Außer Atem: Das Berlinale Blog

Malessere: "Favolacce" der Brüder D'Innocenzo

Von Thierry Chervel
26.02.2020.


Der Film beginnt als unbehagliche Idylle und endet in herzzerreißender Traurigkeit. Er spielt in einer weit entfernten Vorstadt von Rom, in einer Reihenhaussiedlung, spießig, aber nicht arm. Die Männer tragen unsympathische Topffrisuren wie die Fußballer, die sie niemals die Chance gehabt hätten zu werden. Es ist nicht so, dass sich die Eltern um die Kinder - die eigentlich im Zentrum des Films stehen - nicht kümmern. Aber die Kälte zwischen den Personen ist in diesem Hitzesommer so unüberwindlich wie ein Alpenmassiv.

Die Italiener haben ihr Talent zu einem scharfkantigen Neorealismus nicht verloren. Einige Serien haben es in den letzten Jahren gezeigt: Unglamouröser als in "Gomorra" oder "Suburra" wurde Kriminalität selten gezeigt, aber selbst Serien wie "Baby" oder "Il miracolo" waren von schneidendem Pessimismus.

Es handelt sich auch eher um einer Art metaphysischen Neorealismus - denn die Erzählung mit der am Ende einbrechenden Katastrophe folgt nicht üblichen Mustern. Das regieführende Brüderpaar lässt sich eine ganze Menge Zeit mit Porträts seiner Protagonisten, zeigt sie aus unangenehmer Nähe in ihrer Körperlichkeit - natürlich siegen da die Kindergesichter über die schon sichtbaren Verletzungen der Erwachsenen. Es sind Sommerferien, die Kinder begießen sich mit Wasser, aber eine wirkliche Ausgelassenheit kommt nie zustande. In der Zeitlupe wird das Jauchzen zum stummen Schrei. Die Kinder verstehen die Erwachsenen nicht. Sie betrachten die Pornos auf den Handys der Väter. Sie kapieren wohl, dass etwas kaputt ist, können es aber nicht benennen. Einmal fragt ein Kind seinen Vater, ob er und die Mutter glücklich seien - da rastet der Vater aus.

Unter den Kindern selbst kommt es in ganz seltenen Momenten zu Sanftheit und Zärtlichkeit. Nicht dass das die Regel ist. Ein wirklich gelöstes Lächeln lächelt ein Mädchen erst vor der Katastrophe.

"Favolacce", der Originaltitel, ist abgeleitet von Favola, Fabel. Die Nachsilbe -accia (Mehrzahl -acce) zeigt an, dass das Wort pejorativ gemeint ist. Der Film redet sozusagen schlecht von sich selbst. Tatsächlich gibt es in ihm einen Off-Erzähler. Es handelt sich eigentlich um eines der Kinder, das die Geschichte erzählt - aber es spricht mit der Stimme eines erwachsenen Mannes. Es sind diese seltsamen Verfremdungen und Irritationen, die das Unbehagen erzeugen. Am Ende entschuldigt sich der Off-Erzähler für die schlechte Geschichte, die er erzählt hat. Zum Sarkasmus trägt die Musik bei, mit einem Stück, in dem die Melodietöne von Hundejaulen markiert werden.

Fabeln haben eine Moral. Haben Favolacce also eine schlechte Moral? In einem Statement sprechen die Filmemacher vom "Kapitalismus, der nicht unsere Kultur ist". Aber dankenswerter Weise werden in dem Film keine externen Schuldigen gesucht. Weder ist die soziale Misere schuld, noch ist es die Heuchelei der Bourgeoisie. Das Malessere ist einfach da, unerklärlich, aber sehr präsent und erinnert insofern ein wenig an Michelangelos Antonionis einstige und so viel vornehmere Incommunicabilità. Der Sarkasmus ist ein Mittel, von der Ausweglosigkeit Distanz zu gewinnen. "Schlecht" (also gut, glaube ich) ist die Fabel, weil sie keine Moral hat, jedenfalls nicht im Sinne einer abtrenn- und mitnehmbaren Botschaft. Eher ist sie wohl eine Diagnose, eine Momentaufnahme.

Zum Abspann läuft ein wunderhübsches altes Lied, in dem sich immer wieder die Zeile wiederholt "bisogna morire". Aber dieses "wir müssen sterben" ist nicht ein Ausdruck von Angst, sondern eine Aufforderung: Lasst uns sterben.



"Favolacce". Regie: Fabio & Damiano D'Innocenzo. Mit Elio Germano, Barbara Chichiarelli, Lino Musella, Gabriel Montesi, Max Malatesta mit Elio Germano, Barbara Chichiarelli, Lino Musella, Gabriel Montesi, Max Malatesta. Italien/Schweiz 2020, 98 Minuten. (Alle Vorführtermine)