Außer Atem: Das Berlinale Blog

So wie es ist: "20.000 Bienenarten" von Estibaliz Urresola Solaguren (Wettbewerb)

Von Thierry Chervel
22.02.2023.

Auch bukolischen Idyllen (aber sind nicht alle Idyllen bukolisch?) sollte man nicht über den Weg trauen. Was dort behauptet wird, stimmt regelmäßig auch nicht ganz. Und irgendwann bricht immer ein Gewitter aus. Aber dieser Film ist nun mal eine Landpartie. Er folgt damit einer Tradition aus glücklicheren, romanischen Gefilden. Solche Muster kennt man aus Frankreich, Italien oder Spanien - in diesem Fall spielt die Geschichte im Baskenland, im spanischen und französischen. Selbst nicht so reiche Familien wie die um die dreifache Mutter und zurecht verhinderte Künstlerin Ane haben dort eine Großmutter auf dem Land und zudem eine Großtante, die Imkerin ist und bei der sie ihre Ferien verbringen können. Sie erweist sich in diesem Film als noch wichtiger als die Großmutter.

Hier also hat der achtjährige Heitar, alias Coco, sein Coming out als Lucia. Und wer nun zurückschreckt: Die Transdebatte mag die grellste in ganz Wokistan sein, aber dieser Film umschifft die Tücken des Themas fast ganz, weil er sich als ein ruhiges Porträt völlig auf das faszinierende Kind einlässt. Und Sofia Otero (ja, ein Mädchen) spielt seine existenzielle Krise mit einer genialen Beiläufigkeit und stillen Insistenz, die nur Kindern gegeben ist und mit der Kinder jeden Film retten können.

Regisseurin Estibaliz Urresola Solaguren macht es auch gut mit ihrer Handkamera und ihrer Nähe zu den Akteuren. Nicht viel muss hier ausgesprochen werden. Eigentlich nur eines, irgendwann, der neue Name des Kinds, den es sich selber gibt. Manchmal erzählt Solaguren gar ein bisschen allzu elliptisch, und manches muss man raten.


Die symbolischen Behauptungen des Films muss man angesichts der ruhigen Präsenz seiner Protagonisten vielleicht gar nicht in aller Gründlichkeit abtasten. Verschiedene metaphysische Referenzsysteme spielen eine Rolle. Es gibt eine Menge christliche Motive. Ein älterer Herr, der überhaupt nur einmal auftritt, versucht zu erklären, was "Glauben" ist, mit einem Rosenkranz wird ebenfalls hantiert. Vor allem aber geht es um ein Fest zu Ehren Johannes des Täufers - also Namensgebers. Und zu Beginn denkt man, der Film wolle sich auf einen katholischen Filmpreis bewerben. Aber die Tante und Imkerin neutralisiert die christlichen Anwandlungen. Sie ist die Geburtshelferin für das Kind, also eine, die mit der Natur verbunden ist, die das Kind mit den Bienen reden lässt, eine Heilerin und Schamanin, die Wünschelruten betätigt, um die Bienenkörbe neu zu positionieren. Sie spricht als erste aus, dass Coco ein Mädchen ist.

Nebenbei wird fast schemenhaft die gescheiterte Künstlerinnenbiografie der Mutter erzählt, die wie ihr toter Vater Bildhauerin sein will, aber an seinen Modellen scheitert. Für seine "Sylphiden", Abbilder vollkommen schöner Mädchen, so wird sehr kryptisch angedeutet, hat er reale Mädchen missbraucht. Einem Matriarchat, das die Differenzen zulässt, wird also ein Patriarchat gegenüberstellt, das seine Bilder mit Gewalt erzwingt.

Zum Glück reitet der Flm nicht allzu sehr auf solchem Stuss herum. Seine Qualität ist, sich dem Kind zu überlassen, das in dem Film zu genau weiß, dass es so ist, wie es ist, also anders, als es scheint, und das von ganz allein, ohne irgendeine Erklärung.

Thierry Chervel

"20.000 especies de abejas" (20.000 Bienenarten). Regie: Estibaliz Urresola Solaguren. Mit Sofía Otero (Lucía), Patricia López Arnaiz (Ane). Spanien 2022. 129 Minuten. (Termine).