28.11.2011. Romane / Krimis, Lyrik, Comics, Essays, Autobiografien / Sach- und politische Bücher
Biografien
Romane / Krimis, Lyrik, Comics, Essays, Autobiografien / Sach- und politische Bücher Biografien Ob das nun eine Heiligenlegende ist oder nicht, darüber sind sich die Kritiker nicht ganz einig. Wahrscheinlich ist es so: Steve Jobs polarisiert über den Tod hinaus. Wer ihn mag, findet
Walter Isaacsons autorisierte Biografie
"Steve Jobs" ) ausgewogen, wer ihn nicht mag, hagiografisch. Aber das sind dann auch die interessanteren Kritiken, weil sie die Widersprüche benennen. Götz Hamann bemängelt etwa in der
Zeit, dass sich Isaacson nicht für den Widerspruch zwischen den
chinesischen Hungerlöhnen und den
kalifornischen Milliardengewinnen interessiert. Und dass er ausgerechnet Jobs, der für seine Wutanfälle und
mangelnde Emphase berüchtigt war, zum Moralisten stilisiert. Aber auch Hamann rät zur Lektüre. Denn auch er kann sich der Faszination des bösen Genies nicht entziehen und schildert insbesondere eine Szene, wo Jobs - nach seinem Rausschmiss bei Apple - zusammen mit dem Oracle-Chef Ralph Ellison die Möglichkeiten einer
feindlichen Übernahme des Konzerns diskutiert.
Genie der Geschmeidigkeit oder auch Opportunist: so lauten die Klischees über Talleyrand, der
sechs Regimes in maßgeblicher Stellung diente. Aber
Johannes Willms schafft es in seiner Biografie
"Talleyrand" ), diesen Klischees auszuweichen und Tallyerand als einen Mann zu machen, der
aus Prinzip wechselte - so zumindest
Jochen Schimmang in seiner sehr positiven
FAZ-Besprechung. So habe sich Talleyrand zum Beispiel von Napoleon abgewandt, als dieser Europa mit Krieg überzog. In der
taz hat der Anglist (warum eigentlich Anglist?) Andrew James Johnston das Buch besprochen und lobt ebenfalls die Abwesenheit aller Klischees.
GeschichteDer amerikanische Evolutionspsychologe
Steven Pinker gehört zu den gerade sehr angesagten Denkern, zu seinen Vorträgen pilgern Ostküstenintellektuelle und Westküstenvisionäre. Wenn Pinker also mit seinem Buch
"Gewalt" ) auf tausend Seiten und mit Unmengen statistischen Materials den Beweis antritt, dass die
Gewalt im Laufe der Menschheitsgeschichte stetig abgenommen habe, dann erklären ihn nicht gleich alle - mit Blick auf die Schrecken des 20. Jahrhunderts und Hitler, Stalin, Mao und Pol Pot - für verrückt. Kontrovers, aber engagiert diskutiert wurden seine Thesen von der
New York Times (
Pro Peter Singer) bis zu Prospect (
Contra John Gray). In der
SZ schrieb Andrian Kreye eine Eloge auf diesen "
fundamentalen Optimisten", in der FAZ erhob Herfried Münkler dagegen Einwände gegen Pinkers unkritischen Umgang mit historisch eher unzuverlässigen Quellen wie Bibel und Ilias. Hier Pinkers
Vortrag von der
Ted Conference, hier
ein Essay von ihm aus dem
Wall Street Journal.
Standardwerk,
Meisterwerk. Über den zweiten Band von
Heinrich August Winklers großangelegter
"Geschichte des Westens" ) herrscht Einigkeit unter den Rezensenten: So souverän, kenntnisreich und klar im Urteil wurde die Zeit der beiden Weltkriege, der beiden großen totalitären Systeme Europa und ihrer demokratischen Antagonisten noch nicht erzählt, versicherten
NZZ,
SZ und
Zeit. Auch als "Glanzstück" und monumentales Werk "
reifer Gelehrsamkeit" bezeichneten sie das Buch und brachten nur vereinzelt Einwände gegen Winklers vielleicht etwas zu emphatischen Begriff vom Westen an. In der
FAZ bestätigte der Historiker
Ulrich Herbert seinem einst aufrührerischen Kollegen heiter: "Selbstverständlich ist das konventionell."
Natürlich kann niemand so gut Weltgeschichte erzählen wie die Briten. Auch der Direktor des British Museums,
Neil MacGregor, wurde für seine
"Geschichte der Welt in 100 Objekten" ) ausgiebig gelobt. MacGregor präsentiert in diesem aus einer
BBC-Sendung hervorgegangenen Buch seine Lieblingsartefakte: Kieselsteine
Faustkeile, antike Solarlampen und
Götterfigurinen. In der NZZ bewundert Urs Hafner diese Schatzkammer voller Einsichten und Erkenntnsse. Und in der
Zeit genoss Elisabeth von Thadden das Buch in seiner Mischung aus "
Dorfbrunnengespräch, Spekulationslust und
tief gelehrtem Weltwissen". Sehr positiv wurde auch das neue Buch des britischen Historikers
Orlando Figes über den
"Krimkrieg" ) aufgenommen, den Figes als einen Religionskrieg moderner Prägung beschreibt, der trotz seiner immens hohen Kosten und läppischen Erfolge offenbar Schule machte. Und noch einmal sei auf
Peter Englunds Geschichte des
Ersten Weltkriegs "Schönheit und Schrecken" () hingewiesen, die viel Beachtung und Anerkennung gefunden hat.
GesellschaftNicht unbedingt gern haben die RezensentInnen gelesen, was
Eva Illouz ihnen in ihrem Buch
"Warum Liebe weh tut" () zu sagen hat. Geschluckt haben sie die
bittere Pille aber dennoch. Denn die israelische Soziologin erklärt darin, wie die Liebe heute auf dem
deregulierten Beziehungsmarkt funktioniert, welch große Rolle die
sexuelle Attraktivität heute spielt und warum Männer dabei rein biologisch im Vorteil sind. Sehr überzeugend fand Jens Bisky in der
SZ diese Analyse, die ihm auch zeigte, dass scheiternde Liebe nicht nur individuelles, sondern auch ein gesellschaftlich verursachtes Unglück sein kann. In der
Zeit war Susanne Mayer nicht mit allen Befunden Illouz' glücklich, bestätigte aber, dass sie ihr soziologische Werkzeug an
Pierre Bourdieus Analysen geschärft und an den Gedichten
Emily Dickinsons feingeschliffen hat.
Sehr gern haben sich die Rezensenten von den Essays
"Im Gegenteil" () der vor einem Jahr verstorbenen Autorin
Katharina Rutschky daran erinnern, wie das geht:
kritische Intelligenz mit Streitbarkeit und
stilistischer Eleganz zu verbinden. Rutschkys Auseinandersetzungen mit den 68ern, mit Benimmregeln und dem Feminismus haben an "Schärfe und Aktualität" nichts verloren, versichert Sabine Fröhlich in der
NZZ. Jan Fededersen attestierte ihr in der
taz Brillanz und Leidenschaft. In der
FR bewunderte Harry Nutt Rutschkys Scharfsinn,
Gelassenheit und Humanismus.
Nach den Missbrauchsfällen an der Odenwaldschule war eine kritische Aufarbeitung der
Reformpädagogik überfällig, der Schweizer Erziehungswissenschaftler
Jürgen Oelkers hat sie mit
"Eros und Herrschaft" () vorgelegt. Micha Brumlik begrüßte sehr, dass endlich mal jemand die unter dem Begriff des "
pädagogischen Eros" firmierende Allianz von Griechenverehrung, Militarismus und Pädophilie auseinander nimmt. Für Heinz-Elmar Tenorth taten sich bei der Lektüre "wahre
Schreckenswelten pädagogischer Herrschaft" auf. In der
SZ verwies Volker Breidecker auch auf den "phänomenalen empirischen Detailreichtum" der Studie. Nur in der
NZZ vermisste Urs Hafner einen Sinn für Zwischentöne. Unter die Haut gegangen ist den Kritikern bei
FR,
taz und
Zeit auch
Jürgen Dehmers Bericht
"Wie laut soll ich denn noch schreien?" in dem Dehmers sehr bitter und sehr zornig von seiner Leidenszeit an der
Odenwaldschule erzählt.
Politik und WirtschaftJetzt wissen natürlich alle, was für ein trüber rechtsradikaler Sumpf in Ostdeutschland entstanden ist. Die beiden Politikwissenschaftler
Hubertus Buchstein und
Gudrun Heinrich haben auch schon zuvor exemplarischen Regionalstudien gezeigt, wie sich der
"Rechtsextremismus in Ostdeutschland" () festsetzt und welche demokratische Gegenstrategien zu ihrer Bekämpfung taugen. Die SZ konnte den erhellenden Band sehr nachdrücklich empfehlen. Auch auf die Reportagen
"Heile Welten" ) von
Astrid Geisler und
Christoph Schultheis sei noch einmal hingewiesen. Nach Meinung von FAZ und SZ haben die beiden Journalisten gründlich den rechten Alltag in Ostdeutschland recherchiert und eine Zivilgesellschaft auf dem Rückzug erlebt.
Finanz- und Eurokrise beherrschen Politik und Medien, aber noch nicht die Wirschaftsliteratur. Auf
Colin Crouchs "Das befremdliche Überleben des Liberalismus" () konnten sich aber alle Zeitungen einigen. Crouch beschreibt darin Geschichte und Gegenwart des Liberalismus, mithin eine Ökonomie, durch deren
Deregulierung der Staat zurückgedrängt wurde, dafür aber Großkonzerne mächtig wurden, die nun das Marktgeschehen beherrschen. In der
taz konnte Uli Müller nur zustimmend mit dem Kopf nicken, in der
FAZ wertete Timo Frasch das Buch als den Triumph des
nüchternen Blicks. In der
Zeit begrüßte Lisa Herzog das Buch sehr, fragt sich aber, warum Crouch nach seinem schwungvollen Anlauf nicht
auch springt, wenn es um Lösungsansätze geht.
Zu den Ereignissen in der
arabischen Welt haben wir kaum Literatur gefunden. Dabei hätte man denken mögen, dass die
Revolutionen die Journalisten und Experten mindestens so engagiert auf den Plan ruft wie die neueste Wendung im Nahost-Konflikt. Aber Pustekuchen! Immerhin hat die in Kairo lebende Autorin
Julia Gerlach das Buch
"Wir wollen Freiheit!" () vorgelegt, das Beate Seel in der taz zumindest als prägante Zusammenfassung der Geschehnisse in Ägypten lobt. Auch andere Teile der Welt finden in den politischen Büchern kaum statt: In der
FAZ empfahl Martin Kämpchens
Pankaj Mishras Essays über Indien
"Lockruf des Westens" () als höchst ernüchternde, aber sehr lebendige Schilderung indischer Gegebenheiten. Und in der
SZ zeigte sich Peter Burghardt gefesselt und entsetzt von
Francisco Goldmans Bericht aus Guatemala
"Die Kunst des politischen Mordes" Goldman beschreibt darin die ganze Misere eines Landes, in dem umgerechnet vier mal mehr Morde begangen werden als in Mexiko.
KunstMit Formeln wie dem "barocken Überschwang" oder dem rein säkularen Rüstzeug der Kunstgeschichte ist
Peter Paul Rubens nicht beizukommen, erklärt
Willibald Sauerländer in seinem Buch
"Der katholische Rubens" ). Der Mann war ein Propagandist der Gegenreformation, und deshalb könne man das ganze Pathos seiner Gemälde, ihre Sinnlichkeit und Dramatik gar nicht anders verstehen als durch Rubens'sche
Glaubensglut. In der
SZ freute sich Gottfried Knapp, dass mit Sauerländer ein bekennender Agnostiker in die "geistlichen wie emotionale Tiefenschichten im Werk des Meisters" vorstieß, und zwar höchst lebendig und plausibel. In der
FAZ ließ sich Eduard Beaucamp mitreißen von Sauerländers spannender, selbst recht inbrünstiger Erzählung, auch wenn er die
professorale Kühle ein wenig vermisste.
Film und FotoBeachtung gefunden hat auch
Karin Wieland mit ihrer Doppelbiografie von
Marlene Dietrich und
Leni Riefenstahl. Die Berliner Politologin erzählt in
"Dietrich und Riefenstahl" vom Aufstieg zweier ehrgeiziger Schauspielerinnen, deren Karrieren beide in Berlin begannen, aber auf den entgegengesetzten Seiten der Weltgeschichte gipfelten: Marlene Dietrich wurde in Hollywood eine Ikone des Antifaschismus, Leni Riefenstahl triumphierte als Regisseurin an Hitlers Seite. In der zeit lobt Adam Soboczynski diese Doppelbiografie als "
großes Kunststück". In der SZ empfahl Johannes Willms diese "wunderbare Parallelbiografie", gerade wegen all ihrer "
aufklärenden Nebenwirkungen".
Zwei Fotobände sind uns zudem aufgefallen, auf die wir noch hinweisen wollen: Die neuaufgelegte Reportage des großen
Magnum-Fotografien Josef Koudelka über die slowakischen
"Roma" () aus den sechziger Jahren, die Lennart Laberenz in der
taz als eines der "
großen Fotobücher des 20. Jahrhundert" pries, sowie
Anthony Caronias Schwarzweiß-Band
"Afro-Cuba" (), der Jonathan Fischer in der
SZ faszinierenden Einblicke in afro-kubanische Kulte und Rituale gewährte.
MusikRobert Spruytenburg ist ein Radiomann. Für das französischsprachige Radio der Schweiz hat er zum Beispiel mehrteilige Sendungen über das
Tempo bei Beehoven oder über Haydn gemacht. Auch das Buch
"Das LaSalle-Quartett" basiert auf Gesprächen, und eigentlich würde man es lieber hören als lesen, weil man sich vorstellt, dass
Walter Levin, der Gründer des
LaSalle-Quartetts auch eine Menge über Musik spricht. Aber so muss mit mit der Schriftform vorliebnehmen - und auch sie wird von Wolfgang Schreiber in der
SZ wärmstens empfohlen: Gerade weil Levin so toll über Musik spricht.
Erstaunlich wie lau - wenn auch lobend! - Fritz Trümpis Buch
"Politisierte Orchester" () von Kritikern aufgenommen wurde: Sowohl die
Berliner wie die
Wiener Philharmoniker ließen sich von Goebbels
willig instrumentalisieren, Dutzende jüdische Musiker wurden herausgeschmissen, Dirgentenkarrieren zerstört oder ermöglicht andere erst möglich. Aber offenbar sind diese Erkenntnisse so banal geworden, dass ihnen inzwischen alles Skandalisierende fehlt. Julia Spinola lobt dieses Buch in der
FAZ als
hochinformativ, gründlich in der Archivarbeit und sachlich im Ton. Ähnlich Stephan Speicher in der
SZ.
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