Bücher der Saison

Herbst 2006

Eine Auswahl der interessantesten, umstrittensten und meist besprochenen Bücher der Saison. Von Thekla Dannenberg, Christoph Mayerl
10.11.2006. Absurde Komik aus der Ukraine und Gangsterbosse aus Bombay: Indien und Osteuropa retten die Literatur in dieser Saison. Die Erinnerungen großer Männer bestimmen die Presse, die Erinnerungen an den Ungarnaufstand 1956 berücken die Feuilletons. Das real existierende Sarmatien entzieht sich jeglicher Definition. Und noch vieles mehr in unseren Büchern der Saison.
Literatur / Sachbuch und Politisches Buch

Literatur

Absurde Komik aus der Ukraine und Gangsterbosse aus Bombay: Indien und Osteuropa retten die Literatur in dieser Saison. Die Erinnerungen großer Männer bestimmen die Presse. Die Auslese an deutschen Romane aber ist enttäuschend gering - wir hoffen, die Meilensteine hiesiger Literatur sind gerade in der Mache und kurz vor der Fertigstellung.


Indien


Mit dem Auftritt als Gastland der Frankfurter Buchmesse war Indien im Herbst nicht mehr nur auf den Wirtschaftsseiten, sondern auch im Feuilleton massiv vertreten. Diese Aufmerksamkeit hat eine neue Generation an indischen Autoren genutzt, um sich selbstbewusst und umfangreich zu präsentieren. Fünf, sechs Autoren führen die Truppe an.

Den Booker-Prize hat Kiran Desai für "
Erbin des verlorenen Landes", eine Parallelgeschichte um junge Inder am Himalaya und in New York, schon bekommen. Zu Recht, sagen die deutschen Feuilletons. Die SZ fühlt sich bei dem bunten Kaleidoskop, das nationale Historie mit persönlichen Schicksalen verbindet, an Uwe Johnsons "Jahrestage" erinnert. Die FAZ sieht ein Gegenbuch zur nostalgischen Kolonialliteratur vor sich, das sich durch eine unerhörte Resignation auszeichnet, wie die taz sekundiert. Die NZZ möchte es sich aber nicht nehmen lassen, trotz allem auf Desais großzügigen, kosmopolitischen, menschenfreundlichen Humor hinzuweisen.

782 Seiten zählt Suketu Mehtas Reportage über "Bombay. Maximum City" aus der Sicht des kleinen Mannes und der Unterwelt. Noch nie hat jemand für eine derartige Unternehmung so viele und hochkarätige Gesprächspartner gehabt, etwa Gangsterbosse und Auftragskiller, staunt die taz, die dem Buch gleich zwei Bespechungen widmet. Die SZ preist den Mut des Autors, die FAZ findet es einfach wahnsinnig gut. Der Zeit geht das alles manchmal etwas zu nah, was für sie aber nichts am atemberaubenden oder rasenden Charakter dieses Buches ändert.

Vikram Chandras Riesenroman über
den Gangsterboss und "Gott von Bombay" spaltet die Kritik in zwei Lager. Ein randvolles Buchpaket, das laut FR vom Hindu-Movie über den Gesellschaftsroman bis hin zur klassischen Detektivgeschichte alles mögliche enthält, und doch von Chandra stringent zusammengehalten wird. Ilja Trojanow widerspricht in der NZZ: Zu verworren ist ihm die Geschichte, ein Gefühl der Übersättigung stelle sich ein, und die Sprache kommt ihm an einigen Stellen wie eine Kreuzung zwischen einem Thriller von Robert Ludlum und einer Presseerklärung von George Bush vor.

Mit seinen Einzelimpressionen aus Bombay gelingt es Altaf Tyrewala in
"Kein Gott in Sicht" tatsächlich, eine Art Kollektivbewusstsein der Stadt abzubilden, schreibt die FR, die hier eine kranke Atmosphäre verspürt. Meisterhaft dirigiere Tyrewala dabei seinen Chor aus über vierzig Stimmen, die den fantastischen Slum auf dem Dach des Wolkenkratzers hoch über der Metropole bevölkern. Die Zeit sieht selbst im kleinsten Detail das große Ganze aufscheinen. Die kosmopolitsche NZZ fühlt sich stilistisch allerdings manchmal an die hektischen Clips von MTV-India erinnert (gibt's das im Schweizer Kabelnetz?).

Kiran Nagarkar hat sieben Jahre lang an "Gottes kleiner Krieger" gearbeitet. Zia, der alle religiösen und politischen Fanatismen ausprobiert, deren er habhaft werden kann, war ihm zwischendurch einfach zu anstrengend. Die ob so vieler Extreme nach Luft ringende SZ glaubt, dass Bombay und Indien mit diesem Chaos aber ganz gut repräsentiert werden. Die FAZ wählt für das opulente und bilderreiche Erzählen Nagarkars das schöne Wort
"überbordend", die Zeit hält "überschäumend" für treffender.

Gegen Bigotterie, übertriebene Frömmigkeit und Heuchelei des hinduistischen Alltags anzuschreiben, ist das erklärte Ziel von Khushwant Singh. Er tut das in "Paradies" mit klassischen Short Stories, denen die NZZ neben einer beträchtlichen Situationskomik auch eine genaue Beobachtung attestiert. Und die fröhliche Idee von Sex als politisch-religiöses Entkrampfungsmittel ist bei Schweizer Rezensenten ein Renner.

Als solide sachliche Grundlage empfiehlt sich Katharina und Sudhir Kakars Band über "Die Inder" an sich. Für die taz ist das Porträt der indischen Gesellschaft ganz klar das deutschsprachige Standardwerk zum Subkontinent. Gut geschrieben ist es dazu auch noch, lobt die NZZ, die allerdings den Versuch, eine indische Essenz herauszudestillieren, unnötig findet. Die FR vermisst in der auf die Kultur konzentrierten Betrachtung die wirtschaftlichen und sozialen Aspekte.

Den Altmeister mit ruhiger Hand erkennen die Kritiker in Amitav Goshs feinfühligen Essays und kunstvollen Reisereportagen in der neuen Sammlung "Zeiten des Glücks im Unglück" Unterhaltsam ist nach Meinung der Rezensenten Shashi Taroors Satire auf die indische Traumfabrik von "Bollywood" Wer die Filme mag, wird auch dem Buch einiges abgewinnen können. Und die Zeit begrüßt einen lange vermissten Freund: Siebzig Jahre nach dem indischen Original Premtschands Roman "Godan" nun auf Deutsch erschienen. Sehr zu empfehlen sind außerdem Alka Saraogis Roman "Umweg nach Kalkutta" über einen 72-jährigen Geschäftsmann, der nach einem Schlag auf den Kopf durch die Metropole streift, und sich an den Unabhängigkeitskampf erinnert sowie Attia Hosains Roman "Licht auf zerborstenen Säulen" der die Geschichte der muslimischen Inderin Laila erzählt



Erinnerungen


Vielleicht das Buch der Saison: Wie Imre Kertesz in "Dossier K." mit einer hartnäckigen Selbstbefragung zum tiefernsten Kern der Existenz vordringt, ringt allen Kritikern Bewunderung ab. Die Ermittlungen in eigener Sache punkten dabei vor allem durch ihre scharfe Logik (taz) und unerbittliche Klugheit (FR). Für die NZZ das gelungene Gegenbeispiel zu Günter Grass, für die Zeit besser als Joachim Fests Erinnerungen. Neben Kertesz' ungläubiger, untriumphaler und unkostümierter Sprache erscheinen ihr die Konkurrenten nur mehr wie aufgeputzte Jubiläumsschriften. Die FR muss an die Dialoge Platons denken und bewundert im Übrigen Kertesz' Mut, sich mit Adorno anzulegen.

Über dieses Buch, Günter Grass und dessen Bekenntnis, als Jugendlicher Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein, haben die Feuilletons sich den Mund fusselig diskutiert. Überraschenderweise empfahlen die Kritiker den Lesern anschließend, die Debatte einfach nicht zu beachten und das Buch "Beim Häuten der Zwiebel" für sich sprechen zu lassen. Von meisterlich (FAZ, Zeit) bis ästhetisch penetrant (SZ) reichen die Verdikte. Sicher ist nur, dass es einiges zu finden gibt in diesem Buch. Und dass es ein gewaltiger Verkaufsschlager ist.

Joachim Fests Jugenderinnerungen "Ich nicht" rufen (noch ungetrübt von der Aufregung um die aus der aktuellen Auflage schon getilgte Habermas'sche Schluck-Passage) allseits Respekt, Hochachtung und ehrliche Bewunderung hervor: vor Fest selbst und dem genauesten Buch, das je über die NS-Zeit geschrieben wurde, wie die FR vermerkt. Die Zeit hat bei der Lektüre gelernt, wie ein katholisch-preußisch-republikanisch-bildungsbürgerliches Mikromilieu immun gegen totalitäre Versuchungen machen kann. Es war, wie die SZ beobachtet, vor allem der Vater, der widerstanden hat. Ihn schildere Fest ebenso schön schlackenlos, gläsern und warm wie den Rest seiner Familie.

Die amerikanische Journalistin und Schriftstellerin Joan Didion hat innerhalb eines Jahres erst ihren Mann, den Autor John Dunne, und kurz darauf ihre Tochter verloren. In ihren Aufzeichnungen "Das Jahr magischen Denkens" versucht Didion, das Unfassbare fassbar zu machen: Tod, Liebe, Trauer. Die Rezensenten hat das Buch tief berührt. In diesen unsentimentalen und "taghellen" Erinnerungen habe Didion Schmerz und Leid "genau und großartig" vermessen, lobt die FR. Die FAZ findet das Buch magisch, scharfsinnig und witzig. Der taz schließlich hat Didion "luzide wie immer und persönlich wie nie" vor Augen geführt, was für ein Skandal der Tod ist.


Lyrik

Für den Dichter und FAZ-Rezensenten Harald Hartung steht fest: Emily Dickinson ist Amerikas größte Dichterin. Nein, ruft Heinz Schlaffer in der SZ. Sie ist ein großer Dichter, nicht bloß eine große Dichterin. Mit ihr scheint das Dichten überhaupt erst begonnen zu haben, so der hingerissene Rezensent. Gleich zwei Neuerscheinungen sind der Dichterin gewidmet, die nie ihr väterliches Haus in Amherst, Massachusetts, verlassen hatte: Briefe und Gedichte in einer neuen Übersetzung von Gunhild Kübler, die Hartung weniger eigenwillig als Paul Celan zu Werke gehen sieht, dafür beherzt, geschmeidig und triftig. Und weil Dickinson nicht nur eine große Dichterin war, sondern auch eine "große Liebende", kann er ihre sehr lyrischen Briefe "Wilde Nächte" ebenso zur Leküre empfehlen: "Diese Poesie ist erotisch und metaphysisch zugleich."

Zwei Wochen, bevor ihm der Büchner-Preis verliehen werden sollte, ist der rumäniendeutsche Dichter Oskar Pastior gestorben. Der gerade vorgelegte erste Band der Werkausgabe "...sage, du habest es rauschen gehört" enthält frühe Gedichte und Texte. Der SZ eröffnet er einen ganz neuen Pastior: einen "hochbegabten Lied-Dichter", wehmütig und romantisch, dessen ingeniöser Sprachgeist schon erkennbar sei. Nur die Anbiederung an das sozialistische Regime Rumäniens ist der SZ peinlich. Der FAZ sind dagegen defintiv die späteren Gedichte des "formstrengen, übermütigen und sanften Poeten" Pastior lieber.


Osteuropäische Autoren

Mit ihrem skurrilen Titel "Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch" hat Marina Lewycka den Zeitungen große Freude bereitet. 59 Jahre ist die ukrainisch-britische Debütantin und legt eine Frische und Leichtigkeit an den Tag, dass es den Rezensenten ganz orange ums Herz wurde. Vom Traktorsitz aus erzählt Lewycka nicht nur die Liebesgeschichte zwischen einem englischen Witwer und einem ukrainischen Flittchen, sondern auch die Geschichte von Krieg, Vertreibung und osteuropäischer Agrikultur, wie die FAZ frohlockt, die das Buch für einen neuen Höhepunkt in der Tradition der Einwandererromane hält. Die NZZ bewundert Lewickas unerschrockenen Einsatz verschrobener Charaktere, absurder Komik und trickreicher Klischees.

Eine deftige Handlung und grobe Gefühle hat die taz mit Daniel Odijas Roman "Das Sägewerk" genossen, der die Geschichte eines skrupellosen Provinzunternehmers erzählt, der am Ende an noch abgefeimteren Geschäftsleuten scheitert. Dazu gesellen sich eine Reihe verarmter und verrohter Wendeverlierer, die ihr ebenso trostloses Provinzleben im Nordosten Polens fristen. Als Studie über das Böse und das Gegenwartspolen in einem hat die taz den Roman gelesen, der sie an Andrzej Stasiuk erinnerte, jedoch keinerlei Nostalgie aufkommen lasse. Die NZZ erlebte Tristesse und Düsternis vor "magisch leuchtenden Landschaftsbildern".

Nicht ganz so einhellig aufgenommen wurde Sasa Stanisics Debütroman über eine Kindheit im Bosnien des Bürgerkriegs "Wie der Soldat das Grammofon repariert" Begeisterungsstürme löst er mit seiner "wilden, ungestümen und poetischen" Geschichte bei der taz aus. Ebenso bei NZZ und FR, die sich sogar an Grimmelshausen erinnert fühlt. Die FAZ attestiert Stanisic Begabung, Fabulierlust und die Fähigkeit, atemberaubende Szenen zu schreiben. Die Zeit konnte mit dem Buch gar nichts anfangen. Sie sieht darin vor allem "heiter-pittoreske, balkanische Urigkeit" und ein "fremdenverkehrsamtliches Bosnienbild". ()


Deutschsprachige Autoren

Ganze elf Jahre hat der schon als langsamster Schriftsteller der Welt titulierte Österreicher Christoph Ransmayr an "Der fliegende Berg" geschrieben. Die als Langzeilengedicht im Flattersatz verfasste Geschichte von zwei bergsteigenden Brüdern treibt die Rezensenten hart an die Transzendenzgrenze. Die NZZ zeigt sich berückt von der Intensität der Erzählung und lobt die stupenden Qualitäten des Reiseschriftstellers Ransmayr. Während die Zeit sich immer noch auf der sicheren Seite des Kitsches entlangbalancieren sieht und die tödliche Schönheit der schwarzen Himmel so eindrücklich wie nie genießt, ist der SZ dieses durchaus seltene, kostbare Buch unheimlich: Wird hier Erhabenheit nur zelebriert?

Einhellige Zustimmung erntet Botho Strauß für die kurzen Prosastücke in "Mikado", was deshalb bemerkenswert ist, weil sein Verhältnis zum Kulturbetrieb nicht immer spannungsfrei war. Die taz ist froh, dass Strauß seine Verachtung der Gegenwart beiseite lässt, um leicht und vielfältig drauflos zu schreiben. Es geht um das Verhuschen und Verblassen des Subjekts, verrät die FR, der die uneitle Anmutung der Geschichten gefällt. Die Zeit mag Strauß' Faible fürs Inkompatible.

Sehr gelobt wurde auch Annette Pehnt für ihren Roman "Haus der Schildkröten" der von zwei Menschen erzählt, die ihre Eltern der Trostlosigkeit des Altersheim überlassen und in der Tristesse der eigenen Einsamkeit zurückbleiben. Die NZZ bescheinigt der Autorin einen "feinen Blick für die Abgründe der Liebe". Die taz empfiehlt dieses Buch als "deprimierenden Roman der leisesten Töne". Ein ganz anderes Buch über das "Älter werden" hat Silvia Bovenschen verfasst. Sie nähert sich dem Thema mit angenehmer Gelassenheit, soziologischem Rüstzeug und luzider Beobachtungsgabe, bemerkt die Kritik beeindruckt. "Schmerzlich schön", resümiert die SZ.


USA


"Das Alter ist kein Kampf, das Alter ist ein Massaker." Das unterschreibt die ebenso bewegte wie verstörte Zeit nach der Lektüre dieses erbarmungslosen Romans sofort. Ein jüdischer "Jedermann" sinniert über Krankheit und Tod, das hört sich zunächst anstrengend an. Aber zum Glück ist es Philip Roth, der da mit hintersinnig großen Sätzen die Sinnlosigkeit des Alterns beschreibt, frohlockt die taz. So gut, so unnachahmlich trocken wie in diesem 27. Buch war Roth noch nie, versichert die FR. Und die entdeckt beim großen Erotomanen Roth nun eine ungeheure Zärtlichkeit für das Leben an sich.


Literatur / Sachbuch und Politisches Buch