Außer Atem: Das Berlinale Blog

Zeigt, wie man diskutiert: "The Viewing Booth" von Ra'anan Alexandrowicz (Forum)

Von Anja Seeliger
24.02.2020.


Den besten Film der Berlinale (ich bin bereit, meine Meinung nach einem Meisterwerk zu revidieren) habe ich gleich am ersten Tag gesehen. Es ist ein Forumsfilm und er heißt "The Viewing Booth" (die Guck-Kabine). Es ist ein kleiner Film, 70 Minuten lang, und er zeigt eine junge Frau, die sich für den Regisseur Ra'anan Alexandrowicz zu einem Experiment bereit erklärt hat: In einem winzigen Raum guckt sie sich Videos an, die von der israelkritischen Menschenrechtsorganisation B'Tselem ins Netz gestellt wurden und von eher rechten Gruppen. Welches Video von wem ist, wird ihr nicht gesagt. Sie kann die Videos jederzeit anhalten und ihre Überlegungen dazu aussprechen, was sie auch häufig tut. Dabei wird sie gefilmt, ebenso wie beim Betrachten der Videos. Wir Zuschauer sehen beides, die Videos und ihre Reaktion.

Die junge Frau, Maia Levy, ist eine jüdische Amerikanerin, israelfreundlich, wie wir schnell erfahren, aber mit einer guten Portion Common sense ausgestattet. Sie ist nicht blind für die Fehler der israelischen Seite, aber sie sucht erstmal nach Erklärungen dafür. Im zweiten, kürzeren Teil sieht sie, was wir gesehen haben: Die Videos und ihre Reaktion darauf. Sie soll jetzt über ihre Reaktionen sprechen, und hier ist sie sehr viel defensiver als im ersten Teil. Sie hat sich eingeigelt. Der Regisseur reagiert enttäuscht: Für Menschen wie sie, sagt er, macht er seine Filme. Für Menschen, die sich von guten Argumenten und Fakten beeindrucken lassen, auch wenn sie ihren Grundüberzeugungen widersprechen.

Er hätte nicht enttäuscht sein müssen, er hätte einfach besser zuhören sollen, was die junge Frau im ersten Teil sagt. Sie hält die Filme immer wieder an, und argumentiert mit sich, spult auch mal zurück. Sie kritisiert, sucht nach Erklärungen, fragt sich, ob etwas gestellt ist und was dafür, was dagegen spricht. Man folgt ihr gespannt, und diskutiert die ganze Zeit innerlich mit. Sähe man den Film mit Freunden, könnte man hinterher bestimmt Stunden darüber streiten. Dass die Videos sie oft nicht überzeugen, hat handfeste Gründe: Man erfährt nicht, warum etwas passsiert, wie eine bestimmte Situation gefilmt werden konnte, was davor oder danach geschehen ist. Man sieht manchmal nicht mal, wer betroffen ist. Es fehlt jeder Kontext in diesen Videos.

Seitdem fühle ich mich auf der Berlinale wie Maia Levy. Ich suche nach Kontext, nach Hintergrund, nach einer Information, die mir hilft, die Bilder einzuordnen, und finde keine. In Jonathan Rescignos "Grève ou Crève" (Forum) blickt man fassungslos auf die fast bürgerkriegsähnlichen Bilder von den Bergarbeiterstreiks im Lothringen der Neunziger. Einige Kämpfer von damals werden vorgestellt, sie stehen mit ihren dicken Knüppeln im Streikmuseum, während ein Priester die Reliquien in den Regalen segnet. Ich dachte erst, das wäre eine Satire, aber Rescigno scheint es ernst zu nehmen mit seiner Verehrung für die alten Recken. Warum damals gestreikt wurde, was die Hintergründe waren, erfährt man nicht. Was die Streiks mit dem Boxtraining zu tun haben, das immer wieder in minutenlanger Einstellung Jugendliche von heute beim Training zeigt, erschließt sich mir auch nicht. Ich glaube, man erfährt nicht mal, um welche Stadt es sich handelt. Kein Kontext nirgends.

Radu Jude führt uns mit "Tipografic Majuscul" ins Rumänien der frühen achtziger Jahre. Wir sehen alte Archivaufnahmen, Showsendungen im Fernsehen, Werbung aus der Zeit, Kochsendungen, Interviews mit Menschen, die erzählen, wie sie sich fit halten, Kinder singen mit ihrer Lehrerin, es gibt Paraden und Empfänge, auf denen Ceaușescu mit kleinen Mädchen tanzt. Dazwischen geschnitten sind Szenen aus einem Dokumentartheaterstück der Regisseurin Gianina Cărbunariu. Sie hat den Fall eines Schülers aufgegriffen, der mit Kreide in Großbuchstaben auf Bauzäunen Freiheit forderte, eine bessere Versorgung und Gewerkschaften wie in Polen.

Immer abwechselnd tritt jemand vor und liest aus den Berichten der Polizei, der Überwachungs- und Schulbehörden. Der Junge starb 1985, seine Mutter ist überzeugt, dass die Securitate ihn bei ihren jahrelangen Verhören mit Kaffee vergiftete. Auch hier frage ich mich bei Zugucken ständig, was mir das Archivmaterial aus alten Fernsehsendungen erzählen soll. Von den Kindern, die mit der Lehrerin sangen, wird der eine oder andere bestimmt heute sagen, wie schön es doch eigentlich früher war und dass nicht alles schlecht war unter Ceaușescu.  Aber davon sieht man nichts. Der Regisseur macht nicht einmal den Versuch, seine Bilder zu verarbeiten oder wenigstens zu erklären. Es ist, als bekäme man in einem Restaurant die Zutaten zu seinem Essen auf den Tisch, mit dem Verweis, dass man sie hinten in der Küche kochen könne.

"I dream of Singapore" (Panorama) von Lei Yuan Bin begleitet einen jungen Bangladeshi von Singapur nach Hause. Er hat sich bei der Arbeit schwer verletzt und wird jetzt von einer Menschenrechtsorganisation betreut, damit er nicht auf der Straße landet. Die Kamera hält minutenlang auf den Mann und andere Arbeiter, die auf ihren Handys rumdaddeln. Was passiert ist, erfahren wir nicht, wie die Arbeitsmigranten generell behandelt werden, wie sie bezahlt werden, auch nicht. Geld ist der eine Grund, warum sie nach Singapur kommen, erfährt man irgendwann. Und: "In Singapur gibt es Menschenrechte, bei uns nicht", sagt ein anderer. Niemand fragt nach. Keine Erklärungen, kaum Fragen, keinerlei Hintergrundinformation. Im Heimatdorf des jungen Mannes hält die Kamera immer wieder ungeniert auf die Leute drauf. Die Kinder versammeln sich sofort und machen Faxen. Wir sehen zu, wie der Heimkehrer den Fernseher auspackt, den offenbar die Crew ihm geschenkt hat, die begeisterte Familie applaudiert. Ich stehe auf und gehe raus.

Wie die Videos, die Levy gesehen hat, liefert keiner dieser drei Filme einen Kontext für das, was er zeigt. Man kann nicht mal über sie diskutieren. Politisch unangreifbar, unbewertbar, jeder kann sich aus den Zutaten sein eigenes Gericht kochen. Das Verfahren ist international kompatibel.

The Viewing Booth. Regie: Ra'anan Alexandrowicz. Mit Maia Levy. Israel, USA 2019, 70 Minuten. (Alle Vorführtermine)
Greve ou Creve. Regie: Jonathan Rescigno. Dokumentarische Form. Frankreich 2020. 93 Minuten. (Alle Vorführtermine)
Tipografic Majuskul. Regie: Radu Jude. Mit Bogdan Zamfir, Şerban Lazarovici, Ioana Iacob, Şerban Pavlu. Rumänien 2020, 128 Minuten.
(Alle Vorführtermine)
I dream of Singapore. Regie: Lei Yuan Bin. Dokumentarfilm, Singapur 2019, 78 Minuten.
(Alle Vorführtermine)