Außer Atem: Das Berlinale Blog

Geld macht nicht glücklich in Asli Özges 'Lebenslang' (Panorama)

Von Lukas Foerster
10.02.2013.
Was es heißt, kein Geld, oder zumindest eindeutig zu wenig Geld zu haben, im Alltag, im Familienleben, in Beziehungen, für Versuche, Beziehungen aufzubauen, potentielle Partner kennenzulernen: Das war eines der zentralen Themen von "Men on the Bridge", einer bedrückenden, realistischen Milieustudie, dem außergewöhnlichen ersten Spielfilm der in Berlin lebenden Türkin Asl? Özge. Ein Leben auf der Brücke, im Freien und doch bedrängt von allen Seiten. Das Paar, das im Zentrum des Nachfolgefilms "Hayatboyu" steht, lebt dagegen im durchgentrifizierten Istanbuler Stadtteil Ni?anta??. Wer sich da eine Wohnung leisten kann, hat keine Geldsorgen, zumindest keine drängenden. Was noch lange nicht heißt, dass er (beziehungsweise in diesem Fall vor allem: sie) ein entspanntes Leben führen kann.

Ela, eine Frau mittleren Alters, ist Künstlerin, eine, die zwar durchaus erfolgreich ausstellt, aber deren Installationen schwer verkäuflich sind. Wenn sie zum Beispiel zu einem Steinbruch fährt und da einen besonders voluminösen Brocken als Zentrum ihres neuen Werks auswählt, kann man sich schon denken: Den wird sich eher niemand ins Wohnzimmer stellen wollen. Fürs Geldverdienen - und das heißt: nicht nur zur Finanzierung des eigenen Lebensstils, sondern auch für das Studium der Tochter - ist zuerst Can, ihr Mann, ein Stararchitekt, zuständig. Der aber hat eine Andere, eine Affäre, die zwar komplett offline bleibt, von der der Kinozuschauer jedoch schon sehr bald und Ela nur wenig später Wind bekommt.

Das ist schon die gesamte Anlage des Films. Die geldbasierten Ökonomien und Zwänge aus "Men on the Bridge" sind durch anders geartete ersetzt worden, durch erotische Ökonomien (zur Eröffnung gleich eine Sexszene in intimer Großaufnahme, Ela und Can betreten den Bildraum als erregte, verletzliche Körper; später der Blick der nackten Ela in den Spiegel, der Vergleich mit der abwesenden Anderen wird mitgedacht) und soziale Zwänge: Klar könnte man sich scheiden lassen, aber was denken dann die eloquenten Freunde, mit denen man eh nur mühsam mithalten kann? Und was denkt die Tochter? (Die denkt, merkt man dann allerdings bald, gar nicht viel darüber nach, die führt ihr eigenes Leben und trägt eine eigensinnige Präsenz in den Film ein, lässt sich nicht instrumentalisieren; überhaupt ist das eine der großen Stärken des Films: wie neben dem zentralen Konflikt andere Lebenslinien unbeeindruckt und nach ihren eigenen Regeln weiterlaufen dürfen.)

Das hört sich nun alles ein wenig berechnend, versuchsaufbauartig an. Das schöne am Film ist aber, dass aus all dem erst einmal gar nichts folgt, dass "Hayatboyu" einfach nur eine Frau dabei begleitet, wie sie in eine tiefe Lebenskrise rutscht, zu der sie sich selbst nicht so recht zu verhalten weiß. Keine Aussprache, kein großer Showdown, kein Zusammenbruch, keine Anklage. Statt dessen nichts weiter als nervöse Seitenblicke, einige garstige Bemerkungen, eine kurze psychosomatische Krankheitsepisode, der Umzug vom Ehebett aufs Sofa. Eine sehr grundsätzliche Hilflosigkeit: Jedem Schritt in die eine folgen eineinhalb Schritte in die andere Richtung, am Ende steht der deprimierendste Kompromiss, den man sich nur vorstellen kann.

Die großartige Kameraarbeit Emre Erkmens hat eine Tendenz zur Abstraktion, nicht nur in den Szenen, die direkt in Galerien spielen und die Gesichter vor fluoreszierenden Videoleinwänden isolieren. Auch in der Wohnung, in der Ela und Can nebeneinander her leben, in der sich weite Teile des Films entfalten und die, wie so vieles in Istanbul, eher in die Höhe als in die Breite gebaut ist: Eine weiße, gewundene Freitreppe verbindet die Stockwerke untereinander, von oben gefilmt verwandelt sie den Wohnraum in ein klaustrophobisches Labyrinth, fast schon in ein Geisterhaus. Doch die Kühle derartiger Einstellungen bleibt vermittelt mit einer Außenwelt - und sei es nur gewaltsam, durch die Erdbeben, die Istanbul und die gesamte Türkei regelmäßig erschüttern und die den Film motivisch durchziehen, als ein ständig mitlaufender Kommentar.

Lukas Foerster

"Hayatboyu" (Lebenslang). Regie: Asli Özge. Mit Defne Halman, Hakan Cimenser u.a., Türkei / Deutschland / Niederlande 2013, 102 Minuten (alle Vorführtermine)