Bücher der Saison

Frühjahr 2008

Die umstrittensten, am besten und am häufigsten besprochenen Bücher der Saison
21.04.2008.
Kroatische Literatur, Frühlinge / Romane / Comics, Erzählungen, Lyrik, Hörbuch / Reportagen / Sachbücher


Comics

Von Zeit zu Zeit seh'n deutsche Feuilletons die Comics gern - bleibt zu hoffen, dass die in diesem Frühjahr größere Lust auf die "neunte Kunst" nicht so rasch wieder vergeht wie nach den Erfolgen von Art Spiegelman oder Marjane Satrapi.

Der Spitzentitel der Saison ist Alison Bechdels Familiengeschichte "Fun Home" (), die schon dadurch aus dem Rahmen fällt, dass sie bei einem der großen Publikumsverlage, nämlich bei Kiepenheuer und Witsch, erschienen ist. Schon das Time Magazine hatte diese Graphic Novel zum Buch des Jahres gewählt, auch in Deutschland wird die autobiografische Geschichte eines doppelten Coming-Outs von Vater und Tochter jetzt gefeiert. "Grandios" findet die taz die Sprache wie die Bilder, die SZ bemängelt gelegentliche "Überfrachtung", staunt aber insgesamt doch über die "emotionale Wucht und zugleich Komplexität" des Werks.

Bereits mit dem Vorgänger "Vertraute Fremde" wurde Jiro Taniguchi beim Festival von Angouleme ausgezeichnet. Der Nachfolgeband "Die Sicht der Dinge" () steht dem qualitativ in nichts nach, beteuert die FR, die diese Geschichte eines Grafikers, der zur Beerdigung seines Vaters nach langen Jahren in den Heimatort zurückkehrt, einfach nur "großartig" findet. Die familiäre Perspektive weitet sich ins Gesellschaftliche und doch bleibe das Buch durchweg "makellos präzise" und verzichte auf "reißerische Effekte" aller Art.

Auch zwei hervorragende Reportage-Comics brachte der Bücher-Frühling. Der Franzose Guy Delisle hat zwei Monate in der nordkoreanischen Hauptstadt gearbeitet und vermittelt in "Pjöngjang" () Eindrücke aus einer befremdlichen Welt. Die SZ bescheinigt "zeichnerische Brillanz" und stellt fest, dass die Geschichte bei aller herausgestellten Monotonie einen geradezu "magischen Sog" entwickelt. "Der Fotograf" ist ein Band, der Fotografien des Fotoreporters Didier Lefevre aus dem Afghanistan des Jahres 1986 mit sparsam kolorierten Zeichnungen von Emmanuel Guibert und Frederic Lemercier verbindet. Was dabei herauskommt, ist, so die SZ, ein "Album von anrührender Humanität". ()


Erzählungen

Clemens Meyers Geschichten "Die Nacht, die Lichter" () handeln von Säufern, Schlägern und Gabelstapelfahrern, vom Suff und vom Absturz, von sozialer Kälte und menschlicher Härte. Als er für sie den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt, übergoss er sich - ganz Underdog - im Jubel mit Weizenbier. Und wie es sich für einen Preisträger gehört, ist die Kritik gespalten. Die FAZ sieht in dem Erzählungsband ein "glänzendes, kraftvollen Buch" und in Meyer, bei aller Einsicht in die "Ungerechtigkeiten des Lebens" das besonders große Herz eines Boxers. Auch FR, taz und Zeit reagierten enthusiastisch. Die NZZ findet dagegen nur die Geschichten gelungen, in denen es nicht ums Saufen geht. Die SZ sieht in allen Erzählungen vor allem "negative Klischees" bedient. Und im Perlentaucher hält Sieglinde Geisel Meyers Erfolg für symptomatisch für einen "hyperaktiven Literaturbetrieb", der einen exotischen Autor dazu benutzt, die "eigene Spießigkeit zu feiern".

Einstimmige Lobeshymnen wurden auf die Künstlerin Miranda July gesungen, die mit den Erzählungen "Zehn Wahrheiten" () nun schriftstellerisch debütierte. Die taz lobt den Band mit seinem Personal an schrulligen Figuren, die sich an ihren Fantasien und Illusionen festklammern, als zugleich deprimierend und heiter und also lebenswahr. Die NZZ sprach von einem "Wunder". Die Zeit platzt geradezu vor Leseglück: Solche Schlaglichter wurden noch selten in die "Dunkelkammern" der "Wohlfühlboheme" geworfen.

Absurde, hochkomische und tieftraurige Geschichten aus dem alltäglichen Irrsinn Bulgariens erzählt Dejan Enev in seinem "Zirkus Bulgarien" (). Der FAZ haben diese Kurzgeschichten schlicht und einfach das Herz gebrochen. Begeistert ist die NZZ von Claire Castillons Erzählungen "Giftspritzen", die allesamt um prekäre Mutter-Tochter-Beziehungen kreisen und mit "trockener Gnadenlosigkeit" auf ihre "grausamen oder unglaubliche Pointen" zielten.


Lyrik

Letzte oder vorletzte Worte allererster Güte vernahm der Literaturchef der FAZ, Hubert Spiegel, in Peter Rühmkorfs neuem Gedichtband "Paradiesvogelschiss": Todesahnung und Krankheit sind wiederkehrende Themen der späten Gedichte. Spiegel bewundert die Nüchternheit, mit der Rühmkorf sich ihnen nähert. Auch das Provisorische vieler Gedichte berührte ihn angesichts ihrer endzeitlichen Stimmung um so mehr. Jürgen Verdofsky feiert den Band in der FR als Meisterwerk.

Auch der große serbische Lyriker Miodrag Pavlovic fragt in seinen "Paradiesischen Sprüchen" nach dem Paradies, erfreulicherweise "weit entfernt von jeglichem Pathos und voll versteckter Ironie", wie Nico Bleutge in der FR anmerkt. Leichtigkeit und Wehmut verbinden sich in seinen Gedichten laut FAZ-Rezensentin Marica Bodrozic.

"Paloma": Die Taube ist Friederike Mayröckers Paradiesvogel in ihren 99 lyrischen Briefen an einen unbekannten Freund. Paul Jandl spürt in der NZZ die Trauer an Mayröckers Lebensgefährten Ernst Jandl (keine Verwandtschaft, vermuten wir) nachzittern. Laut Harald Hartung in der FAZ schützt dabei die "Wiener Melange" vor Kunsthandwerk.

Gedichte, Prosastücke, Notizen oder Tagebucheinträge? Auch Elke Erb folgt jedenfalls, wie Mayröcker, in ihren neuen "Notaten" dem Gesetz der Serie. Ihre Haltung in "Sonanz" ist allerdings eine experimentelle und erinnert an den Surrealismus. Jeden Tag hat sie fünf Minuten lang aufgeschrieben, was ihr in den Sinn kam. Es ist dennoch keine "ecriture automatique", denn Erb geht es offensichtlich nicht um Traumlogik oder psychoanalytischen Tiefsinn, schreibt Tobias Lehmkuhl in der SZ. Betörend, rätselhaft, witzig sind die Texte laut Martin Zingg in der NZZ.


Hörbuch

Einer der schwärzesten und grandiosesten Romane des letzten Jahrhunderts, Celines "Reise an das Ende der Nacht" (), in einer Hörbuchfassung des Bayerischen Rundfunks. Die Umsetzung ist beeindruckend, schreibt Wilhelm Trapp in der SZ. Der monströse Ich-Erzähler ist entzwei gespalten in Vater und Sohn Florian und Felix von Manteuffel als Sprecher, berichtet der ebenso begeisterte Wolfgang Schneider in der FAZ. Auch die Kürzungen, die Musik, die Soundeffekte fanden die Zustimmung der Rezensenten.

Stifters traurige Novelle "Der Waldgänger" () über ein Ehepaar, das sich wegen Kinderlosigkeit scheiden lässt hat den SZ-Rezensenten Martin Z. Schröder vor allem wegen der Vortragskunst des Grazer Schauspielers Peter Simonischek zutiefst beeindruckt. Simonischek bringe die "feinsten Nuancen" der Novelle zum Klingen und mache gleichermaßen den "Zauber" des Waldes, wie die seelische Not der Protagonisten spürbar, so der Rezensent geradezu überwältigt.

Die in Deutschland recht unbekannte Lyrikerin Inger Christensen gilt schon lange als Nobelpreiskandidatin. In "Das Schmetterlingstal" () liest sie einige ihrer berühmtesten Gedichte - sekundiert von der deutschen Stimme Hanna Schygullas. Sowohl Martin Z. Schröder in der SZ als auch Harald Hartung in der FAZ sprechen dringende Empfehlungen aus. Das "perfekte Hörbuch", meint Schröder gar.


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