Außer Atem: Das Berlinale Blog

Mit Muskeln und Herz: "Disco Boy" von Giacomo Abbruzzese (Wettbewerb)

Von Thekla Dannenberg
19.02.2023.

Mit seinem vibrierenden Nachtstück "Disco Boy" versetzt der italienische Regisseur Giacomo Abbruzzese dem vor sich hindümpelnden Wettbewerb einen gehörigen Adrenalistoß. In dem hochaufgeladenen Film ist alles Energie, Lebenshunger und dunkle Poesie.

Der Film erzählt von Aleksei, der sich mit seinem Freund Mikhail in einem Tourbus voller Fußballfans aus Belarus nach Polen schmuggelt, um von dort nach Frankreich zu kommen. "La France", rufen sie ausgelassen, während sie nachts über die Oder paddeln: Bordeaux! Pain au Chocolat! Camembert! Ein Patrouillenboot des deutschen Grenzschutzes rammt ihre Luftmatratze, Mikhail ertrinkt, Aleksei schlägt sich allein durch. In Frankreich angekommen, verschreibt er sich der Fremdenlegion, was ihm sofort eine Aufenthaltsberechtigung verschafft, nach fünf Jahren wird er die französische Staatsbürgerschaft bekommen. "Es ist mir egal, wer ihr wart", brüllt der Ausbilder, "hier bekommt jeder eine neue Chance, wer mit Muskeln und Herz Franzose werden will". Natürlich will Aleksei. Der Drill ist brutal, noch finsterer aber als die Offiziere sind die Sprüche der Soldaten, die Duschen dampfen vor Schweiß und Testosteron. Eingemeißelt in die Kasernenwand besingt ein Zitat den Soldaten, der nicht durch das Blut, das in ihm fließt, ein Sohn Frankreichs geworden ist, sondern durch das, das er vergießt.

Franz Rogowski spielt Aleksei mit der gewohnten Intensität, verschlossen, kraftvoll und zart zugleich. Wer durch die harte Schule des Lebens gegangen ist, erkennt an der Tätowierung unter der Halskuhle, das er in einem Waisenhaus aufgewachsen ist. Alle andere sehen ihm die Sehnsucht nach einem besseren Leben an.

Auf der anderen Seite der Welt kämpfen Rebellen im Nigerdelta gegen die Ölkonzerne. Apokalyptische Bilder zeigen die Zerstörungen der Ölförderung, die verwüsteten Landstriche, das verseuchte Wasser. Aus den imposanten Palmenwälder ragen Öltürme hervor, aus denen überschüssiges Gas abgefackelt wird. Auch die Soldaten der Regierung ziehen marodierend durch die Gegend, brennen Dörfer nieder, metzeln Frauen und Kindern hin.


Jojo führt eine Gruppe des MEND, des Movements for the Emancipation of the Nigerdelta, spezialisiert auf die Entführung von westlichen Managern. Auch bei den Rebellen ist alles Kampf und Männlichkeit. Sie lassen gern ihre Muskelgebirge spielen, posieren vor Kameras und schwingen ihre Kalaschnikows. Als die Fremdenlegion einen Trupp zur Befreiung der Geiseln schickt, treffen die Alexsei und Jojo aufeinander, in einem Moment der Magie übertragen sich Liebe und Leidenschaft.

Abbruzzese schafft in seinem ersten Film großartige Szenen von Hoffnung und Sehnsucht. In einem Pariser Nachtklub fährt der Film zu den kräftigen Elektrobeats von Vitalic richtig hoch. Die Legionäre berauschen sich nach ihrer Rückkehr aus Nigeria mit Wodka-Shots, Aleksei bestellt sich noch zwei Gläser Bordeaux. Er stößt mit sich selbst an und trinkt beide in einem Zug aus. Traum und Wirklichkeit verschwimmen, der Ausbilder der Fremdenlegion klingt immer irrer: "Im Chaos sind wir das Licht, im Zweifel die Vernunft". Beim Marschieren sollen sie Edith Piaf singen. Da fängt Aleksei erst recht an zu bereuen. Und Jojos Schwester tanzt auf einmal im Pariser Club.

"Disco Boy" ist ein sehr maskuliner Film. Abbruzzese führt in eine Männerwelt, in der der Kampf um ein besserer Leben voller Härte geführt wird und der er trotz ihrer Rohheit nie die Solidarität versagt. Ein bisschen überladen ist das, auf seine Art sogar romantisch. Frauen tauchen nur am Rande auf, vor allem als schöne exotische Fantasie. Einer amerikanischen Vice-Reporterin gönnt er einen irrwitzigen Auftritt: Investigativ und todschick wie sie es von der Elite-Uni gewohnt ist, jagt sie mit ihrem Motorboot durch das Nigerdelta und stellt sich absolut unerschrocken den bis an die Zähne bewaffneten Rebellen: "Hi guys, we're here for the interview", säuselt sie in diesem unbekümmerten Ton, der erkennen lässt, dass sie noch nie eine Niederlage hat einstecken müssen. Hier treffen Welten aufeinander, ohne sich zu begegnen. Ob es bei den Kämpfern wirklich anders ist, wie Abbruzzese nahelegt, ist eine andere Frage.

"Disco Boy". Regie: Giacomo Abbruzzese. Mit mit Franz Rogowski, Morr Ndiaye, Laëtitia Ky, Leon Lučev, Matteo Olivetti. Frankreich / Italien / Belgien / Polen 2023. 91 Minuten. (Alle Termine)