Bücher der Saison

Frühjahr 2006

Eine Auswahl der interessantesten, umstrittensten und meist besprochenen Bücher der Saison. Von Thekla Dannenberg, Christoph Mayerl
03.04.2006. Die deutschen Feuilletons haben die Fremden entdeckt - und das mit Macht. Die am häufigsten besprochenen literarischen Bücher beschäftigen sich mit einem Reisenden des 19. Jahrhunderts, türkischen Mädchen im Anatolien der Fünfziger, Jugendbanden in Leipzig oder global Sex suchenden serbischen Diplomatentöchtern. Im Sachbuchbereich hat vor allem Necla Keleks Untersuchung über die türkischen Männer in Deutschland heftige Diskussionen ausgelöst.
Die deutschen Feuilletons haben die Fremden entdeckt - und das mit Macht. Die meistbesprochenen literarischen Bücher beschäftigen sich mit Reisenden im 19. Jahrhundert, türkischen Mädchen im Anatolien der Fünfziger, Jugendbanden in Leipzig oder global Sex suchenden serbischen Diplomatentöchtern. Im Sachbuchbereich hat Necla Keleks Untersuchung türkischer Männer in Deutschland heftige Diskussionen ausgelöst.

Viel Spaß beim Lesen - und Reisen!

Deutschsprachige Autoren

Man verlässt wieder sein Jugendzimmer und geht in die Welt. Dieses Frühjahr bietet jede Menge Rumtreiber in der deutschen Literatur. Der kosmopolitischste unter ihnen ist sicher Ilija Trojanows "Weltensammler" der britische Kolonialoffiziers Richard F. Burton, der im 19. Jahrhundert Asien und Afrika bereiste und ausspionierte. Der sich die fremden Kulturen erschloss, indem er sich anpasste, die Sprachen lernte, lernte, sich wie ein Einheimischer zu kleiden, zu essen, zu sprechen - und wenn nötig auch zu beten. Er besuchte als erster Europäer Mekka und Medina. Ein aufregendes Leben, das die Kritiker prächtig erzählt fanden. Begeistert hat sie jedoch vor allem, dass Trojanow die Ansichten und Gedanken des Briten immer wieder durch die Stimme eines einheimischen Dieners oder einer Behörde ergänzt. Erst diese Polyphonie macht aus der Geschichte weit mehr als einen exotischen Roman, so die Zeit, nämlich einen "höchst aktuellen Dialog über Fremdheit und Fremde". Und Karl-Markus Gauß (SZ) findet den mit dem Leipziger Buchpreis ausgezeichneten Roman "so spannend und intelligent", dass er seinesgleichen sucht.

Nur Sibylle Lewitscharoffs Held in "Consummatus" ein Schullehrer, reist noch weiter - ins Totenreich, aus dem er seine Geliebte zurückholen möchte. Er trifft dort außerdem Bob Dylan, Jesus, Nico, Andy Warhol und Jim Morrison. Die Zeit steht ehrfürchtig vor so viel "Gotteswahrnehmung, die sich so unreligiös wie nur möglich gibt" und nichts mit Esoterik zu tun hat. Witz und Beschwingtheit attestiert die FR dem Roman, die FAZ bewundert die "glänzende Sprachkraft" der Autorin. Katharina Hackers "Habenichtse" () kommen bis London. Schickes Berliner Paar mit schicken Berufen in schicker Stadt. Doch die Kritik ist sich einig, dass der Buchtitel nicht auf die armen Nachbarn, sondern die gutsituierten, doch hohlen Deutschen gemünzt ist. Ihrer Gedankenlosigkeit fällt am Ende ein Kind zum Opfer. Die taz bewundert, wie lakonisch und gelassen Hacker ihre grausame Geschichte erzählt. Die Zeit findet das Paar in einer klugen, zeitkritischen Analyse beschrieben. Nur taz-Rezensent Jörg Magenau hatte nach der Lektüre absolut keine Lust mehr auf Ewigkeit.

Feridun Zaimoglus Heldin "Leyla" geht erst ganz am Ende - nach Deutschland, wohin sie ihrem Mann folgt. Der allergrößte Teil dieses viel gepriesenen Romans spielt in Leylas anatolischem Dorf, wo sie in den fünfziger Jahren mit ihrer Mutter, Brüdern, Schwestern und einem jähzornigen prügelnden Vater aufwächst. Der ganze Roman ist aus der Perspektive dieses Mädchens erzählt. Die Rezensenten nahmen die Möglichkeit, etwas über die erste Generation türkischer Einwanderer zu lernen, begierig auf. Die Zeit lernte, dass Gehorsam gegenüber dem Vater wichtiger ist als der Glaube. Die FR stellt erstaunt fest, dass die Frauen in diesem Roman "die interessanteren, psychologisch raffinierteren Protagonisten" sind. Die FAZ, die "Leyla" den Aufmacher ihrer Buchbeilage widmete, bewundert Zaimoglus "Kunst der Einfühlung in seine Figuren".

Clemens Meyers Helden halten sich dagegen an ihrem Apfelkorn fest und bewegen sich keinen Millimeter aus ihrem Leipziger Vorort hinaus - außer in den Knast. Der 524 Seiten dicke Debütroman "Als wir träumten" wurde von der Kritik sehr gut besprochen. Für die FAZ ist es ein "großer Roman" über die ostdeutsche Jugend im Deutschland der Nachwendezeit. Die Zeit findet den "kleinen gemeinen Lebenskampf" größer dargestellt als alle historischen Umbrüche. Und die FR denkt gar an Jean Genet. Nur Sigrid Löffler konnte in Literaturen gar nichts mit diesem Roman anfangen: "Alles läuft auf den einen dumpfen Kernsatz hinaus: 'Mann, das ist echt so scheiße.' Stimmt leider."

Sehr gut besprochen wurden außerdem Norbert Zähringers "Als ich schlief" Das Personal des Romans ist eindrucksvoll: ein afrikanischer Flüchtling, ein Berliner Wachmann, ein iranischer Arzt und ein im Wachkoma liegender Ich-Erzähler - alle in einer verwegenen Konstruktion miteinander verbunden. Gut angekommen auch der Internatsroman "Warum du mich verlassen hast" des FAZ-Korrespondenten Paul Ingendaay. Glänzend beschreibe Ingendaay das Internatsleben mit seinen grausamen Seiten und heimlichen Lüsten, findet die Zeit. Der SZ machte der Roman "gute Laune".


Osteuropäische Autoren

Vladimir Sorokins "Bro" erzählt die Vorgeschichte des Mannes, der in "Ljod. Das Eis" eine mörderische Sekte gründete. In der FAZ bekennt Wolfgang Schneider, dieser Roman habe ihn zum Sorokin-Fan gemacht. Er bewundert des Autors "gnostisch-bösen Blick" auf die Scheußlichkeiten des Lebens, der eines Cioran würdig sei. Die SZ hat ihre Freude am "heiligen Überschwang" der Handlung und empfiehlt den Lesern, bei der Lektüre einfach ihren Verstand auszuschalten. Dzevad Karahasans "Der nächtliche Rat" () erzählt von einem Bosnier, Simon, der nach dem Exil in Berlin 1991 in seine Heimatstadt Foca zurückkehrt, kurz bevor der Bürgerkrieg ausbricht. In dem Roman, der tief ins Mythologische eingesenkt ist, verleugnen alte Bekannte den Heimkehrer Simon, bis er schließlich des Mordes an vier engen Freunden verdächtigt wird. Wie elegant und kraftvoll Dzevad Karahasan die aufbrechende Gewalt zwischen den Menschen beschreibt, das hat die NZZ umgehauen. Sie findet den Roman spannend, historisch genau, witzig, ideenreich und klug. Dazu eineaus unserem Vorgeblättert.

Leonid Zypkins "Ein Sommer in Baden-Baden" wurde vor einigen Jahren zufällig von Susan Sontag in einem Antiquariat entdeckt. Ihrer Begeisterung verdankt sich die Neuauflage und - in Deutschland - die Neuübersetzung dieses Romans. Er erzählt die Geschichte des jungen Ehepaares Dostojewski und reflektiert zugleich, in Gestalt eines jungen russischen Intellektuellen, der auf einer Bahnfahrt das Tagebuch von Dostojewskis Frau liest, den Sowjetstaat. Für FAZ und taz ein großartiges Werk, das zwei Welten, zwei Zeitalter, zwei Geschlechter einander gegenüberstellt. Die FAZ rühmt auch die "leuchtende Intensität" der Übersetzung von Alfred Frank.


Englischsprachige Autoren

Shirley Hazzard wurde in Sydney geboren, mit 16 Jahren beobachtete sie für den britischen Geheimdienst von Hongkong aus den Bürgerkrieg, später arbeitete sie in New York an der UNO. Klar, dass es die Helden ihres Romans "Das große Feuer" auch nicht an einem Ort hält. Japan, China, Hongkong und England Mitte der vierziger Jahre sind die Orte, an denen die Liebesgeschichte zwischen einer jungen Frau und einem alternden Kriegshelden spielt. Die NZZ bewundert die "makellose Eleganz", mit der Hazzard erzählt, und das Happy-End.

Viel rumgekommen ist auch die Heldin in Natasha Radojcics Debütroman "Du musst hier nicht leben" Mit 15 Jahren läuft Sascha, Tochter eines serbischen Diplomaten und einer muslimischen Mutter, fort aus ihrem Elternhaus in Belgrad. Die Polizei greift sie auf, die Familie schickt sie nach Kuba zu einem Onkel, der reicht sie weiter zu ihrem Vater nach Athen und schließlich landet sie in New York. Die NZZ ist entzückt von dieser "balkanischen Lolita", aber auch vom Erzähltalent der 1966 geborenen Autorin, die subtil die Gegensätze zwischen alter und neuer Welt, kommunistischer Nomenklatura und New Yorker Punkszene beschreibt.

David Peaces "1977" ist der zweite Band seines vielgelobten Red Riding Quartetts über das England der siebziger und achtziger Jahre. Die Geschichte dieses Romans spielt in Yorkshire, zur Zeit des Yorkshire Rippers, eines Mörders, der bevorzugt Prostituierte tötet. Prostituierte als Geliebte haben auch die zwei männlichen Helden des Buchs, ein Gerichtsreporter und der ermittelnde Polizist. 1977 ist der "wohl härteste Serienkiller-Roman", der zur Zeit zu haben ist, meint die taz. Und die Zeit warnt: "Das ist nicht U wie Unterhaltung, sondern E wie Ernst."

Außerdem viel, aber fast durchweg zwiespältig besprochen wurden Bret Easton Ellis' "Lunar Park" über ein kompliziertes Vater-Sohn-Verhältnis und John Irvings bisher dickster Roman, "Bis ich dich finde" über die Suche nach einem Vater. Salman Rushdies "Shalimar der Narr" ein Roman über den Mord an einem US-Botschafter, der von seinem muslimischen Chauffeur getötet wird, hat die Kritiker durch die Bank enttäuscht.


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