Außer Atem: Das Berlinale Blog

Schweigen bei den Krokodilen: Thomas Heises "Heimat ist ein Raum aus Zeit" (Forum)

Von Thekla Dannenberg
09.02.2019.


Thomas Heise war schon immer der verstörendste Dokumentarfilmer unter den Chronisten der untergegangenen DDR: In "Stau" erkundete er das Elend junger Neonazis in Halle, in "Imbiss Spezial" den Horror vacui der Wende, in "Material" spürte er dem verlorenen utopische Moment von 1989 nach. Für seinen neuen Film "Heimat ist ein Zeit aus Raum" kompiliert er über drei Generationen die Hinterlassenschaften seiner Familie - Fotos und Filmaufzeichnungen, Briefe und Tagebücher - zu einer Collage, die nicht unbedingt eine Familienbiografie ergibt, sondern eher eine Reflexion über Familie und Biografie. Heise erkundet Liebe und Verbundenheit, Selbstbehauptung und politische Ideale. Es ist ein monumentaler, ein sensationeller Film.

In Schlaglichtern folgt Heise seiner Intellektuellenfamilie durch das 20. Jahrhundert: Schon Heises Großvaters Wilhelm ist überzeugter Kommunist, in seinen ersten Aufsätzen von 1912 ätzt er: "Auf dem Boden der Dummheit wächst der Aberglauben." Nach dem Ersten Weltkrieg heiratet der junge Studienassessor die Wiener Bildhauerin Edith Hirschhorn, Jüdin und glühende Sozialistin wie er. Edith findet ihren Mann "fein- und trübsinnig" wie Strindberg und geht mit ihm nach Berlin. Ihre Eltern bleiben auch nach der Annexion Österreichs an Nazi-Deutschland in Wien, ihre Briefe sind erhalten. Heise liest aus ihnen vor: "Die Polen-Sache nimmt leider Gestalt an", schreibt Ediths Vater lakonisch, als im Herbst 1941 die Deportationen der Juden nach Lodz und nach Riga beginnen. Dazu sehen wir die Listen der Namen, die für den Tod vorbestimmt sind, vor den Hirschhorns kommen die Familien Glifkin, Goldberger, Grünberg. Mit der Deportation von Ediths Familie im Juli 1942 wird die Leinwand schwarz. In einem ebenso schockierenden wie polemischen und sarkastischen Moment trällert Marika Rökk: "Sieh nicht hin, schau nur geradeaus."



Heises Vater Wolfgang schreibt am Ende des Zweiten Krieges seinen Eltern Briefe aus einem Gestapo-Gefängnis in Zerbst: "Ich lernte das Schöne in dem, was allgemeingültig ist, kennen." Oder: "Es ist das Kommende im Sein so ungewiss." In der Diktion kündigt sich der Philosoph an, der er später werden sollte. Thomas' Mutter Rosemarie war von einem anderen Naturell. Schon als junges Mädchen schreibt sie erschütternd, ungeheuer präzise und poetisch zugleich von der Zerstörung Dresdens. Immer wieder fährt sie mit dem Fahrrad in die zerbombte Stadt. Sie sucht auch das Abenteuer. Nach einem Techtelmechtel mit einem Offizier der jugoslawischen Handelsdelegation, der sie im Vollrausch zu erschießen versucht, beginnt sie 1948 eine Affäre mit Udo aus Mainz, der unschlagbar reaktionär vom Leder zieht: "Demokratie ist Quatsch, Diktatur gemein." Und weiter: Familie sei klein und gehässig, Gleichberechtigung unsinnig, Hemingway verdrießlich und Politik eine einzige Pflaumerei.

Am spannendsten sind jedoch die Passagen, die sich mit Wolfgang Heise und seinen Kämpfen gegen die Partei beschäftigen. Als er, der große marxistische Philosoph der DDR, sich 1976 mit Robert Havemann gegen die Ausbürgerung Wolfgang Biermanns stellte, schäumten die SED-Funktionäre über so viel "kleinbürgerliche Vorbehalte" und "intellektualistische Rechthaberei" und nehmen ihm seinen Rektorenposten an der Humboldt Universität. Später diskutiert er in seinem Wohnzimmer mit Heiner Müller die Tragödie des modernen Sozialismus mit einer Ernsthaftigkeit und Dringlichkeit, die einem den Atem rauben. Die Unterhaltung ist in Heiner Müllers Kapitalismus-Texten "Für alle reicht es nicht" abgedruckt, Heise hat sie gefilmt. Sein Vater zitiert Brecht: "Der Geschlagene entrinnt nicht / der Weisheit."

Oder Rosemarie Heises Auseinandersetzungen mit Christa Wolf. Anfang 1991, schreibt Wolf in einem Brief nach den scharfen Attacken auf ihren Text "Was bleibt" wie auch nach dem Beginn des ersten Golfkriegs: "Die Kampagne hat mir was angetan... Ich kann mir nicht mehr vorstellen, in diese Visage hinein zu publizieren... Drei Monate, nachdem wir zum neuen Lager gehören, ziehen sie uns in einen neuen Krieg." Kann es denn aber sein, fragt Rosemarie, dass Christa sich nicht an die Verpflichtungserklärung erinnere, die sie unterschrieben habe? Das sei doch "unvergessbar", dieser Schritt gehöre zum eigenen Identitätsgefühl. Sie weiß, was allein die Einberufung zur NVA bei ihren Söhnen Thomas und Andreas ausgelöst hat, die erschüttert erst mal in den Tierpark gingen: "Eine Stunde schweigen bei den Krokodilen."



In dem Film gibt es eine Vielzahl von bedeutenden und aufregenden Momenten, die sich alle jedoch über das geschriebene Wort vermitteln. Unterlegt sind sie mit Fotografien aus dem Familienalbum oder Aufnahmen, die bei aller schwarzweißen Reduziertheit sofort erkennbar sind. Berlin und Brandenburg, das sind eben der U-Bahnhof Schönhauser Allee, Fichtenwälder, Schwäne im See, kaputte Straßen, verlassene Fabriken, Pommesbuden. Trotzdem ist der Titel dieser Familienbiografie provokant: "Heimat ist ein Raum aus Zeit." Klingt das nicht allzu deutschtümelnd? Zu unpolitisch? Wo seine Eltern und Großeltern so genaue Vorstellungen über den Menschen, die Kunst und die Gesellschaft hatten. Oder versucht er sich eher an einer Umdeutung des Begriffs? Heimat nicht als Idylle, sondern als Bereitschaft, ein Land zu gestalten. Thomas Heise wäre nicht der sperrige Filmemacher, der er ist, wenn er sich nicht auch mit diesem Werk zwischen die Fronten begeben hätte.

Heimat ist ein Zeit aus Raum. Regie: Thomas Heise. Dokumentarische Form, Deutschland 2019, 218 Minuten (Vorführtermine).