Außer Atem: Das Berlinale Blog

Dieser Halbtote und seine Begleiterin: Peter Krügers Filmessay 'N - The Madness of Reason' (Forum)

Von Anja Seeliger
10.02.2014. Peter Krüger meditiert in "N - The Madness of Reason" mit den wunderbaren Stimmen  Michael Lonsdales und Wendyam Sawadogos über die Geschichte Afrikas.
Einer der schönsten Filme, die ich auf dieser Berlinale gesehen habe, führt nach Afrika, auf den Spuren des Franzosen Raymond Borremans (1906–1988). Borremans war 1929, im Alter von 23 Jahren vor einer unglücklichen Liebe nach Afrika geflohen. Über fünfzig Jahre lang zog er über den Kontinent, erst als Einmannband für Kolonialisten, später als Einmannfilmvorführer mit einer tragbaren Leinwand. Als die Einführung des Fernsehens 1974 das fliegende Kino überflüssig machte, begann er eine Enzyklopädie Afrikas zu verfassen, die alles enthalten sollte, was er auf seinen Reisen gelernt hatte. Vier Bände sind erschienen, nach dem Buchstaben N starb er.



Das heißt, er konnte nicht sterben. Er steckt fest in einem Zwischenreich, nicht mehr lebend aber auch noch nicht tot. Eine afrikanische Frau, die ihn hören und sehen kann, versucht ihm zu helfen, indem sie mit ihm Stationen oder Bilder seines Lebens zurückruft, damit er sich endlich befreien kann. Man fliegt, schleicht, fährt, tanzt mit ihnen durch Afrika wie ein Geist. Nie sind sie zu sehen, man hört nur ihre Stimmen, die des wunderbaren Michael Lonsdale und Wendyam Sawadogos. Der belgische Regisseur Peter Krüger hat den Film wie einen traumhaften Dokumentarfilm gedreht. Die Kamera zeigt uns, was dieser Halbtote und seine Begleiterin sehen.

Nachdenklich, leise, unterhalten sie sich über Musik, Geister, Film, den Kolonialismus. Dazwischen hört man Afrikaner: Weggefährten Borremans, Heiler, Lehrer, Schüler, Soldaten, die ihre Sicht der Dinge darlegen. Es geht um das, was man nicht sehen kann. Und um die Schuld, die die Europäer auf sich luden, als sie ihre Klassifizierungssysteme nach Afrika brachten und damit das Sicht- und Zählbare in den Rang einer Theologie erhoben. Das Unglück, das so über Afrika gebracht wurde, ist überall sichtbar. Im Grunde ist schon das Alphabet ein Mittel zur Ausgrenzung, sagt ein afrikanischer Intellektueller. Wenn du als Hutu beschrieben wirst, dann heißt das immer auch: Kein Tutu. Welche Folgen das hat, weiß man. Am Ende sind wir an der Elfenbeinküste, wo gerade ein furchtbares Gemetzel stattfindet. Es ist der Bürgerkrieg 2002, Menschen, die sich für die Wahlen nach Nationalität klassifizieren lassen mussten, wurden ermordet, Zuwanderern ihr Land weggenommen. Borremans, die Frau und die Zuschauer begleiten einen Fotografen, der die Leichen fotografiert und zählt. Das ist wichtig. Aber ist es auch ein Weg zur Heilung? Der Film stellt das in Frage, ohne es abzulehnen. Es gibt überhaupt eine große Freiheit des Denkens in diesem Filmessay, der nie eifert, sich empört oder ideologisch wird. Und der mit wunderbarer afrikanischer Musik unterlegt ist.

Hier eine Sängerin, die auch im Film zu sehen ist: Fatoumata Diawara



Anja Seeliger

N - The Madness of Reason. Regie: Peter Krüger. Stimmen: Michael Lonsdale, Wendyam Sawadogo. Belgien / Deutschland / Niederlande 2014, 102 Minuten(Forum, alle Vorführtermine)