Außer Atem: Das Berlinale Blog

Exerzitium des Überdrusses

Von Thekla Dannenberg
03.03.2021. Die Berlinale 2021: Ein Geisterfestival, aber dennoch der Filmkunst verpflichtet mit Filmen von Céline Sciamma, Radu Jude, Dominik Graf, Maria Schrader, Xavier Beauvois, Hong Sangsoo. Eine Zwischenbilanz


Der ultimative Film der Berlinale unter Corona-Bedingungen ist Radu Judes "Bad Luck Banging or Loony Porn". Der rumänische Regisseur verwandelt darin das Drama des erschöpft-aggressiven Großstädters im Lockdown in eine ultrafiese Farce. Schnell, grell und schmutzig: Die Pandemie hat natürlich auch Bukarest erreicht, alles trägt brav Maske und achtet auf Abstand, Reinheit und Hygiene. Nur der angesehenen Lehrerin Emi passiert ein Malheur. Von ihr taucht ein krasses Porno-Videos im Internet auf, was soll man auch die ganze Zeit machen zu Hause, und in den Facebook- und WhatsApp-Gruppen der Schule gehen die Bilder, natürlich, sofort und mit allerhöchstem R-Wert viral. Für den Abend ist Emi zum Tribunal der empörten Elternschaft beordert, bis dahin muss sie den Nachmittag in einer Stadt unter Aggressionsstau überstehen. Bevor sich am Ende die vornehme Elternschaft der Bukarester Eliteschule zerlegt, drückt Radu Jude seinen ZuschauerInnen noch eine Enzyklopädie der bescheuerten Sketche und ätzenden Anekdoten rein, eine wahre Kaskade von dämlichen Blondinenwitzen, Nazi-Gesängen und cinephilen Besserwissereien. Was man halt auch so auf YouTube findet. Wie lauteten noch mal die beiden häufigsten Google-Anfragen? 1. Was ist ein Blowjob. 2. Was ist Empathie. Der Film ist ein Exerzitium des Überdrusses.

Ob Carlo Chatrian darüber noch lachen kann? Der künstlerische Leiter hat zusammen mit Mariette Rissenbeek eine Berlinale organisiert, die arg umstritten ist: Als Alptraum, virtuelles Monster oder deprimierende Streamingsuppe wurde sie tituliert. Das Festival als reines Branchenereignis, auf fünf Tage komprimiert, setzt die Kritik maximal unter Druck. Und umkehrt: Warum schreiben über ein Geisterfestival ohne Publikum und, schlimmer noch, ohne Öffentlichkeit? Und das Ganze dann noch mal im Juni zum großen Filmfest? Es ist nicht einmal klar, ob die Screenings der Filme, die im Wettbewerb und in den anderen Sektionen laufen, als Premieren gelten. So können sie auch noch auf anderen Festivals laufen.

Aber auch wenn sich Chatrian und Rissenbeek zu sehr dem Druck der Filmindustrie gebeugt haben sollten, die unbedingt ihren Filmmarkt durchziehen wollte, verweisen sie nicht ganz zu Unrecht darauf, dass die Berlinale nicht allein dem Publikum gegenüber in der Pflicht steht. Auch die Filmkritik sollte es nicht. Sie ist auch dem Kino verpflichtet, der Filmkunst, der Arbeit der FilmemacherInnen. Die Berlinale ist ein grandioses Publikumsfestival, das die ganze Stadt elektrisiert, aber sie ist kein lokales Stadtfest. Relevanz sollte sie auch in München, Rom und Paris haben.

Dass Chatrian sich einem künstlerisch anspruchsvolleren Profil der Berlinale verpflichtet fühlt als sein Vorgänger Dieter Kosslick, hat er im vorigen Jahr deutlich gemacht. In diesem Jahr kämpft er against all odds. Die Studios halten Filme unter Verschluss oder streamen sie gleich selbst. Viele Produktionen konnten überhaupt nicht mehr fertig werden.


Ein magisch funkelndes Kleinod ist Céline Sciammas "Petite Maman". Im vergangegen Jahr gedreht, gerade mal siebzig Minuten lang, ist der Film ein Beweis dafür, mit wie wenig Mitteln das Kino auskommen kann. Sciamma suspendiert für kurze Dauer die Vernunft zugunsten kindlicher Vorstellungswelten. Die achtjährige Nelly hilft ihrer Mutter das Haus der gerade verstorbenen Großmutter auszuräumen. Die Mutter wird von Erinnerungen an ihre Kindheit überwältigt, doch Nelly kann mit diesen Erzählungen wenig anfangen. Wer ist diese Frau, mit der sie sich identifizieren soll? Der sie nahe sein soll? Dasselbe Leben leben? Als die Mutter überraschend abreist, imaginiert sich Nelly die fremde Erwachsene als Freundin in ihrem Alter. Und während die beiden Kinder, gespielt von den Zwillingen Joséphine Sanz und Gabrielle Sanz, im Wald ein Baumhaus bauen, zu Hause Crêpes backen und Theater spielen, beginnen sie sich Fragen über sich, die andere und ihr gemeinsames Leben zu stellen. Sie verraten sich Geheimnisse und ergründen ein fantastisches Paradox: "Bist Du die Zukunft?", fragt Marion Nelly. "Nein, ich bin die, die Dir folgt." Sciamma erfüllt mit diesem zartfühlenden, poetischen Film einen Kindheitstraum.



Zu den Höhepunkten des Wettbewerbs gehört in diesem Jahr ohne Frage Dominik Grafs Verfilmung von Erich Kästners 1931 erschienenem Roman "Fabian". Über drei Stunden lang erzählt der Film die Geschichte des verkappten Schriftstellers und Fatalisten Jakob Fabian, der sich in die Liebe stürzt, um dem allgemeinen Untergang zu entkommen: Elend im Osten, Unzucht im Westen, dazwischen Unmoral und Gaunerei. Fabian hat gerade seinen Job als Werbetexter verloren, Cornelia arbeitet noch mit allen Mitteln an ihrer Karriere in Babelsberg. Die Schießereien in den Tanzbuden lassen den Fatalisten so unberührt wie die politischen Auseinandersetzungen: Auswüchse des deutschen Vereinslebens. Wer über die Runde kommen will, kann sich keine Sentimentalitäten leisten: "Verhungern ist Geschmackssache", sagt die Gattin des Charlottenburger Pleitiers, die gerade ein Männerbordell eröffnet hat. "Hat die Welt Talent zur Anständigkeit?", fragt der verhinderte Schriftsteller Fabian. "Denken Sie an meine Miete?", entgegnet ihm die Pensionswirtin.

Graf findet ganz neue Bilder für seine Geschichte, selbst die eingebauten Archivaufnahmen erscheinen frisch und ungesehen. Ähnlich wie Christian Petzold in der Anna-Seghers-Verfilmung "Transit" deutet Graf in "Fabian" das historische Setting nur an. Kulissen und Kostüme bleiben durchscheinend, Tom Schilling als Fabian und Saskia Rosendahl als Cornelia spielen moderne Großstadtmenschen, ohne historischen Gestus und vor allem ohne diesen flott-patenten Zille-Habitus. Die digitalen Bilder sind scharfkantig geschnitten, alles flirrt pixelig und edgy, wie in einer rauschhaften Clubnacht. Immer spürt man, aus wie vielen Schichten diese Literaturverfilmung besteht: Kästners Sprache ist in den Szenen so präsent wie Grafs zärtlich-verspielte Sinnlichkeit, das Berlin der dreißiger Jahre und das heutige, Babelsberger Kinoträume und heutiges Filmemachen. "Fabian" ist der filmische Gegenentwurf zu der perfekt repetierten Welt von "Babylon Berlin".



Maria Schraders Komödie "Ich bin dein Mensch" dagegen erzählt sehr versiert die Geschichte einer Archäologin, die sich zu Studien- und Karrierezwecken auf ein Verhältnis mit dem humanoiden Roboter Tom einlässt. Zu Beginn fühlt Alma noch ihre Intelligenz beleidigt, wenn Toms Software sie mit Rilke-Zitate und britischem Akzent zu verführen versucht: Schließlich würde sie auch nicht in einem abstürzenden Flugzeug anfangen zu beten. Aber Toms Algorithmen sind verflucht lernfähig und mit der Zeit erkennt Alma auch Vorteile in einem Partner, in dem sie sich ungestört spiegeln kann. Der Film ist auf der Höhe heutiger Serienproduktion: Berlin ist mit Pergamonmuseum, Fernsehturm, Futurium und stylishen Plattenbauten im Instagram-Chic in Szene gesetzt, Maren Eggert und Dan Stevens spielen souverän, und die Geschichte nimmt ihre Wendungen im richtigen Timing. Aber alles bleibt Konvention.



Xavier Beauvois' exquisites Drama "Albatros" ist eine Hommage an das ländliche Frankreich. La France profonde zeigt sich hier in der durch und durch honorigen Gestalt des Gendarmerie-Chefs Laurent, der in seinem kleinen Städtchen in der Normandie Ordnung zu bewahren versucht. Veränderungen dürfen schon sein in dieser Welt, aber bitte nicht zu schnell und nicht gegeneinander. Familiensinn und Gemeinschaftlichkeit gelten hier noch. Doch die Verzweiflung eines Bauern, dem EU und Gesundheitsbehörden mit immer strengeren Auflagen und weniger Beihilfen zusetzen, führt Laurent an seine Grenzen. Jérémie Renier spielt diesen Mann in der Krise mit einer atemberaubenden Intensität.

Beauvois hatte bereits in seinem Film "Von Göttern und Menschen" 2010 vom Martyrium französischer Trappistenmönche in Algerien erzählt, die vor die Wahl gestellt waren, ob sie gehen oder im Bürgerkrieg ausharren sollten. Ihr Glaube half ihnen bei der Beantwortung der Frage so wenig, wie dem Gendarmen Laurent nun das Gesetz Antwort geben kann. Beauvois inszeniert ungeheuer stilvoll, erhaben gar, zu den Klangen von Pergolesis "Stabat Mater" eine Passionsgeschichte: Ein Mann nimmt Schuld auf sich. Aber er stellt existenzialistische Fragen nach Freiheit und Verantwortung des einzelnen: Kann ich ohne den anderen frei, gut und ich selbst sein?

Hong Sangsoos hat mit "Introduction" nicht unbedingt einen schwächeren Film vorgelegt. Wie immer lässt der koreanische Regisseur auch hier bei viel Schnaps und Zigaretten die Unmöglichkeit der Liebe verhandeln, in hintersinnigen Dialogen und erstklassig kadriert, aber vielleicht nicht ganz so stimmig und poetisch wie in seinen vorigen Filmen. Zu den schwächeren Beiträgen gehören Joana Hadjithomas sentimentale Erinnerung an ihre Jugend im Libanon "Memory Box" oder Denes Nagys dunkel-waberndes Kriegsdrama "Natural Light". Wäre in einem anderen Jahr schon Bärenjagdfieber ausgebrochen?