Dass es linken Antisemitismus gibt, hat sich inzwischen sogar bis in die Linke herumgesprochen. Und doch ist es bis heute bestürzend, wie asymmetrisch die Wahrnehmung der Öffentlichkeit ist. Gerät eine Institution wie die Kirche in Verdacht, dann ist das Rauschen in den Blättern groß: Aber so empörend Benedikts XVI. Abwiegeln ist - wen repräsentieren schon die Piusbrüder? Weit weniger Interesse erregte fast gleichzeitig der postkoloniale Stand-up-Comedian Dieudonné, der vor einem johlenden Massenpublikum den Holocaustleurgner Robert Faurisson mit einem selbstgeschaffenen Pres für political incorrectness auszeichnete.

Kommt der Pesthauch aus der eigenen Ecke, hat es damit immer eine Bewandtnis. Dann muss man erklären, verstehen und es auch mal ganz anders sehen. So heute auch Willi Winkler in der SZ in einer Besprechung von Aribert Reimanns Biografie des Kommunarden: Dieter Kunzelmann war Antisemit, Winkler will es ja gar nicht leugnen. Aber Kunzelmann war eben auch hochsympathischer "Großkasperl", der die Verhältnisse im Sinne Winklers zum Tanzen brachte und den man sich von Aufklärern wie Wolfgang Kraushaar, Gerd Koenen oder Götz Aly nicht kaputtmachen lassen will. So ein Mann der Tat lässt einen Mann des Wortes wie Winkler stets schon knieweich werden. Der "letzte deutsche Bohemien" sei Kunzelmann gewesen, schwärmt Winkler. Als wäre das ein Ehrentitel. Die Boheme ist genau jenes Terrain vague, in dem die rechten und linken Totalitarismen ihre ungeschiedenen Ursprünge haben. Hitler war auch ein Bohemien.

"Es gehört mittlerweise zum guten Ton, den großen Zampano schlechtzureden", klagt Winkler. Kraushaars Kunzelmann-Buch ist - neben Gerd Koenens Buch "Vesper, Ensslin, Baader" und Götz Alys "Unser Kampf" - so epochal, weil es verdrängte Kontinuität unter den Brüchen offenlegt. "Die Bombe im jüdischen Gemeindehaus" schildert, wie Kunzelmann mit seinen "Tupamaros" den "Judenknax" (so Kunzelmann) der 68er heilen wollte. Kein Buch zeigt besser, dass eine bestimmte Fraktion der 68er - eine radikale, aber wie Winklers Beispiel bis heute zeigt, eine einflussreiche - keineswegs über die Taten der Eltern aufklären wollte, sondern dass ihre Pathologie eine der Wiederholung war: Sie wollten die Geschichte der Eltern nachspielen, nur andersrum, mit sich selbst in der Rolle der Opfer und Resistants - und den Amerikanern und Juden in der Rolle der Nazis.

Hinter den Rechtfertigungen eigener Morde und Mordgelüste steckte ein banaler Reflex unverarbeiteter Vergangenheit, eine unschöne Aneignung des Opferstatus, eine zweite Entsorgung der eigentlichen Opfer. Diese Mentalität kristallisierte sich in der Tat, die bis zu Kraushaars Buch so gut wie total verdrängt war, der Bombe im jüdischen Gemeindehaus. Sie sollte am 9. November 1969 hochgehen, während des Gedenkens an die "Reichskristallnacht", wo sich ein schütteres Häufchen Überlebender mit ein paar offiziellen Abgesandten des Staates und der Kirchen versammelte. Gelegt hatte sie Albert Fichter, offenbar auf Weisung Dieter Kunzelmanns, der bis heute leugnet.

"Dass Kunzelmanns Untat antisemitisch war", will Winkler wie gesagt gar nicht bestreiten. Es ist ihm nur nicht so wichtig. Winkler scheint in der Tat einen fehlgeleiteten Akt mit an sich richtiger Intention zu sehen. Er ordnet sie in eine Tradition des Surrealismus und Situationismus ein, deren Legitimität für ihn bis heute nicht in Zweifel steht: "1969 mag es für (Kunzelmann) der ultimative surrealistische Akt gewesen sein, die Berliner Gedenkfeier in ihrem selbstzufriedenen Philosemitismus zu erschüttern. So grauenhaft und wenig verzeihlich das ist, so wenig sollte einem die Zerstörungslust fremd sein, die der Avantgarde seit je zugehört. Die Avantgarde war nie nett zu ihrem Publikum." Diese Sätze müsste man genauer auseinandernehmen: Sind die im Gemeindehaus versammelten Juden das "Publikum" einer Avantgarde, die nun mal nicht nett zu ihm ist? Sollten sie das Attentat im Namen der Kunstfreiheit über sich ergehen lassen? Kann man vom "selbstzufriedenen Philosemitismus" eines schütteren Häufchens Holocaustüberlebender sprechen?

Die Bombe ging nur wegen eines kleinen Konstruktionsfehlers nicht hoch. Sie war so explosiv, dass es unter den 250 Anwesenden zahlreiche Tote gegeben hätte. Dass der Berliner Verfassungschutz bei der Übergabe der Bombe an Fichter eine Rolle spielte, macht diesen verdrängten deutschen Moment nur noch grässlicher. An Kunzelmanns spontanem, tief gefühltem Antisemitismus ändert es nichts.

Winkler versucht dennoch eine Ehrenrettung der abscheulichen Figur - zu konstitutiv scheint sie für seinen eigenen ideologischen Komfort. Die Empörung über Kraushaars nüchterne Rekonstruktion der Fakten klingt in seinem Artikel noch nach: "Wolfgang Kraushaar ist es mit seinem Buch 'Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus' gelungen, Kunzelmann als bete noire, als den allerschlimmsten Finger, zu denunzieren, der die bis dahin so ehrbare Linke zum Antisemitismus der Elterngeneration zurückgeführt haben soll."

Winklers Artikel repräsentiert eine Tendenz in der kulturellen, intellektuellen und auch politischen Linken in Deutschland - eine Tendenz zur Leugnung der Geschichte. Zurecht erinnert Winkler daran, dass die Berliner Alternative Liste Kunzelmann ohne den geringsten Skrupel in den achtziger Jahren zum Abgeordneten im Westberliner Parlament machte. Man sah darin eine weitere lustige Provokation des Establishments. In der Hausbesetzerszene und der taz gab es seinerzeit ganze Fraktionen von Verehrern, die stets an seinen Lippen hingen, wenn er Anekdoten aus der Politclownzeit der Kommune 1 zum besten gab.

Der Muff der tausend Jahre qualmt auch aus Haschichtüten.

Thierry Chervel

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