Bücher der Saison

Bücher der Saison - Essays, Reportagen, Neuübersetzungen

11.11.2012.
Romane / Lyrik, Comic, Hörbuch / Essays, Reportagen, Neuübersetzungen / Sachbuch, politisches Buch

Essay

Der im Jahr 2003 allzu jung verstorbene Daniel Arasse ist nicht so berühmt wie manche andere französische Autoren seiner Generation, aber er war einer der ausgewiesensten Kunsthistoriker Frankreichs und Analytiker historischer Phänomene - unvergessen ist etwa sein Buch über die Guillotine (auf Deutsch nur noch antiquarisch), an der er die dunkleren Aspekte der Französischen Revolution entfaltete. Der vorliegende Band, "Bildnisse des Teufels" der laut Christof Fordere in der taz den "problematischen Wechsel von einer Vermenschlichung des Teufels zu einer Verteufelung des Menschen in der Renaissance" thematisiert, gehört zu den am besten besprochenen Essays der Saison. Er zeichnet sich durch seinen Assoziationsreichtum aus, notiert Kia Vahland in der SZ, die ebenso wie Andreas Platthaus in der FAZ die Präzision von Arasses Blick auf den Teufel bewundert.

Berühmt wurde Hans Wollschläger als Übersetzer des "Ulysses", aber er war auch Essayist und Literarhistoriker. Seine "Reden gegen ein Monstrum" möchte man heute gern wieder lesen: Mit dem Monstrum sind die Kirchen gemeint. Religionskritik ist außer Mode geraten, im Zeichen der Toleranz soll man die bizarrsten Lehren dulden - schon drängen der Kreationismus an die Schulen und die Homöopathie an Universitäten. Pastorensohn Wollschläger lieferte laut Friedrich Wilhelm Graf - immerhin einer der bekanntesten Theologen Deutschlands! - schon in den siebziger Jahren das viel zu selten verabreichte Gegengift.

Andere interessante Essaybände der Saison: Yu Huas "China in zehn Wörtern" - in China verboten, denn der Autor vergleicht den Weg Chinas zum Kapitalismus ohne Demokratie mit der Kulturrevolution. Hans Ulrich Recks Hörporträt (2 CDs) über "Pier Paolo Pasolini" zwar eigentlich noch eine Frühjahrsproduktion, aber erst im September besprochen. Peter Rühmkorfs Texte über Kollegen mit dem Titel "In meinen Kopf passen viele Widersprüche" in der SZ von Willi Winkler, der sich da auskennt, für ihre Boshaftigkeit gerühmt. Und schließlich der kleine Band "Der feiste Doktor" der Historikerin Lyndal Roper über Luther und seinen Leib. Denn schließlich wird bald 500 Jahre Reformation gefeiert.


Reportage

Es ist ein bisschen bizarr, der deutschen Journalistenschaft bei der Bewunderung für John Jeremiah Sullivan zuzusehen, der in "Pulphead" etwas macht, was sie auch machen könnten - und doch nicht hinkriegen: Sich auf die Spur der Realität zu begeben, keine Angst zu haben, "Ich" zu sagen, nicht immer schon die Meinung parat zu haben, bevor man mit Schreiben anfängt, sich Zeit zu nehmen, langen Texte wagen, und so weiter. Seit eh und je bewundern deutsche Journalisten amerikanische Journalisten und versagen am Vorbild. Dabei sind Reportagen im Moment vielleicht das beste aller Genres: interessanter als bloße Fiktion in einer Realität, die sich rasend verändert, das beste Mittel, um Krisen und Revolutionen, schreiberisch zu reflektieren. Und das Mittel, in dem Journalisten am ehesten ihre Existenzbereichtigung deutlich machen können. Sullivan, da waren sich die Kritiker in Zeit, taz, SZ und FAZ einig, ist mit seinen Reportagen über Disneyland und Michael Jackson, Guns n" Roses und Reality-Shows, der Mann der Stunde.

Die New-Yorker-Redakteurin Katherine Boo, die für eine Reportage (Teil 1 und Teil 2) über das amerikanische Sozialsystem einen Pulitzerpreis gewann, hat für ihr Buch "Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben" drei Jahre in Mumbai verbracht, um den Lebensgeschichten der Einwohner eines Slums in der Nähe des Flughafens der Stadt auf die Spur zu kommen. Zwei Rezensenten berichten tief beeindruckt: Bernard Imhasly lobt in der NZZ die Suggestivkraft von Boos Beschreibungen sowie die hautnahe Gegenwart der sprechenden Figuren. Anders als die meisten anderen Reporter verzichtet Boo darauf, die eigenen Person in die Erzählung einzugliedern. Darum erinnern ihre Reportagen offenbar teilweise an Erzählweisen eines Romans. In der taz schildert Dirk Knipphals fasziniert, wie es Boo gelingt, gerade den detailliertesten Schilderungen des Alltags in dem Slum die Echos der Globalisierung abzulauschen. Auf Englisch kann man Boos Bericht aus Mumbai in der New York Review of Books lesen, hier ein Interview mit der Autorin zum Buch in Guernica und hier Martha Nussbaums zwiespältige Besprechung im Times Literary Supplement.


Klassiker und Neuübersetzungen

Eine Satire auf die Sowjetgesellschaft? Als Michail Bulgakows Roman "Meister und Margarita" 1966 ein Vierteljahrhundert nach seiner Fertigstellung erstmals als Fortsetzungsroman in der Literaturzeitschrift Moskwa veröffentlicht wurde, konnte das nur in zensierter Form geschehen. Dabei ist dieser Roman weniger eine Beschreibung des stalinschen Terrors - der den Roman allerdings grundiert - als eine Geschichte über die aberwitzige Bürokratisierung des sowjetischen Alltags sowie auf die "Privilegien- und Günstlingswirtschaft des gleichermaßen überwachten wie gehätschelten Kulturbetriebs, der jeden wirklichen Künstler und Autor ausschließt", wie Wolfgang Schneider im Deutschlandradio Kultur anmerkte. Die Kritiker bedachten die neue Übersetzung dieses Klassikers durch den deutsch-russischen Lyriker Alexander Nitzberg mit höchstem Lob: In der FAZ bewunderte Kerstin Holm, die Kühnheit, mit der Nitzberg den Text für das Deutsche aufgebrochen und "zum Funkeln" gebracht hat. In der SZ pries Friedrich Wilhelm Graf die "sprachschöpferischer Leistung" Nitzbergs. Außerdem neu übersetzt: Gustave Flauberts Ehebruchsroman "Madame Bovary" durch Elisabeth Edl. Thomas Steinfeld zeigte sich in der SZ enttäuscht, er rügte an Einzelbeispielen unschöne, aber auch fehlerhafte Formulierungen. Damit stand er allerdings allein: In der FAZ sah Nikolas Bender den Roman erstmals überzeugend ins Deutsche gebracht. Und auch NZZ-Rezensent Edi Zollinger findet die Übersetzung glänzend: Wie Edl etwa die "casquette" mitsamt der obszönen Anspielung ins Deutsche rettet, das mache Flauberts Sprachwitz alle Ehre!

Mit viel Begeisterung wurde die Entdeckung von Gaito Gasdanows 1947 erschienenem Roman "Das Phantom des Alexander Wolf" gefeiert. Er spielt in der russischen Emigrantenszene in Paris nach dem Bürgerkrieg, es geht um Liebe, Tod, Zufall und Schuld - alles brillant unter einen Hut gebracht, schwört Jens Bisky in der SZ. Die Rezensenten von NZZ, Zeit, FAZ und FR stimmen ein: elegant und tiefgründig sei die Geschichte und die Übersetzung von Rosemarie Tietze ein Genuss. Hingerissen folgt FR-Rezensent Daniel Jurjew in Sergej Prokofjews Erzählband "Der wandernde Turm" einem wanderlustigen Eiffelturm, einem prämienzahlenden Satan und einem plaudernden Fliegenpilz. Es sind fantasievolle, witzige und zum Glück nicht durcherklärte Geschichten, notiert der Rezensent, in denen Traum und Realität nicht zu trennen sind. Typischer Musikerhumor, erklärt Kai Luehrs-Kaiser in der Welt, aber in der glorreichen Tradition der russischen Groteske: "Diese kleinen Orangen haben noch mehr Saft."

"Das Büro. Direktor Beerta" ist der erste von sieben Bänden eines Großbüro-Romans, den der niederländische autor J. J. Voskuil zwischen 1996 und 2000 veröffentlichte. In den Niederlanden ist die Reihe ein Bestseller, es gibt Fanclubs und Reiseführer dazu, erzählt Dirk Schümer in der FAZ. Ihn hat das Berufsleben des 31-jährigen Maarten Koning, als wissenschaftlicher Beamter in einem Volkskundemuseum angestellt, durch die dem Text eingeschriebene kafkaeske Lebensweisheit beeindruckt. Im Deutschlandradio amüsierte sich Peter Urban-Halle über die "spannend, witzig und entlarvend" dargestellten gruppendynamischen Prozesse, besonders zwischen Maarten, der aufmüpfig, aber "krankhaft unsicher" sei, seinem wendigen Chef Beerta und seiner Ehefrau Nicolien, die es total spießig findet, dass Koning überhaupt arbeitet. In der Welt fühlte Elmar Krekeler, sich seiner eigenen Angestelltenexistenz sehr bewusst, einen "seltsamen Sog" ausgehen von den 900 Seiten. Bei Zeit online wurde es David Hugendick irgendwann zu viel: "Lähmungszauber", attestierte er "dieser monumentalen Zeichenballung".

Andre Pieyre de Mandiargues" Roman "Der Rand" wurde nach seinem Erscheinen 1967 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet. Es geht um einen französischen Geschäftsreisenden, der in Barcelona die Nachricht vom Selbstmord seiner Frau erhält und sich in einer Sauftour mit "fettleibigen Nutten" und homosexuellen Matrosen verliert. Bewundernswert gelingt es dem Autor, die Halluzinationen seines melancholischen Helden mit dem realen Raum Barcelonas zu verbinden, lobt in der NZZ Peter Urban-Halle, der Mandiargue ein "sexualisiertes Verhältnis zum Denken" attestiert. Wer wissen möchte, wie ein listiger Autor den Surrealismus André Bretons literarisch mit Batailles gewalttätiger Erotik verbindet, wird hier fündig, versichert Reiner Niehoff in einer lesenswerten Kritik auf literaturkritik.de.

Außerdem sehr gut besprochen: "Bostjans Flug" ein Roman des Dichters Florjan Lipuš über eine slowenische Kindheit und Jugend in Kärnten. Peter Handke schrieb das Nachwort, Matthias Weichelt empfahl das Buch in der FAZ rundheraus: Lipuš erzähle von Arbeit, Alltag und Schweigen in einem Kärtner Dorf. In dieser Ödnis verliebt sich der junge Boštjan in ein Mädchen, verliert sich an sie und kann nicht länger stumm bleiben. Aber es ist auch die Zeit, in der seine Mutter im Lager Ravensbrück von den Nazis ermordet wird, erzählt ein sehr beeindruckter Uwe Stolzmann im Deutschlandradio. Der einstmalige Sozialist Ivan Klima erzählt in dem 1963 erstmals im ungarischen Original veröffentlichten Roman "Stunde der Stille" resigniert und vieldeutig von den Jahren des sozialistischen Aufbaus, als Idealisten und Opportunisten auch die abgeschiedenen, ländlichen Gebiete gegen den Widerstand der Bewohner zum Fortschritt zwingen wollten, schreibt bewundernd SZ-Kritiker Karl-Markus Gauß. Bauernschicksale und Zweiter Weltkrieg, Mitläufertum, Verrat - das alles ist hochmodern erzählt, versichert Alena Wagnerova in der NZZ.

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