Redaktionsblog - Im Ententeich

Hört nicht auf die Heidelberger Bocksgesänge

Von Thierry Chervel
05.07.2009.
Neulich habe ich einen Artikel von Alain Finkielkraut über eines seiner Idole, den großen Schriftsteller Milan Kundera gelesen. Kundera hat in Frankreich einen Band mit neuen Aufsätzen publiziert, "Une rencontre". Dazu gehört ein Aufsatz über einen längst vergessenen Roman von Anatole France, "Les dieux ont soif", der von einem Maler zur Zeit der französischen Revolution handelt. Dieser Maler identifiziert sich mit dem Terror - und wird sich schuldig machen.

Nun weiß man, dass Kundera kürzlich selbst ins Gerede kam, weil er auf einem - unbezweifelbar echten - tschechischen Polizeidokument als Verräter eines jungen Kuriers der Amerikaner aufgeführt ist, der bei einer Freundin übernachtete (mehr hier). Kundera hat sich dazu nicht geäußert. Die Affäre wurde begraben. Aber natürlich wäre es interessant, den Essay über den Roman von France zu lesen, denn vielleicht äußert sich Kundera darin indirekt.

Und natürlich wäre es interessant, den Roman von Anatole France zu lesen, der die überzeitliche Relevanz von Kunderas Thema Verrat und Selbstverrat illustriert. Aber wie?

Zumindest das Kundera-Buch hätte ich auch über Amazon bestellen können, aber ein französisches Buch über Amazon Deutschland - das dauert. Und ein französisches Buch über Amazon Frankreich - das bedeutet hohe Versandkosten. Und es interessiert mich ja nur der Essay. Der Anatole-France-Roman ist seit Jahrzehnten vergriffen, man müsste es als antiquarisches Buch in Frankreich bestellen oder in der Bibliothek suchen.

Hätte ich ein Lesegerät, dann hätte ich versucht, den Essay von Kundera und das Buch von France herunterzuladen. Voraussetzung ist natürlich, dass die entsprechenden Dateien im Netz überhaupt angeboten werden. Noch zögern die Verlage.

Und auch für die Lesegeräte gibt es noch keine rechten Angebote in Deutschland: Sony bietet den Europäern für viel Geld ein veraltetes Modell (mehr dazu bei Golem). Das Amazon-Kindle existiert nur in Amerika. Es reizt mich als Gerät mehr als der Sony-Reader, denn es hat eine Tastatur, die es ermöglicht, Randbemerkungen und Schlagwörter zu notieren. Aber ich lehne es ab, weil es die Leser dazu zwingt, die Bücher ausschließlich per programmierter Handyleitung (das Kindle ist sozusagen ein Telefon) bei Amazon zu laden. Es ist wie beim I-Pod: Der Kult um ein Gerät führt wie nebenbei zu einer Monopolisierung der Inhalte. Alle schimpfen über Google. Aber sind Amazon oder Apple nicht schlimmer?

Der Roman von France wird im übrigen kaum bei Amazon existieren. Ich würde es auch nicht einsehen, auch nur einen Pfennig für ein Buch zu zahlen, auf dem keine Rechte mehr liegen. Das Buch existiert aber als elektronische Datei: bei Wikisource. Die anonymen Idealisten haben es längst eingescannt, perfekt lesbar. Und diese Datei würde ich auf meinen Reader laden wollen.

Hätte ich einen Reader, dann würde ich mich damit auf meine Couch fläzen und - wer weiß - in dem Roman versinken. Die matte Oberfläche des Bildschirms ist nicht so viel anders als Papier. Man gewöhnt sich dran. Wollte man das Buch tatsächlich auch als physisches Objekt aufbewahren, dann könnte man es sicher irgendwo auch drucken und binden lassen. Paradoxerweise kehrte man damit ins selige 19. Jahrhundert zurück, als die Buchhändler die vermögende Kundschaft mit broschierten Büchern versorgten, die diese bei Gefallen zurücksandten, um sie in ihren Farben und mit ihren Wappen binden zu lassen.

Mein Leseverhalten würde sich durch das E-Book also verändern. Auf dem Computerbildschirm hätte ich den Roman nicht gelesen. Ausgedruckt hätte ich ihn mir auch nicht - ein Packen Fahnen, das ist kein angenehmes Lesen. Aber mit einem E-Book hätte ich mich auf diese Reise begeben. Und bei genauerer Überlegung wäre es mir in den letzten Monaten häufig so gegangen.

In den letzten Monaten wurde immer mal wieder der Kapitalismus verabschiedet. Die Krise in allen Ehren, aber ist der Kapitalismus nicht einfach die Welt, in der wir leben? Wie auch immer: Ich hätte zur Finanzkrise gern Georg Simmels "Philosophie des Geldes" gelesen. Gleich, ohne mir das physische Buch zu besorgen. Die Philosophie des Geldes ist eine Philosophie der Befreiung. Nur die Lösung von der traditionellen, feudalen, ländlichen Wirtschaft ermöglicht die politische und künstlerische Moderne, an der mir doch irgendwie liegt. Simmels "Philosophie des Geldes" steht als elektronische Datei im Netz. Ich habe ein oder zwei Kapitel gelesen. Angenehmer wäre es mit E-Book.

Gerne hätte ich mich auch mit Büchern zu anderen Themen zurückgezogen, zum Beispiel mit Marshall McLuhans "Gutenberg-Galaxis" und Elisabeth L. Eisensteins Buch "The Printing Press as an Agent of Change", einer grandiosen Schwarte über den Strukturwandel der Öffentlichkeit vor 500 Jahren, unerlässlich für jeden, der heute die Medienrevolution durch die Digitalisierung verstehen will. Das im Jahr 1979 zuerst publizierte Buch ist nicht vergriffen. Aber teuer: Es kostet in der broschierten amerikanischen Ausgabe 51,99 Euro.

Klar, ich hätt's gern als Buch. Aber vielleicht hätte ich es doch noch lieber als E-Book-Datei, durchsuchbar, mit der Möglichkeit, elektronisch zu kopieren, zu exzerpieren, zu kompilieren. Ich würde für die E-Book-Datei niemals 51,99 Euro ausgeben, aber, sagen wir, bei 15 Euro, würde es mir doch kräftig in den Fingern jucken.

Ich würde übrigens auch für das gebundene Buch nicht 51,99 Euro ausgeben. Ich würde einfach gar nichts dafür ausgeben. Es wäre mir zu teuer, und meine Regale sind mir jetzt schon zu voll. Mit E-Book wären also 15 Euro geflossen. An den Verlag - zumindest bei einem noch lieferbaren Buch. An den Autor. Vielleicht auch an einen Händler. Ohne E-Book wären 0,00 Euro geflossen. Das E-Book ist also eine Chance für die traditionellen Akteure des Buchmarkts. Es wird Geld fließen. Es wird anders fließen als bisher.

Es gibt einen Aspekt, der mir bei den kulturkonservativen Bocksgesängen der Heidelberger Appellierenden bei aller Kritik am Bruch des deutschen Urheberrechts durch den amerikanischen Akteur Google denn doch gewaltig auf die Nerven fällt. Leser werden so etwas wie die Google Buchsuche wollen, brauchen, lieben. Wie auch immer sich die massive Digitalisierung von Büchern in Zukunft gestalten wird: Es gibt ein riesiges Interesse der Allgemeinheit daran.

Für die Leser wird die Google Buchsuche, bei allen rechtlichen Problemen die zu klären sind, einen riesigen Demokratisierungsgewinn bedeuten. Es hat nicht jeder eine Uni-Bibliothek um die Ecke, und es hat nicht jeder, wie die Professoren des Appells, einen Tutor parat, der ihm die Bücher schon kopiert. Die Google Buchsuche und alle entsprechenden Projekte bedeuten, dass Leute die Bücher lesen können, die bis dahin einen wesentlich schwierigeren Zugang dazu hatten. Denkt Roland Reuß, der Autor des "Heidelberger Appells", an Afrika? An Studenten in repressiven Regimes?

Nein, er argumentiert rein egoistisch, ohne den Aspekt des Gemeininteresses auch nur einmal zu erwähnen. Roland Reuß sagte in einer Fernsehdebatte (an der auch der Perlentaucher-Autor Rüdiger Wischenbart teilnahm) neulich, dass Google ihn nicht gefragt habe, bevor es seine Bücher im Netz nachveröffentlichte und dass er ein persönliches Recht habe zu entscheiden, ob ein Buch von ihm veröffentlicht werde.

Hier das Video.

Schön und gut. Er hat recht, er ist von Google nicht gefragt worden - er kann nur seine von Google vorausgesetzte Erlaubnis zurückziehen. Aber eins kann er auf Teufel komm raus sowieso nicht, auch wenn ihm irgendeines seiner früheren Werke peinlich sein sollte: er kann seine Bücher nicht entöffentlichen. Das Problem hat er auch ohne Google. Er kann nicht zur Deutschen Bibliothek gehen und sie auffordern, missliche Jugendschriften aus ihren Depots zu entfernen. Er hat dieses Recht schlicht nicht. Das Buch in der Deutschen Bibliothek gehört ihm nicht. Nicht einmal das Werk, die bloße, vom Papier gelöste Zeichenfolge, "gehört" ihm. Darum ist der Begriff des "geistigen Eigentums" Unsinn. Das Geistige, und das gilt auch für seine dümmeren Manifestationen, die ihre Urheber gern vergessen möchten, gehört letztlich der Allgemeinheit. Das Urheberrecht kommt aus dem Interesse der Allgemeinheit, den Schöpfern geistiger Werke eine Existenz zu ermöglichen. Man fragt sich also, ob Googles pragmatisches Vorgehen wirklich eine so perfide Tat ist.

Erinnern wir uns: Vor ein paar Jahren gab es noch eine ganz andere Debatte um die Google-Buchsuche. Da beschwerte sich der Direktor der Bibliothèque nationale, Jean-Noël Jeanneney, dass durch Google Book Search die Dominanz des Englischen verstärkt würde (mehr dazu damals von Rüdiger Wischenbart im Virtualienmarkt). Und wieder fanden sich eine Menge ernst nickender Politiker. Nun beschwert man sich über das Gegenteil, die Digitalisierung nicht englischsprachiger Bücher.

Klar ist Google ein problematischer Akteur. Aber die Öffentlichkeit hat Google jahrelang geschehen lassen. Man hat sich über die gute Suchmaschine gefreut. Google hatte jahrelang das Image von Apple und längst schon die Macht von Microsoft. Die Öffentlichkeit und die Konkurrenten haben jahrelang nicht begriffen, dass Page und Brin mit ihrem Algorithmus so etwa wie das Ei des Columbus erfunden hatten. Was der Pagerank ist, wissen die meisten Google-Kritiker bis heute nicht. Und Page und Brin machen weiter in ihrer genialen Simplizität.

Sie waren die ersten, die auf die Idee kamen, Bücher so massiv zu digitalisieren. Und sie fanden eine Menge renommiertester amerikanischer und übrigens auch europäischer Bibliotheken, die begeistert mitgemacht haben. Denn ja, es ist eine Demokratisierung. Und ja, es wäre wünschenswert, dass Google hier Konkurrenten hätte. Also bitte: Legt los.

Solange Google aber den Markt aber so gut wie beherrscht, sollte man diesem Laden bei rechtlichen Problemen auf die Finger klopfen, aber ohne ihm die selbstverschuldete Fantasielosigkeit und Trägheit anzukreiden. DAs amerikanische Justizministerium überprüft die Google Buchsuche zur Zeit (mer hier) und wird hoffentlich die notwendigen kartellrechtlichen Bremsen einbauen.

Der "Heidelberger Appell" und das ganze apokalyptische Gemurmel, das von interessierte Lobbyorganen darum getrieben wird, sollte die Politiker, die Verlage und die Autoren ohnehin nicht dazu verleiten, unvernünftig zu handeln:

Die Digitalisierung der Bücher wird sowohl den Autoren als auch den Verlagen Chancen bieten. Autoren (und ihre Erben) werden mit Büchern Geld verdienen, die für sie längst totes Kapital waren. Verlage finden neue Vertriebswege jenseits aller geografischen Grenzen. Und gerade die Verlage mit großer Backlist, die Publikums- und Qualitätsverlage, die jetzt schon wegen der Backlistverkäufe Amazon zu Füßen liegen, werden profitieren. Je mehr Klicks sie auf ihren Seiten haben, desto besser werden sie diese neuen Umsätze lenken können. Es hilft also nur eins: Nachdenken über die Potenziale des Internets.

Das Netz verändert alles. Es ist wirklich ein dramatischer, zugleich zutiefst faszinierender Bruch. Dieser Bruch wird auch Opfer fordern, bei alten und bei neuen Akteuren. Aber man sollte ihm mit Optimismus begegnen. In der Literatur zum Beispiel ermöglicht das Netz plötzlich eine ganz neue Kommunikation zwischen Autoren und Lesern. Viel zu wenige Autoren, die vor lauter Angst den "Heidelberger Appell" unterzeichnet haben, denken darüber nach. Wer von ihnen schreibt ein Blog?

Klügere Autoren werden das Netz suchen, um ihre Leser zu finden. Klügere Verleger werden die Heidelberger Jeremiaden als das nehmen was sie sind, Konvulsionen eines erstarrten Wesens, das aufwacht und sich die Augen reibt. Soll es zurücksinken in den Status quo?

Erst ohne deutsche Bücher in der Google Buchsuche - oder ähnlichen Angeboten - werden Jeanneneys Alpträume wahr werden. Die Reader und die E-Books werden kommen. Und auch deutsche Leser werden sich mehr und mehr englische Bücher herunterladen, wenn sie deutsche nicht finden. Die Heidelberger Appellierenden fürchten um ihre Relevanz. Wenn sie gewinnen, werden sie sie endgültig verlieren.