Außer Atem: Das Berlinale Blog

No peace, no pussies: Spike Lees 'Chi-Raq' (Wettbewerb)

Von Thekla Dannenberg
17.02.2016. Nach dem Tod eines kleinen Mädchens bei einem Shoot-out haben die Frauen auf der Southside Chicagos die Nase voll und organisieren einen Sexstreik gegen die Gewalt.


Anders als griechische Tragödien haben sich antike Komödien nie besonders großer Beliebtheit erfreut: Sie sind für den heutigen Publikumsgeschmack wahrscheinlich zu obszön, zu politisch, zu komisch. Bei der "Lysistrata" des Aristophanes ist das besonders schade, denn sie ist ein ungeheuer witziges und geistreiches Stück über Liebe, Lust und Krieg, geschrieben 411 vor Christus. Um ein Ende des Peloponnesischen Krieges zu erzwingen, mobilisiert die Athenerin Lysistrata ihre Schwestern aus Sparta, Theben und Milet zu einem Sexstreik, sie besetzen die Akropolis und nehmen die Kriegskasse unter Verschluss. Bei Aristophanes ist Liebe nicht das Gegenteil des Krieges. Der Mann war Heide, kein Christ, und schon gar kein Hippie. Hier ist die Erotik eine Kraft, die man für den Krieg oder eben für den Frieden einsetzen kann. Auch Amor ist bewaffnet.

Spike Lee nimmt die antike Komödie, ebenso wie das Vorbild der realen Friedensnobelpreisträgerin Leymah Gbowee, die zum Sexstreik gegen den Bürgerkrieg in Liberia aufgerufen hatte, als geniale Vorlage für sein satirisches HipHop-Musical über den Waffenkult in den Ganglands von Chicago. Der Titel "Chi-Raq" setzt sich aus Chicago und dem englischen Iraq zusammen. Und er bezieht sich auf die skandalöse Zahl, nach der in den vergangenen fünfzehn Jahren in Chicago mehr Amerikaner durch Schusswaffen in den USA umgekommen sind als Soldaten in Afghanistan und Irak zusammen.

Noch vor dem ersten Bild sieht man auf der schwarzen Leinwand eine Landkarte der USA, zusammengesetzt aus Pistolen, Revolvern und Gewehren. Dazu wummert ein Rap über die Stadt, den Hass und die Blödheit. Es ist der Rapper Chi-Raq, der da sein Territorium besingt. Kaum ist er im Bild, geht die Ballerei auch schon los: Trojaner haben sich in sein Konzert geschlichen. Chi-Raq geriert sich als der übelste Motherfucker der ganzen South Side, seinen "Regierungsnamen" Demetrius Dupree hat er schon lange abgelegt, und er hat die schärfste Lady von allen: Lysistrata, gespielt von Teyonah Parri, die umwerfend schön und sexy ist und einen sensationellen Afro trägt. Als ein zehnjähriges Mädchen von einem Querschläger getötet wird, setzt auch wieder ihr Verstand ein. Im Verein mit der klugen Miss Helen (Angela Bassett) zieht sie die Bitches der Trojaner auf ihre Seite und organisieren die konzertierte Verweigerung: Kein Frieden, kein Sex. No peace, no pussies.

Mit der Militanz der Liebe legen sie bald die gesamte Stadt lahm, das Waffenarsenal wird besetzt, das Militär marschiert auf und für dessen "Operation Feucht und Geil" muss eine Hundertschaft Schnulzensänger antreten, um die weiblichen Abwehrlinien aufzuweichen. Einen gewaltigen Verbündeten haben die Frauen in Father Mike Corridan, den John Cusack mit einer Leidenschaft spielt, die echter Überzeugung entspringt. Die Predigt aus dem Trauergottesdienst für das getötete Mädchen wird bestimmt bald in den Schulunterricht aufgenommen, im grellen Licht seines Herrn verteufelt er die soziale Ungerechtigkeit Amerikas, die wirtschaftliche Misere, die Geschäfte der Waffenlobby: Aus drittklassigen Schulen führt für Schwarze der Weg direkt in Gefängnisse mit erstklassiger Sicherheit. Dabei nimmt weniger Father Corridan seine schwarze Gemeinde ins Gebet, als John Cusack sein weißes Publikum. Aber auch das schwarze Publikum bekommt sein Fett weg, meist von Angela Bassett: Nicht nur mit harten Witzen wie "Wenn Du etwas vor einem Schwarzen geheimhalten willst, dann versteck es in einem Buch." Sondern auch mit ihren Attacken auf die Gangkultur, die Gewaltverherrlichung und die Abwesenheit jeglichen Gewissens.

Der Film strotzt vor Sex-Appeal, Rhythmus und toller Körper. Lust auf Sex haben eigentlich alle, und wenn sich ihn die Frauen für eine Zeit verkneifen, dann nur, um die Energien in diesem aufgeladenen Spannungsfeld aus Liebeskampf und Kriegslust anders fließen zu lassen. Oder um für das ultimative Sex-Match gewappnet zu sein: Wer zuerst kommt hat verloren.



Das Grandiose an dem Film ist, dass er umso komischer, schräger und obszöner wird, je ernster ihm die Sache ist. In einer wunderbaren Szene verneigt sich Lee vor Stanley Kubricks "Doktor Seltsam", dann lässt er General Kingkong auf einer riesigen Kanone namens "Whistling Dick" reiten, natürlich in Boxershort mit Sternenbanner. Konsequent hält die gerappte Reimform durch, Samuel Jackson streift anstelle des antiken Chores durchs Bild, und auch der einäugige Cyclops hat seinen Auftritt.

"Chi-Raq" ist bei allen Derbheiten keine böse Satire, sondern eine Komödie, deswegen muss es auch ein versöhnliches Ende gebe. Schade nur, dass dann die Bässe verstummen und Geigen erklingen. Überhaupt hat der Film manchmal etwas sehr Lehrstückhaftes, aber das war schon bei "Do the Right Thing" so - der Kritiker Thomas Groh, dem jeder Snobismus fernliegt, nennt das emphatisch "echtes Volkskino". Und das stimmt schon. Spike Lee will ein Publikum erreichen. Überhaupt merkt man seinen Filmen immer an, ob er für das Thema brennt. Zuletzt war das so bei seiner Doku "When the levees broke" über das von Katrina und ignoranter Politik verwüstete New Orleans so. Mit seinen besten Filmen und in seinen besten Momenten bringt Spike Lee immer noch alle gegen sich auf.

Dass Spike Lee mit seinem Oscar-Boykott eigentlich eine der brennendsten Debatte um die mangelnde Diversität in der Filmindustrie angestoßen hat (#OscarsSoWhite), schlug sich auf der lustlosen Pressekonferenz nur ansatzweise nieder. Lee macht aber deutlich, dass nicht die Awards das eigentliche Problem seien, sondern die Torwächter, die für schwarze oder nicht-weiße Filmemacher in Hollywood noch immer so viel unmöglich machten. Und Lee und Cusack hielten die interessante Arbeitsteilung durch, dass Lee die Missstände in der schwarzen Community anprangerte, die völlige Desensibilisierung junger Männer, für die Töten dasselbe wie Punktemachen im Computerspiel ist, während Cusack das große Geld angriff, das seine Gewinne einfährt und eine zerstörte Infrastruktur zurücklässt. Und ihr Votum im kommenden Novemer? Bernie Sanders natürlich, auf keinen Fall jemanden aus dem Establishment, sondern Bernie aus Brooklyn.

Chi-Raq. Regie: Spike Lee. Mit Nick Cannon, Teyonah Parris, Wesley Snipes, Angela Bassett, John Cusack. USA 2016, 127 Minuten. (Vorführtermine)