Das Gewicht der ErinnerungRoman
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart
1999
ISBN
9783608934366, Gebunden, 206Seiten, 17,00
EUR
Klappentext
Aus dem Französischen von Renate Nentwig. Seit Jahren hausen die von Wahnvorstellungen verfolgte Mutter und ihre Tochter gemeinsam in einer Wohnung, inmitten von Chaos und Armut, abgeschnitten von der Welt draußen. Eines Tages kommt ein Gerichtsvollzieher, um das dürftige Mobiliar zu pfänden. Stumm tut er seine Arbeit: geht durch die Zimmer, notiert das Inventar und schätzt seinen Wert. Der Tochter ist die Situation peinlich. Im munteren Plauderton versucht sie den Gerichtsvollzieher abzulenken. Doch immer wieder kommt ihr die Mutter in die Quere, erzählt von nichts anderem als von den Greueltaten französischer Nazischergen. Die Gegenwart interessiert sie nicht, sie lebt einzig in Szenen der Vergangenheit. Die Tochter reagiert gereizt, hysterisch. Der Konflikt eskaliert... Lydie Salvayre erzählt die Geschichte von einem seelisch ermordeten Menschen, der gegenüber seinem Kind versagen muss. Und sie zeigt, wie das Heute erdrückt wird von der Last der Erinnerungen.
Rezensionsnotiz zu
Neue Zürcher Zeitung, 13.11.2004
Eins nimmt der total begeisterte Rezensent Milo Rau vorweg: Lydie Salvayres Figuren sind nicht sympathisch. Eher kommen sie der Hauffschen Beschreibung des "Menschen als Haustier" nahe, und tun dies doch auf eine spannungsgeladene Weise. In der Tat, erklärt der Rezensent, handelt es sich bei ihnen um "belesene Bestien", die man als "Zuchtüberschuss der Post-Evolution" beschreiben könnte. In "Das Gewicht der Erinnerung" etwa setze Salvayre eine alte Frau und ihre Tochter während der Hausbesichtigung durch den Gerichtsvollzieher in Szene. Die Mutter überschütte den Mann mit der Schilderung furchtbarer Geschehnisse während der deutschen Besatzung, und treibe damit zunächst die Tochter in den Wahnsinn. Mehr und mehr stelle sich dieses Szenario allerdings als Gegenüberstellung der "tonlos und präzise" funktionierenden Gesellschaft - mit ihrem von Salvayre verhassten "Jargon", ihrer "Wichtigtuerei" und ihrer "Wortbeschneidung" - und ihres aufbegehrenden, menschlichen Opfers, dem die Sprache gegeben ist. In regelrechten "Oralkaskaden", so der Rezensent, setze sich die Mutter zur Wehr. Wie alle Figuren bei Salvayre spreche sie, weil Verbrechen nicht vergangen sind, sondern "zum Himmel stinken". Doch geht es laut Rezensent nicht darum, die Welt zu zeigen wie sie ist, und auch nicht darum, Mitleid zu erregen. Dafür sind die Figuren "zu intelligent, zu ironisch". Es gehe vielmehr um einen apokalyptischen "Kreuzzug der Sprache", der sich gegen jedes beschwichtigende und vermeintlich ordnende Geplapper (etwa der Psychoanalyse) stelle. Was nicht bedeute, dass inmitten von Salvayres wahrhaft "Rabelaisischen Inzucht der Stile" auf das Denken verzichten würde, wie auch das Ende des Romans bezeuge: Der Gerichtsvollzieher wird von beiden Frauen hinausgeworfen - unter einem Zitat von Cato über die notwendige Bändigung des Bösewichts.