Außer Atem: Das Berlinale Blog

Will nicht in die Tiefe: Michel Ocelots 'Les contes de la nuit'

Von Thomas Groh
13.02.2011.


Wie sinnvoll ist es, die Ästhetik des Scherenschnitt- und Silhouettenfilms, der gerade aus seiner Flächigkeit Reiz bezieht, mit 3D-Technologie zu kreuzen? Mit Blick auf den 3D-Boom des vergangenen Jahres aus Sicht von Finanziers vermutlich sehr, davon abgesehen wirft eine solche Unternehmung zumindest Fragen auf. In "Les Contes de la Nuit" von Michel Ozelot sitzt man jedenfalls einigermaßen verwirrt vor der Leinwand: In einer technisch etwas aufgefrischten Variante der Schnerenschnittanimation a la Lotte Reiniger (ein paar Beispiele) erzählt der Episodenfilm kleinere Geschichten aus Märchenbüchern aus aller Welt, gerahmt wird das von einer kleinen Gruppe Animationsfilmer, die nachts in einem heruntergekommenen Kino eben jene Geschichten mit viel Enthusiasmus auf die Leinwand bringen.

Nur ganz buchstäblich in die Tiefe will das nicht gehen: Lediglich die letzte Fabel des Reigens wartet mit einigen kleineren, dafür recht hübschen Ideen auf, wie sich die neue Technologie auch im Silhouettenfilm ästhetisch gewinnbringend nutzen ließe - nach langer Wartezeit faltet sich hier für einmal das Geschehen kurz in Richtung Zuschauer, Richtung Tiefenraum auf. Zuvor herrscht stramm die Ästhetik der planen Fläche mit sachter Tiefenschachtelung mit dem kuriosen Effekt, dass nicht selten bloß das Verhältnis zwischen Untertitelung und Bild überhaupt einen räumlichen Eindruck ergibt.



Filme wie "Kampf der Titanen" oder "Alice im Wunderland", Fake-3D-Filme also, die erst nach den Dreharbeiten künstlich umgerechnet wurden, stehen gerade wegen der aus diesem Verfahren resultierenden Schwächen ihrer Cut-Out- und Schaukastenästhetik enorm im der Kritik. Dass diese nun bei "Les Contes de la Nuit" plötzlich eine Tugend sein soll, nimmt man Kosslick, der im Programmheft von "3D-Experimenten, allerdings solcher künstlerischer Natur" schwafelt, schon deshalb nicht ab. Im übrigen bewegt sich der Film auf recht betuliche, gekünstelt enthusiastische Weise durch den internationalen Sagen- und Märchenschatz ohne je recht Charme oder Esprit zu entwickeln. Gewiss schon recht solide und für Kinder mutmaßlich eine kurze Weile lang brauchbar, nur, lieber Himmel, das soll wettbewerbstauglich sein?

Förmlich dreidimensional steht's einem vor dem geistigen Auge, wie Kosslick händeringend nach "irgendwas mit 3D" sucht, damit man nicht ganz ohne da steht, und wenn's dann noch ein Animationsfilm ist, umso besser, der ist ohnehin chronisch unterrepräsentiert, zwei Fliegen mit einer Klatsche sozusagen, ach, und europäisch, ja französisch ist er obendrein, na prima, da haben wir ihn doch schon, den "künstlerischen Charakter" - eingepackt und Deckel drauf!

Bitter ist das vor allem, wenn man bedenkt, welche Perlen des Animationsfilms es in den vergangen Jahren aus unerfindlichen Gründen nicht in den Wettbewerb geschafft haben. Die Weltpremiere von Sylvain Chomets später überall gefeiertem Film "The Illusionist" etwa (hier der Trailer), der eine Skriptidee von Jacques Tati ausarbeitet, wurde im letzten Jahr treffsicher in Kosslicks Resterampe, dem mäßig öffentlichkeitswirksamen "Berlinale Special", versenkt. Nina Paleys bemerkenswerter Film "Sita Sings the Blues" (hier legal in voller Länge) fand 2008 immerhin seinen Weg in die Kinder- und Jugendfilmsektion "Generation". Vor solchen Entscheidungen ist die Platzierung eines missratenen Animationsfilms wie "Les Contes de la Nuit" an solch prominenten Position rundherum befremdlich und, so darf man wohl annehmen, reinem Trendopportunismus geschuldet.

"Les contes de la nuit". Regie: Michel Ocelot. Animationsfilm. Frankreich 2011, 84 Minuten (Wettbewerb, Vorführtermine)