19.04.2007. Einen großen Auftritt haben in diesem Jahr die deutschen Erzähler und Erzählerinnen, und zwar quer durch alle Altersklassen. Wir begegnen verliebten Trollen in Schweden, erbarmungswürdigen Pechvögeln aus Dänemark, piemontesischen Schmugglern und abgestürzten bulgarischen Schriftstellern. Bei den Sachbüchern stechen vor allem die Reportagen und Essays zum Multikulturalismus von Ian Buruma und Amartya Sen hervor, aber auch Geschichtsbände zum Kalten Krieg und Preußen. Und die Kunst wird übersichtlich.
Literatur / Politisches Buch und Sachbuch
Einen großen Auftritt haben in diesem Jahr die
deutschen Erzähler und Erzählerinnen, und zwar quer durch alle Altersklassen. Wir begegnen verliebten Trollen in Schweden, erbarmungswürdigen
Pechvögeln, piemontesischen
Schmugglern und abgestürzten
bulgarischen Schriftstellern.
Deutsche LiteraturWerner Bräunigs "Rummelplatz" ist eines der Bücher mit einem Schicksal, und zwar einem tragischen. 1965 beendete der Autor diesen zuvor in Auszügen veröffentlichten Roman über die Arbeit in den Wismut-Bergwerken, die
Zensur in der DDR verhinderte aber sein Erscheinen. Erst dreißig Jahre nach dem frühen Tod des Autors gibt es nun erstmals die vollständige Fassung, die sogleich für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde. Die
SZ versichert, dass hier ein Autor von der
Bedeutung Heinrich Bölls oder Günter Grass' mundtot gemacht wurde. Mitgerissen von den geradezu "rabelaishaften Wortkaskaden" des Autors zeigt sich die
FAZ, und nur die
FR kritisiert bei allem Lob die angesichts des Verbots erstaunliche Linientreue dieses Romans.
Mit Erstaunen verzeichnen die Zeitungen, was
Antje Ravic Strubel in ihrem neuen Roman "
Kältere Schichten der Luft" alles geleistet hat (Leseprobe
hier). Ihn als vertrackt zu bezeichnen, wäre wohl untertrieben. Für die einen ist das Buch Liebesgeschichte, Krimi und Gesellschaftsroman, für die anderen ist es
Transgenderromanze und Comingout-Thrill mit Toten und Feen. Es geht um eine Frau um die dreißig, die sich in einem schwedischen Sommercamp in eine andere, ein wenig rätselhafte Frau verliebt. Die
FAZ fremdelt zwar ein wenig mit diesem Sujet, lobt den Roman aber nachdrücklich als "
Sprachzauberkunststück", von dessen Prosa eine Abgründe eröffnende Unruhe ausgehe. Die
NZZ sieht in diesem "kleinen, muskulösen" Roman auch den Versuch, eine neue literarische Sprache für lesbische Liebe zu finden.
taz und
SZ ist einiges zu plakativ umgesetzt, aber auch sie lassen keinen Zweifel an ihrer Wertschätzung für diese
Ausnahmeerscheinung unter den deutschen Nachwuchsautoren.
Die bisher als Lyrikern hervorgetretene Autorin
Silke Scheuermann zeigt in
"Die Stunde zwischen Hund und Wolf" auch als Romanautorin eminente Begabung. Viel Bewunderung findet sie für die auch als Generationenporträt lesbare Geschichte zweier einander in Hassliebe verbundener Schwestern. Die
taz zeigt sich angetan von den "poetischen Sprachbildern" der Autorin, die
FAZ staunt, wie die Schilderung des Betrunkenseins zum "ästhetischen Phänomen" wird. Die Ansicht der Mehrzahl der Rezensentinnen und Rezensenten bringt die
Zeit mit dem Lob für die "
Beobachtungskälte" Scheuermanns auf den Punkt.
Das Buch heißt
"Hamburger Hochbahn" (Leseprobe
hier), spielt aber zu nicht geringen Teilen in der amerikanischen Großstadt
St. Louis. Dorthin nämlich verschlägt es den Protagonisten Thomas Schwarz, als seine Freundin ein Kunst-Stipendium an der dortigen Universität erhält. Der renommierte Kulturjournalist
Ulf Erdmann Ziegler hat mit seinem Romandebüt, das
Generationenporträt und Darstellung einer Midlife-Crisis zugleich ist und in Rückblenden bundesrepublikanische Geschichte erzählt, auf ganzer Linie überzeugt. Bass erstaunt und restlos begeistert angesichts der Qualität des Buches ist die
taz. Auch die
NZZ spricht von einem "hinreißenden" Debüt, die
FR hat an der "verhaltenen Ironie" des Romans Gefallen gefunden. Beachtliche literarische Debüts geben übrigens auch die Kollegen
Harald Martenstein mit
"Heimweg" und
Navid Kermani mit seinem Roman (Leseprobe
hier)
"Kurzmitteilung" ()
Ganz einig sind sich die Rezensenten, dass der seit Jahrzehnten Werk um Werk vorlegende
Peter Kurzeck noch immer ein schändlich übersehener und von Kritik und Publikum viel zu wenig beachteter Autor ist.
"Oktober und wer wir selbst sind" ist der vierte eines auf sieben Bände angelegten autobiografischen Zyklus' Kurzecks. Für die
FR ist Kurzecks Versuch der "vollständigen Poetisierung der ganzen Welt" ein einzigartiges Projekt, die
FAZ wirft, nicht weniger enthusiasmiert, mit den weltliterarischen Referenzautoren von
Marcel Proust und Thomas Bernhard bis Robert Walser nur so um sich.
Ingo Schulze hat einen neuen Band mit Erzählungen herausgegeben - und die Rezensenten und Rezensentinnen sind von
"Handy" begeistert und verärgert, vergnügt und ratlos. Die Zeit bewundert Schulzes literarischen "
Geniestreich", das Beiläufige zum Prinzip erhoben zu haben. Dabei hat sie einige der schönsten Liebesgeschichten gelesen, die heute überhaupt möglich sind. Die
FAZ preist, wie leicht und "raffiniert" Schulze von unser aller Suche nach Glück erzählt. Auch die
taz konnte sich gar nicht satt lesen, am allerschönsten findet sie aber die Geschichte "Keine Literatur oder Epiphanie am Sonntagabend". Die
FR rätselt, wie Schulze aus den kleinsten Begebenheiten literarischen Mehrwert schöpft. Einspruch erhebt die
NZZ: Sie findet die Erzählungen
verschwafelt.
Für Aufsehen, wenn auch nicht unbedingt für Begeisterung sorgten die jüngsten Veröffentlichungen der zuletzt heftig umstrittenen Großautoren
Günter Grass und Martin Walser. Beide haben ausgerechnet die Form der Lyrik gewählt, um ihren Verletztheiten Ausdruck zu verleihen. Martin Walser fand mit seinen keineswegs balladenförmigen Balladen in "
Das geschundene Tier" durchaus freundliche Aufnahme, die
Zeit etwa hat diese "Tanzlieder um das Ich" sehr genossen. Keinen Gefallen getan hat sich dagegen Günter Grass mit seinem Band
"Dummer August" in dem er sich über die Reaktionen der Öffentlichkeit auf sein Waffen-SS-Geständnis empört. Für seine - so die
FAZ - "wehleidige Selbstgerechtigkeit" fand er nirgends Verständnis.
Internationale Literatur Die Kunst, aus einer trostlosen - noch dazu teilweise autobiografischen - Geschichte große Literatur zu machen, bewundert die Kritik an
Per Pettersons Roman
"Im Kielwasser". Erzählt wird vom 43-jährigen Schriftsteller Arvid, der erst bei einem Fährunglück seine Eltern und zwei Geschwister verliert und später von Frau und Kindern verlassen wird. "
Schonungslos und aufwühlend" findet die
taz diese Geschichte einer Verzweiflung. Die
NZZ preist Pettersons Verzicht auf sentimentale Anwandlungen und die
Zeit ist sich sicher, dass von diesem Autor noch viel zu hören sein wird.
Als Hoffnung für die italienische Literatur wird der 1971 geborene
Davide Longo gefeiert. Sein Roman
"Der Steingänger" spielt in den Piemonteser Bergen und erzählt von einem Kriminalfall, nämlich dem Tod eines illegalen Schleusers, ohne doch ein Kriminalroman zu sein. Als große Leistung Longos wird seine Fähigkeit gepriesen, Landschaft und Bewohner
atmosphärisch präzise einzufangen und in Sprache zu verwandeln. Die
FAZ preist Longos "Kunst des Verschweigens", die
taz hat sich an der "grobkörnigen" Sprache berauscht und die
SZ sieht sich gar an den großen
Cesare Pavese erinnert.
Als "wahrhaft schreckliches" Buch empfiehlt die
taz den neuen Roman von
Cormac McCarthy "Die Straße": "Man muss es lesen". Der neue Roman des gern als
Kultautor der Intelligenz gepriesenen McCarthy erzählt von der Zeit nach der großen - unerklärten - Apokalypse. Amerika ist untergegangen, es gibt nur wenige Überlebende. Und wenn McCormac bisher schon recht düster erzählen konnte, übertrifft er sich hier selbst. Nicht einmal Hass, Schuld und Sühne sind als menschliche Konstanten übrig geblieben. Die
FR erhebt keinen Protest gegen
marodierende Kannibalen und andere Grausamkeiten, die ihr in dem Roman zugemutet wurden. Die
Zeit ist hin und hergerissen. Sie überlegt, ob sie McCormac eher zu Herman Melville und Edgar Allan Poe ins Regal stellen soll oder zu
Bret Easton Ellis. Aber entziehen konnte sie sich dem Sog dieses Romans nicht.
Mit fünfzehnjähriger Verzögerung erscheint
Edward St. Aubyns Roman
"Schöne Verhältnisse" auf Deutsch. Erstaunlich, denn der Mann hat wohl, was man Appeal nennt: Er ist Spross des höheren englischen Adels, reich, und er hat eine Drogenkarriere und eine grauenhafte Missbrauchsgeschichte hinter sich. Die
Zeit stellt klar, dass es sich bei diesem autobiografischen Werk nicht um ein "Bekenntnisromänchen" handelt, sondern um Literatur, kühl und mit viel - Adel verpflichtet - "
snobistischem Witz" verfasst. Schaudernd hat sie diese Familiensaga gelesen, in der ein vor "Selbsthass berstender" Familienpatriarch den Sohn unter den Augen einer masochistischen Mutter tyrannisiert. Die
FR attestiert dem Roman schwarzen Humor allererster Güte und brillante Dialoge. Die
SZ genoss zwar die Eleganz, mit der St. Aubyn die britische
Klassengesellschaft durchdringt, vermisst allerdings eine plausible Erklärung dafür, dass die Figuren des Romans nicht einfach einmal anders leben. ()
Der Roman
"Verfall" des bulgarischen Schriftstellers
Vladimir Zarev wurde nur einmal besprochen, von der
FAZ. Dies aber sehr nachdrücklich. Sie hält das Buch für die bulgarische Vision des Wenderomans, der hierzulande noch immer nicht erschienen sei. Ausgetragen wird in dem Roman der Kampf zwischen Kapital und Geist, und Protagonist ist der Schriftsteller Martin Streminski, der nach dem Ende des Kommunismus nichts bleibt als Suff, Ekel und die kostenlosen
Häppchen im Goethe-Institut. Die
FAZ attestiert Zarev "bösen Witz, epischen Atem" und Scharfblick.
Großen Eindruck hinterlassen hat auch das
"Chilenische Nachtstück" des 2003 verstorbenen Autors
Roberto Bolano.
NZZ und
Zeit bewundern die Klugheit und den Witz, mit denen Bolano von
Poesie und Frivolität in Zeiten der Diktatur erzählt (). Nicht einhellig gelobt wird
Jean-Philippe Toussaints Roman
"Fliehen". Die
NZZ ist aber geradezu berückt von so viel "Anmut,
Melancholie und Schönheit", kann sich allerdings nicht entscheiden, ob sie den Roman für ein Wunder oder ein Meisterwerk hälten soll. Verhaltener äußert sich die
taz: "Leider ist die Leichtigkeit dahin."
Zwei Romane der Saison zeigen den Weg junger Menschen in den
islamistischen Terrorismus - allerdings unter gänzlich verschiedenen Voraussetzungen. Der junge, in Pakistan geborene, in Princeton und Harvard zur Universität gegangene und nun in London lebende
Mohsin Hamid erzählt in "
Der Fundamentalist, der keiner sein wollte" von einem in der US-Gesellschaft erfolgreichen
pakistanischen Stipendiaten, den eine Liebesgeschichte in eine Idenitätskrise stürzt. Die
Zeit lobt, wie Hamid "größtmöglichen Realismus" erreicht, ohne je ins Leitartikeln zu geraten. Der Roman
"Der Jakubijan-Bau" des Autors
Alaa al-Aswani ist ein sozialrealistischen Porträt der
ägyptischen Gegenwartsgesellschaft - und wurde in Ägypten zum Bestseller. Zwar erinnert das Personengeflecht um den jungen Taha, der zum Fundamentalisten wird, die
taz ein wenig an die "Lindenstraße", bestens unterhalten hat sie sich dennoch - oder gerade deshalb (Lesen Sie hier einen
Auszug)
KriminalromaneAuch nach zehn Romanen gibt es bei
Fred Vargas keine Ermüdungserscheinungen. Die gelernte Archäologin hat auch mit ihrem jüngsten Krimi
"Die dritte Jungfrau" rundum für
Begeisterung gesorgt. Das Buch fand auch, für Kriminalromane eine immer noch eher seltene Ehre, in den großen Feuilletons Beachtung. Die
NZZ hat vor allem die "tiefe Sympathie der Autorin für Ecken und Kanten" ihrer Figuren für ihr Werk eingenommen. Die
taz hat zwar keine Lust, den Inhalt um Grabschändungen, ein Lebenselixier und einen Konkurrenten für Kommissar Adamsberg ausführlich nachzuerzählen, versichert aber, dass Vargas' Figuren von großer "Glaubwürdigkeit" sind.
Für Aufsehen sorgt schon die Biografie des Autors:
Massimo Carlotto war Mitglied der terroristischen Vereinigung Lotta continua und saß - zu Unrecht wegen Mordes verurteilt - selbst lange im Knast. In
"Arrivederci amore, ciao" erzählt er nun von einem Terroristen, der nach Mittelamerika flieht und dort in einem Camp mit Ex-Terroristen lebt. Zwar findet die
FAZ den Helden Giorgio Pellegrini "völlig seelenlos", kann sich der "unheilvollen Anziehungskraft" der Geschichte aber nicht entziehen. Die
taz hat unter anderem die "
schlichte, schöne Sprache" beeindruckt. Einspruch kommt von Krimi-Papst Thomas Wörtche, der nur "quälend fahle Muchomacho-Attitüden" sieht, wo die anderen Kriminalliteratur von Rang entdeckt haben.
Als
kriminalliterarische Entdeckung des Bücherfrühlings wird der in Südafrika geborene, nun aber in Australien lebende und über Australien schreibende Autor
Peter Temple gefeiert. So fand sich
"Kalter August", das Deutschland-Debüt Temples im April auf Platz eins der KrimiWelt-
Bestenliste wieder - und nicht nur die
FAZ staunte, dass ein so lesenswerter Autor von den deutschen Verlagen sieben Bücher lang ignoriert worden ist. Sie fühlt sich an Elmore Leonard erinnert und lobt insbesondere den "feinen Blick für Details".
Literatur / Politisches Buch und Sachbuch