Außer Atem: Das Berlinale Blog

Passport!

Von Anja Seeliger
15.02.2010. Rein publikumsmäßig gesehen ist die Berlinale auch in diesem Jahr ein voller Erfolg. Saal 8 im Cubix-Kino am Alexanderplatz ist fast ausverkauft, nur in den ersten zwei Reihen bleiben ein paar Plätze frei. Gezeigt wird ein russischer Film, und die russische Community ist gut sichtbar vertreten: viele pelzgefütterte Ledermäntel, in der Luft hängt mehr als nur ein Hauch Chanel. Anna Fenchenkos Film "Missing Man" ist ein sehr ruhiger Film über einen russischen Webdesigner - man sieht ihn in einer Szene kurz vor zwei großen Apple-Bildschirmen sitzen - der plötzlich aus seinem Leben gestoßen wird. Das Mietshaus, in dem er wohnt, wird abgerissen, seine Schwester verschwindet spurlos und seine Sachen ebenfalls. Er soll in eine andere Stadt ziehen und sich dort in der Behörde melden.


Rein publikumsmäßig gesehen ist die Berlinale auch in diesem Jahr ein voller Erfolg. Saal 8 im Cubix-Kino am Alexanderplatz ist fast ausverkauft, nur in den ersten zwei Reihen bleiben ein paar Plätze frei. Gezeigt wird ein russischer Film, und die russische Community ist gut sichtbar vertreten: viele pelzgefütterte Ledermäntel, in der Luft hängt mehr als nur ein Hauch Chanel. Anna Fenchenkos Film "Missing Man" ist ein sehr ruhiger Film über einen russischen Webdesigner - man sieht ihn in einer Szene kurz vor zwei großen Apple-Bildschirmen sitzen - der plötzlich aus seinem Leben gestoßen wird. Das Mietshaus, in dem er wohnt, wird abgerissen, seine Schwester verschwindet spurlos und seine Sachen ebenfalls. Er soll in eine andere Stadt ziehen und sich dort in der Behörde melden.

Kurze Zeit später ist der Mann, dessen Namen man erst fast am Ende des Films erfährt, auf der Flucht. Nicht wegen eines Verbrechens, sondern weil er in der falschen Stadt gefahren ist und deshalb verhaftet werden soll. Zusammen mit dem jungen Daniel, den er in der Behörde kennengelernt hat, kommt er in einem illegalen Wohnheim unter. Als das aufgespürt wird, fährt er er mit dem Heimbetreiber, dessen Freundin Wanja, Daniel und einer jungen Frau im Auto - irgendwohin. Sie haben kein Ziel. Sie fahren einfach, immer weiter, landen ums Haar in einem See, als Wanja am Steuer einschläft, fahren wieder weiter. Mit dem Film ergeht es einem ähnlich: Er läuft immer weiter, aber man weiß nicht, wohin. Der Webdesigner spricht nicht über sich, er sagt überhaupt kaum etwas.

Die vier anderen versuchen, mit der Situation zurechtzukommen. Organisieren Schlafmöglichkeiten, Essen, reden über ihre Träume. Der Webdesigner bleibt stumm und schaut mit blauen verständnislosen Augen über den Kartoffelsack, den er während der Fahrt auf dem Schoß hält. Man versteht, dass er in sein altes Leben zurück will und nicht begreift, wie es ihm entgleiten konnte. Irgendwann steigt er aus. Er will nicht mehr weiter mitfahren. Der Film lässt uns mit ihm sitzen. Irgendwo im Wald. Ich wäre lieber mit den anderen weitergefahren.

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Debra Graniks Film "Winter's Bone" führt in eine Welt, die vermutlich sogar den meisten Amerikanern unbekannt ist: in die Ozarks, ein Gebirge im Süden Missouris. Hier leben die Dollys. Mitten im Wald. Der Vater ist auf Kaution frei - ihm stehen zehn Jahre fürs Drogen-Kochen ins Haus - aber wir bekommen ihn nie zu sehen. Die Mutter hat so viel Mist erlebt, dass sie sich die meiste Zeit in ein nur ihr erreichbares Land zurückzieht. Zwei kleine Kinder, Sonny und Alice. Und die Älteste, Ree, 17 Jahre alt. Sie hält die Familie zusammen. Sie kocht das Essen, bringt die Kleinen zur Schule, zeigt ihnen, wie man ein Eichhörnchen ausnimmt, und wie man schießt. Sie ist es auch, die loszieht, ihren Vater zu suchen, der nicht zur Gerichtsverhandlung erschienen ist, obwohl er Haus und Grundstück für die Kaution verpfändet hat. Auch die Leiche würde helfen.

Es ist keine schöne Landschaft, die Granik hier zeigt. Sie sieht aus, als wäre ihr die Farbe ausgesogen worden. Sie ist so feindlich, wie die Bewohner dieser Gegend, die Rees Fragen nicht hören wollen. Sie hat Angst vor ihnen, sagt sie. Dabei sind die meisten mit ihr verwandt. Aber sie geht trotzdem hin. Stur wie ein Maulesel, selbst als sie von einer Frau und deren Töchtern zusammengeschlagen wird. Fast alle sind im Drogengeschäft. Aber sie ist eine Dolly, "bread and butter".

Die Schauspieler, allen voran Ree-Darstellerin Jennifer Lawrence, sind fabelhaft. Ein Teil der Schauspieler sind Laien aus der Gegend, aber man erkennt den Unterschied nicht. Das liegt auch daran, dass sie alle richtige Gesichter haben. Es ist fast ein Schock, wenn man im Film eine nicht-operierte fünfzigjährige Frau sieht, die ein Leben gehabt hat, das tiefe Spuren in ihr Gesicht gezeichnet hat, und eine Härte, wie man sie selbst im wirklichen Leben selten sieht.

Als ich aus dem Kino komme, frage ich mich, was Ree in Russland getan hätte. Oder der Russe in den Ozarks. Angesichts einer Motorsäge in der Nacht, die unaussprechliche Dinge tut. Oder einer Hand, die aus einem undurchsichtigen Fenster langt, während eine Stimme sagt: Passport.

*

Noch ein kurzer Nachtrag zu Zhang Yimous Wettbewerbsfilm "A Woman, A Gun And A Noodle Shop" (Kritik hier): In der Pressekonferenz erklärte Zhang Yimou, dass er den Film in 87 Tagen fürs chinesische Neujahrsfest (um den 14. Februar) gedreht hat. Selbst die Farben der Kostüme sind die typischen Farben des Neujahrsfests, erzählt er. Er sagt auch, dass er diesen Film vor 20 Jahren nicht hätte drehen können. "Aber vor 20 Jahren hätte ich auch gar keine Lust gehabt, so einen Film zu machen. Diese lockere Haltung hatte ich damals nicht. Jetzt ist viel mehr möglich." Sein neues Projekt ist ein Film über die Kulturrevolution, die er miterlebt hat.

Anna Fenchenko: "Propavshyi bez vesty - Missing Man". Mit Andrey Filippack, Rasim Djafarov, Polina Kamanina, Ludmila Geroeva, Yuris Lautsinsh u.a.. Russische Föderation 2010, 96 Minuten (Panorama, Vorführtermine)

Debra Granik: "Winter's Bone". Mit Jennifer Lawrence, John Hawkes, Dale Dickey, Garret Dillahunt, Tate Taylor u.a.. USA 2010, 100 Minuten (Forum, Vorführtermine)