunder. Er hat eine Geschichte, Emotionen, Menschen mit Schicksalen, er spielt in geschlossenen Räumen und im Wald, er ist düster und bunt, er hat stampfende Musik und ist still. Es gibt immer wieder Perspektivwechsel. Etwa wenn die Polizei den Drogendealern auf der Hasenheide nachjagt, guckt die Kamera plötzlich aus der Vogelperspektive auf das Geschehen. Es ist plötzlich ein ganz anderes Bild, ich kann nicht mal sagen ob gut oder schlecht, aber es verändert auf jeden Fall mittendrin die Sicht, und das ist nie verkehrt. Und immer wieder reißen Schnitte Bild und Ton auseinander und fügen sie neu zusammen. Man langweilt sich keine Sekunde.

Der Film hat eigentlich nur ein echtes Problem, und das ist Franz. An dem Schauspieler Welket Bungué liegt es nicht. Es liegt an seiner Rolle: Franz Biberkopf ist jetzt ein Flüchtling. Das passt eigentlich gut, möchte man meinen, tut es dann aber doch nicht. Döblins Biberkopf ist keine sympathische Figur. Man kann schon mit ihm mitleiden, aber mögen? Der Typ faselt, der hat mal Gewissensbisse und dann wird er sentimental, der schwenkt politisch mal nach links, dann nach rechts, der hat halbgare Theorien zu Frauen, der muss erst eine vergewaltigen, damit er sich nach dem Knast wieder als Mann fühlt und bringt ihr dann als Wiedergutmachung eine neue Schürze, der ist ein Prolet durch und durch in seinen Gelüsten, der hat einen Mord auf seinem Gewissen, der hat nichts gegen Juden, aber "Ordnung muss sein". Der ist ein zerrissener, seiner Zeit verhafteter, beschädigter Mensch. Das macht ihn nicht sympathisch, aber interessant.

Quarbanis Franz ist eine Seele von Mann. Er hat Ida nicht getötet, er ist nur nicht mit ihr gestorben. Man weiß nicht mal, ob er zum Schluss Reinhold wirklich tötet. Er hat Fehler, klar, aber die einzige Szene, in der er in eine Art Raserei verfällt, ist völlig unglaubwürdig: Da schlägt er auf der Hasenheide mit einem Hammer auf die Konkurrenz ein. Da muss die Kamera versehentlich dem falschen Mann gefolgt sein, das würde dieser Franz, der Eva höflich fragt, ob ihre Mitbewohnerin ein er oder eine sie ist, nie tun. Er kann auch keine AfD-Parolen nachplappern und Ordnung fordern. Franz, der Flüchtling aus Guinea-Bissau, kann nicht so vielschichtig sein wie Franz, der Prolet aus Berlin. Jedenfalls nicht in diesem Film. So kommt es zu einer unglücklichen Verschiebung: Die eigentliche Hauptfigur ist plötzlich Reinhold.

Berlin Alexanderplatz. Regie: Burhan Qurbani. Mit Welket Bungué, Jella Haase, Albrecht Schuch, Joachim Król, Annabelle Mandeng u.a., Deutschland / Niederlande 2020, 183 Minuten (Alle Vorführtermine)