Außer Atem: Das Berlinale Blog

Verrate mich nicht: "Le Grand Chariot" von Philippe Garrel (Wettbewerb)

Von Thekla Dannenberg
21.02.2023.

Philippe Garrels
Film "Le Grand Chariot" beginnt mit einem faszinierenden Moment: Am Anfang, wenn sich der Film noch dokumentarisch gibt, verfolgt die Kamera hinter der Bühne eine Equipe von Puppenspielern, die gerade ein Stück aufführen. Wir sehen die Kulissen, die hochkonzentrierten Gesichter der Spieler, ihre emporgereckten Arme mit den Puppen über der Hand, die wirbelnde Choreografie: Der Prinz lässt eine Nachricht überbringen, rufen sie. Ist es Prinz Herzmund oder Prinz Honigbart? Auf jeden Fall eine Nachricht für Prinzessin Transuse. Helle Aufregung im Puppenland! Man hält inne und stutzt: Schauspieler spielen in einer angetäuschten Doku Puppenspieler, die in Bruchstücken ein Stück spielen - und man folgt ihnen gebannt wie ein Vorschulkind. Der Trick funktioniert auch bei "Hanswursts Beerdigung".

Der 1948 geborene Philippe Garrel ist ein alter Meister. Er macht seit über fünfzig Jahre Filme, die so aussehen, als wäre immer noch 1968 und die Nouvelle Vague wäre noch nicht abgeebbt. "Le Grand Chariot" ist eine filmische Reflexion über Kunst und Familie, Treue und Verrat. Der Film ist Hommage, Erzählung und Performation zugleich, Garrels Kinder sind und spielen die Equipe. Söhne werden Väter, das Schauspiel ist das Leben.

Philippe Garrel erzählt von seinem Vater Maurice, einem Puppenspieler, seine Kinder spielen, um eine Generation versetzt, die Kinder des Patriarchen: Louis, Martha und Léna. Es ist natürlich eine Pariser Bilderbuch-Familie, die wir hier präsentiert bekommen: alle gutaussehend, charmant, kreativ, lässig und links. Die Großmutter stellt richtig, dass sie von ihren bourgeoisen Eltern mitnichten enterbt wurde, weil sie einen Puppelspieler geheiratet hatte, sondern weil sie Kommunistin wurde. Die Enkelin erzählt, wie sie mit ihrer Femen-Truppe die Amtseinführung von Emmanuel Macrons Regierung gesprengt hat. "Nein, Oma, Oben Ohne ist kein Exhibitionismus, das ist Politik mit dem Körper."

Der charismatische Vater stirbt, die Großmutter wird älter und vergesslicher. Die Kinder beginnen, mit dem Erbe zu hadern, sie wollen ihr eigenes Leben zu leben. Die Reihen im Theater lichten sich schon. Der Sohn hört auf, weil er ans Theater möchte, Pieter möchte wieder malen, Léna mag die ollen Kamellen nicht mehr spielen, auf Martha lastet das Gefühl, dem Vater verpflichtet zu sein. Er erscheint ihr im Traum, halb Hamlets Vater, halb Komtur aus Don Giovanni. Er mahnt mit betörend sanfter Stimme: "Wenn Du mich liebst, verrate mich nicht." Aber was wäre Treue gegenüber einem Vater, der seiner eigenen Schaffenskraft gefolgt war?

Vieles an dem Film ist akademische Konzeptkunst, am Anfang weiß man nicht, ob das Posieren und die gestellt wirkenden Szenen Absicht sind. Sollen sie die wahren Begebenheiten markieren? Aber je mehr sich der Film davon löst, je mehr Freiheit er dem Schauspiel, also den Kindern lässt, um so unprätentiöser wird er. Die Erinnerung an den Vater ist auch die Stabübergabe an die Kinder.

"Le Grand Chariot". Regie: Philippe Garrel. Mit Louis Garrel, Damien Mongin, Esther Garrel, Lena Garrel, Francine Bergé. Frankreich / Schweiz 2022. 95 Minuten (Alle Termine)