Außer Atem: Das Berlinale Blog

Falsche Bärte und eine Blondine: Jerzy Skolimowskis Meisterwerk 'Le depart'

Von Lukas Foerster
19.02.2010.
Mit einem Standbild beginnt der Film: ein dunkles, statueskes Etwas in einem Zimmer. Sobald sich das Bild in Bewegung setzt, wird das Etwas zu Jean-Pierre Leaud. Der Pullover, den er sich gerade über den Kopf zieht, hat ihn im Standbild enthumanisiert. Jetzt ist Leaud Mensch geworden, schick angezogen und bereit, loszulegen. Er zögert nicht, wie überhaupt der Film nie auch nur einen Moment zögert.



1967 hatte "Le depart" auf der Berlinale den goldenen Bären gewonnen. Die diesjährige Retrospektive "Play It again..." gräbt den Film wieder aus und alleine diese Ausgrabung ist dazu angetan, einen mit der auf den ersten Blick wenig originellen Konzeption zu versöhnen. "Le depart" ist Jerzy Skolimowskis vierter Langfilm und der erste, den er außerhalb seiner Heimat Polen realisierte, als Beginn einer nicht immer glücklichen Exilkarriere. Skolimowski blieb, anders als seinem Landsmann Roman Polanski, der große Durchbruch sowohl in den USA als auch in Europa versagt und bereits in den frühen Achtziger Jahren kehrte er wieder nach Polen zurück, wo er auch heute noch (nach einer langen Pause zwischendrin, allerdings) Filme dreht. Vielleicht liegt es daran, dass Skolimowskis Filme im Gegensatz zu den hochkontrollierten Werken Polanskis immer im Fluss bleiben, gelegentlich noch ein wenig unfertig (allerdings nur:) wirken, sich nie festnageln lassen, als seien sie ständig auf der Flucht.

Nicht umsonst wird in den Filmen andauernd gerannt. Wenn Jean-Pierre Leaud losrennt, kurz nachdem er sich im Pullover manifestiert hat, dann rennt er genau so, wie Skolimowski selber als Hauptdarsteller durch seine ersten beiden Filme ("Rysopis" und "Walkower", im Gegensatz zu "Le depart" beide englisch untertitelt auf DVD erhältlich) gerannt ist. Leaud ist Skolimowskis alter ego und er rennt in einer Plansequenz eine Häuserzeile entlang, die Kamera ganz nah bei ihm. Er rennt nicht, um an ein Ziel zu gelangen, sondern um einem Leben zu entkommen, das alles auf von außen definierte Ziele, Zwecke und Normen reduziert. Das Rennen ist bei Skolimowski immer antiautoritär, in den polnischen Produktionen genauso wie in dieser belgischen. Skolimowskis Protagonisten fügen sich keinen Setzungen, weder denen der Einheitsparteien, noch denen des Kapitals - eines Kapitals, das in "Le depart" unter anderem mit angeklebten Bärten genarrt wird.



Die Geschichte, in die Leaud hineinrennt, ist eine denkbar einfache. Er gibt Marc, einen Friseur, der davon träumt, Autorennfahrer zu werden, an einer Rally teilnehmen will, aber kein Automobil zur Verfügung hat. Im Laufe des Films ergaunert er sich auf die eine oder andere Art verschiedene Fahrzeuge, hauptsächlich Porsches, mit denen er durch Brüssel rast, als gebe es kein Morgen.

Es gibt dann noch - auch das eine Parallele zu Skolimowskis polnischem Frühwerk - eine in jeder außer der optischen Hinsicht unterdefinierte Blondine. Die steht ihm bei seinen Eskapaden bei, ohne dass man so recht wüsste, weshalb. Marc beachtet sie zunächst kaum, nur um ihr dann aus heiterem Himmel, im Kofferraum eines Autos, spielerisch und dreist ein erstes "je t'aime" entgegen zu schleudern. Danach ohrfeigen sich die beiden.

Immer wieder der Schnitt in die Bewegung, den Konventionen zufolge immer einen Moment zu früh, ein bezaubernd überhastetes nach-vorne-Stolpern. Leaud rennt durch eine Menschenmenge und zersticht Luftballons von Passanten. Deren Reaktion interessiert den Film nicht, der schneidet im Moment des Stichs und ist dann immer schon ein paar Meter weiter, bei der nächsten Bewegung, bei der nächsten Aktion. Die Musik von Krzysztof Komeda, der im selben Jahr auch Polanskis "Dance of the Vampires" vertonte, tut ihr übriges dazu, weil sie sich nicht verstecken und dem Plot unterordnen möchte, sondern weil sie sich in den Vordergrund drängt, diesen im besten Sinne manischen Film wieder und wieder antreibt.

Die schönste Szene des Films involviert einen Spiegel, beginnt wie eine Slapstickkomödie aus den Zwanzigern und entwickelt sich zu einem modernistischen Vexierspiel sondergleichen. Leaud und seine Blondine verdoppeln, verdrei- und vervierfachen sich, die Kamera schwenkt immer wieder unentschieden zwischen Original und Spiegelbild hin und her. Eine andere Szene nimmt die beste Sequenz aus Michelangelo Antonionis Hippie-Saga "Zabriskie Point" vorweg: der Film gerät angesichts einer Plakatreklame in Verwirrung, bringt Plakatfrau, Plakatauto, echte Frau und echtes Auto durcheinander. Alles vier passt in eine Einstellung und am Ende der Szene kann man nicht mehr sagen, warum zwei Bildelemente falsch sein sollen und zwei richtig. Der menschliche Körper droht zu desintegrieren, verliert seine privilegierte Stellung gegenüber seinen eigenen Spiegelungen und mechanischen Repräsentationen. Anders als Antonioni bleibt Skolimowski bei all dem locker, konstatierend, sein Film ergibt sich nicht dem Fatalismus, versucht aber auch nicht, denselben in großen Gesten zu bannen.



"Zabriskie Point" ist nicht der einzige Film, der gegen Skolimowskis Meisterwerk plötzlich sehr alt aussieht. Nicht weniger als ein Schlüsselwerk des modernen Kinos ist da plötzlich wieder aufgetaucht. Ein belgischer Film eines polnischen Regisseurs, der mehr Nouvelle Vague ist als noch fast alles von Godard, Truffaut und Co. Wer wissen möchte, wie sich die "Swinging Sixties", falls es sie denn jemals gegeben haben sollte, angefühlt haben, der lege sowohl Antonionis "Blow-up" als auch Richard Lesters Beatles-Filme beiseite. Und wer wissen will, woher Monte Hellman das Ende seines Meisterwerks "Two-Lane Blacktop" geklaut hat, der muss nur darauf warten, was am Ende des Films - und am Ende einer langen Nacht - mit Jean-Pierre Leaud und seiner Blondine passiert.

Jerzy Skolimowski: "Le depart". Mit Jean-Pierre Leaud, Catherine Duport, Jacqueline Bir und Paul Roland.
Belgien 1966/67, 89 Minuten. (Retrospektive, Vorführtermine)