Außer Atem: Das Berlinale Blog

Die Gewalt zum System gemacht. "El Juicio" von Ulises de la Orden (Forum)

Von Thekla Dannenberg
22.02.2023.

Keine andere Militärdiktatur in Lateinamerika wütete so brutal und so grausam wie die argentinische Junta. Schon nach offiziellen Berichten fielen ihrer Herrschaft zwischen 1976 und 1983 mindestens 10.000 Menschen zum Opfer, Menschenrechtsorganisationen schätzen die Zahl der Toten eher auf 30.000. Erstaunlich ist, wie wenig diese Verbrechen im kollektiven Gedächtnis der Welt präsent sind, verglichen etwa mit Pinochets Herrschaft in Chile. Liegt es daran, dass Pinochets Putsch die sozialistische Utopie Salvador Allendes zerstörte? Oder an der Scham der Europäer, die 1978 die Fußball-WM in Argentinien feierten, ohne sich um das grausame Regime und seine Opfer zu scheren?

Doch die Verbrechen der Generäle sind gut dokumentiert, nicht zuletzt auch, weil ihnen 1985 nach dem Sturz der Militärdiktatur der Prozess gemacht wurde. Das staatliche Fernsehen hat dieses immense Gerichtsverfahren gegen Jorge Rafael Videla, Emilio Massera und weitere führende Offiziere in Gänze dokumentiert. Die Aufzeichnungen umfassen 530 Stunden. Die originalen Videokassetten hat Argentinien, wie Luciano Monteagudo in einem Hintergrundartikel fürs Forum schreibt, zur sicheren Verwahrung dem norwegischen Parlament anvertraut. Eine bewegende Geste politischer Wertschätzung.

Der Filmemacher Ulises de la Orden hat Kopien dieses Videomaterials verwenden dürfen und zu dem dreistündigen Film "El Juicio" kompiliert, wobei er sich ausschließlich auf die Aufnahmen beschränkt, welche die unbekannten Kameraleute des Argentina Televisora Color (ATC) anfertigten. "El Juicio" ist ein bewegendes Dokument, nie zuvor war in Lateinamerika Militärdiktatoren der Prozess gemacht worden. In Buenos Aires mussten sie sich ihren Richtern stellen - und einem Staatsanwalt, der ihnen Mord, Folter, Menschenraub, Kindesentführung, Sklaverei, Erpressung und Diebstahl in mehr als 700 Fällen vorwarf.

Gleich zu Beginn des Filmes machen die Generäle und Admirale deutlich, wie wenig sie von dem Gericht halten. Einige in Uniform, andere in Zivil, aber alle akkurat frisiert und streng gescheitelt, erheben sie sich und verkünden voller Hochmut, dass weder ihre Person noch ihre Ehre von diesem Gericht berührt werden könnten. Sie hätten das argentinische Volk vor Terrorismus und Kommunismus bewahrt, einen gerechten Krieg gegen Subversion und Gottlosigkeit geführt und gewonnen, wofür sie sich nicht zu verteidigen gedächten. Ein Konteradmiral räumt ein, dass ihr Feldzug gegen die Guerillaorganisationen - die linksperonistischen Monteneros und die marxistische ERP - ein untypischer Krieg gewesen sei: "Aber es war ein Krieg!" Rauchend verschanzen sie sich in ihrer Arroganz, geben sie unbeteiligt oder höhnisch. Gleichwohl versuchen ihre Anwälte immer wieder trickreich oder aggressiv, das Verfahren aufzuhalten. Die Richter schmettern alle Manöver ab.

Der Auftritt der Generäle ist der Prolog des Films. Es folgen die Zeugenaussagen in achtzehn Kapitel, in denen der Film Schlaglichter auf die grausame Herrschaft der Militärjunta wirft. Wir sehen nicht die Gesichter der Zeuginnen und Zeugen, die Kameras haben sie stets von hinten gefilmt, wahrscheinlich um ihre Identität zu schützen. Ihre Aussagen sind erschütternd, gerade weil sie ungeheuer ruhig und gefasst vorgetragen werden, während das Publikum keinen Laut von sich gibt. Eltern berichten, wie ihre Söhne und Töchter von der Straße weg verhaftet und nie wieder gesehen wurden. Woher er denn wissen wolle, dass seine Tochter keine Terroristin gewesen sei, wird ein Vater vom listigen Verteidiger gefragt. Ganz einfach, antwortet er, sie wurde in keinem Prozess als solche verurteilt.

Ein Kaplan gesteht, dass die Militärpfarrer die Verhafteten vor die Wahl stellten, ins Ausland oder für fünf Jahre ins Gefängnis zu gehen. Wer sich für Ausland entschied, wurde von den Dienern Gottes zu einem Flugzeug gebracht und von diesem aus ins Meer geworfen.

Schwer auszuhalten sind die Berichte aus den Internierungslagern und Folterzentren, in die das Militär Oppositionelle, Gewerkschafter und Menschenrechtler warf. Die Gefangenen wurden mit kochendem Wasser abgespritzt, an den Armen aufgehängt, bis ihnen die Muskeln rissen, und den Ratten in den Verliesen überlassen. Männer wurden gedemütigt, Frauen vergewaltigt. Eine Schwangere berichtet, wie sie auf dem Boden eines Gefängnistransporters ihr Kind entbinden musste, weil es die Soldaten nicht scherte, dass ihre Wehen eingesetzt hatten. Es war blanker Sadismus, der sich in dieser Soldateska austobte.

Dem Film geht es erkennbar darum, so viel unterschiedliche Aspekte der grausamen Herrschaft wie möglich festzuhalten. Er konzentriert sich auf die Aussagen der Zeugen. Juristisches Prozedere, die Beweisaufnahme oder der Nachweis der Schuld spielen in den Film keine Rolle. Dadurch bekommt das Verfahren mitunter einen etwas rhetorischen Charakter und erinnert eher an eine Wahrheitskommission als an einen Gerichtsprozess. Der beeindruckend zornige Staatsanwalt Julio Strassera, der trotz  Schnauzbarts und Hornbrille nicht mit dem angeklagten General Videla zu verwechseln ist, erklärt in seinem Schlussplädoyer, dass Guerilleros und Terroristen tatsächlich entführt, gefoltert und getötet hätten. Aber was tat der Staat? Er entführte, folterte und tötete in unendlich größerem Ausmaß. Auch für die Exzesse ihrer Soldaten seien die Generäle verantwortlich, weil sie die Gewalt zum System gemacht hätten. Dennoch hat das Gericht eindeutig auch die individuelle Schuld festgemacht, wie das Urteil erkennen lässt: Von den neun Angeklagten, wurden fünf verurteilt, Videla und Massera zu lebenslanger Haft.

"El Juicio - Der Prozess". Regie: Ulises de la Orden. Dokumentarische Form. Argentinien / Italien / Frankreich / Norwegen 2023. 177 Minuten. (Alle Termine)