31.05.2016. Die große Reporterin Gabriele Goettle wird heute siebzig Jahre alt. Pünktlich zu ihrem Geburtstag soll sie fristlos ihre Wohung räumen. Gekündigt hat ihr die Frauenrechtlerin Barbara Duden.
Die große
Gabriele Goettle, Autorin unvergesslicher Reportagen und Porträts, sozusagen eine Art Louis-Sébastien Mercier der Bundesrepublik vor und nach der Wende, wird heute
siebzig Jahre alt.
Sie gehört zu den Autorinnen, deren Rang womöglich zu Lebzeiten gar nicht angemessen wahrgenommen werden kann: Es ist so wie mit manchen Fotografen, deren Werk erst gewürdigt wird, wenn die Welt, die sie dokumentieren, untergegangen ist.
Nichts scheint selbstverständlicher als die Gegenwart, und nichts ist schwieriger, als Zeitgenossse seiner Gegenwart zu sein. Bei Goettle wird Gegenwart fremd - und zugleich mit einer Akribie dokumentiert, die sie auch
in Zukunft lesbar machen wird. Die
taz war und ist ihr Medium - keine andere Zeitung in Deutschland hätte ihr diese Freiheit gegeben. Sie hat Lockrufen aus anderen Medien stets klug widerstanden, was ihrem Einkommen allerdings nicht gut tat. Für die
taz hatte sie 1987 auch die berühmte Schriftsteller-
taz organisiert.
Monat für Monat hat sie zweiseitige Porträts geliefert "über einen Besuch bei einer Hure oder einem Teilchenphysiker, bei einer Kioskfrau, bei einem Obdachlosen, der mit dem Fahrrad Berlin erkundet. Sie lässt sich diese Lebensgeschichten erzählen - es sind wohl inzwischen ein paar hundert -, schreibt sie auf und veröffentlicht sie in der
taz", so Arno Widmann in einer Laudatio.
Andreas Platthaus gratuliert heute in der
FAZ: "Die nachvollziehbarste Parallele zu ihrem journalistischen Schreiben, das über die nur in Themenwahl und Montage aufspürbare Subjektivität zur Literatur wird, sind die Werke von Autoren wie
Walter Kempowski ('Echolot') oder der letztjährigen Literaturnobelpreisträgerin
Swetlana Alexijewitsch."
Weniger Erfreuliches berichtet Otto Köhler in einem Artikel für die
Junge Welt, der leider nicht online steht: "Jetzt, pünktlich zu ihrem heutigen 70. Geburtstag steht Gabriele Goettle
vor der Altersarmut. Die Frauenrechtlerin im Ruhestand Barbara Duden ist Besitzerin des Hauses in Berlin-Lichterfelde, in dem die an Arthrose erkrankte Schriftstellerin Goettle wohnt. Vergangenen Freitag bekam sie
vorzeitige Geburtstagspost von der auf solche Angelegenheiten spezialisierten Rechtsanwaltskanzlei Groß ('Die Kanzlei konzentriert sich ausschließlich auf ein Rechtsgebiet: Mietrecht und
vertritt nur Vermieter'). An Goettle schrieb die Kanzlei: 'Namens unserer Mandantschaft' - das ist Barbara Duden - 'kündigen wir das Mietobjekt
fristlos', schrieb die Kanzlei und fuhr syntaktisch problematisch, aber letztlich unmissverständlich fort: 'fordern Sie umgehend auf, das
Mietobjekt zu räumen und geräumt spätestens bis zum 31.5.2016 zurückzugeben.'"
Goettle hatte Barbara Duden, eine der Günderinnen der einstigen legendären Frauenzeitschrift
Courage vor einigen Jahren
liebevoll porträtiert und die angenehme Atmosphäre in deren Bremer Haus geschildert. Hoffen wir, dass Duden sich des heutigen Datums nicht bewusst war und dass sie mit Goettle - noch heute! - einen Modus vivendi findet.
Thierry Chervel