Außer Atem: Das Berlinale Blog

Staub im Spätlicht: "Irgendwann werden wir uns alles erzählen" von Emily Atef (Wettbewerb)

Von Thierry Chervel
17.02.2023.
Marlene Burow und Felix Kramer in  "Irgendwann werden wir uns alles erzählen".


Wer wie ich in einem früheren Leben als Filmkritiker schon in den achtziger Jahren nach Cannes reiste und die Berlinale besuchte, erinnert sich an eine Art Film, die man vielleicht am besten als "Festivalfilm" bezeichnet. Filme sind das, die man sich eben nur in der Zwangskonstellation eines Festivals ansehen würde - langsam, getragen, gediegen, schon ein bisschen mit Autorenprätention, aber doch auch auf einer literarischen Vorlage beruhend, so wie "Irgendwann werden wir uns alles erzählen" auch. Wie viel hundert dieser Filme mag ich seitdem vergessen haben?

Im Grunde zeugten sie schon damals von dem gerade einsetzenden sehr langsamen Niedergang des Kinos. Vom Fernsehen war es längst angefressen. In den Achtzigern kamen VHS, die Videotheken und die Privatsender hinzu. Aber sie existierten damals doch noch in einem lebendigeren Biotop des Kinos, sie waren Filme mit ihren Unvollkommenheiten, Schlieren und Knackgeräuschen, nicht an die Wand geworfene Super-HD und 8k-Dateien in einer Branche, die nicht mehr nur krisenhaft wirkt, sondern wie die Simulation ihrer selbst.

"Irgendwann..." spielt in einem Sommer direkt nach der Wende auf zwei isolierten Bauernhöfen, dem künstlich ostdeutschen Akzent der Schauspieler nach vielleicht irgendwo im Thüringischen. Die Vögel zwitschern, der Weizen wogt. Sonnenuntergänge ziehen sich in die Länge und geben ein malerisches Bild ab. Und einmal gewittert es natürlich. Dankbar ist man dem Film für eine altmodische Qualität: Das 19-jährige Mädchen Maria (Marlene Burow), dessen Stimme erst ganz am Schluss auch aus dem Off kommt - sie erzählt also ihre eigene Geschichte -, verliebt sich in den Bauern vom Bauernhof nebenan, der doppelt so alt ist wie sie. Frau liebt Mann. Jüngere Frau liebt älteren Mann, und das ist nicht mal das Problem! Ja, so etwas ist selten geworden.

Aber ein langsamer autorenfilmartiger Film über eine junge Frau zwischen zwei Männern, das ist andererseits auch nicht grad neu. Das Publikum der Pressevorführung hielt zwar brav durch, aber nach den zwei Stunden, neun Minuten ging doch ein erleichtertes Seufzen durch die Menge.

Der Film erzählt die Geschichte einer Amour fou. Aus sehr großer Ferne erinnert die Geschichte an "L'été meurtrier" von Jean Becker, einen Film mit Isabelle Adjani und Alain Souchon, einen Toten gibt es auch am Schluss. Allerdings dürfte das der Autorin Daniela Krien, auf deren Debütroman er beruht, kaum bewusst gewesen sein. Es sind nur gewisse Zutaten - das Flirren des Staubs im Spätlicht, der Gegensatz von glattem Mädchenkörper und dreitagebärtiger Stoppeligkeit -, die diese Assoziationen auslösen. Und die unmögliche Konstellation. Denn Maria ist natürlich für den Jungen Johannes (Cedric Eich) bestimmt, der sie ja auch liebt und ein sympathischer und viel versprechender junger Kerl ist.

Die Amour fou geht in diesem Fall von dem Mädchen aus. Sie will Henner (Felix Kramer), der in seinen weiten kragenlosen Hemden ein bisschen aussieht, als würde er gerade für Margaret Howell posieren. Der Sex ist rau.

Und das nervt. Das war immer schon das Problem dieser Filme. Sie basieren auf einem Roman, aber Sex in einem Roman, in dem die Leser ihre eigenen Fantasien mit der Erzählung des Autors verknüpfen können, ist etwas ganz anderes als die äußerliche Inszenierung von Sex, die so gut wie immer peinlich ist. Nichts durchbricht den guten Willen eines Filmzuschauers mehr als eine Sexszene, der man plötzlich all die Zwänge der Inszenierung anmerkt. Die meisten Regisseure der Filmgeschichte von Hitchcock bis Godard waren klug genug, niemals eine Sexszene zu inszenieren. Wem (außer vielleicht David Lynch) ist je eine gelungen? Was in der Beschreibung pulsierende Lust ist, wird im Film zu einem Schnaufen und Hecheln und eruptiven Gebaren, gegen das man im Kino nicht mal eine Fast-Forward-Taste zu Hilfe nehmen kann.

Es kommt, wie es in dem Genre kommen muss. Es geht übel aus. Das Mädchen resümiert aus dem Off noch ein bisschen, dann ist endlich Schluss. Das ganze spielt wie gesagt vor dem Hintergrund der Wende, die aber Staffage bleibt. Der Film ist so oder so wie aus der Zeit gefallen.

Thierry Chervel

"Irgendwann werden wir uns alles erzählen". Regie: Emily Atef. Mit Marlene Burow, Felix Kramer, Cedric Eich, Silke Bodenbender, Florian Panzner u.a., Deutschland 2023, 129 Minuten. Alle Termine.