06.04.2020. Eine Geschichte der Idiotie, die Wurzeln der Welt, Roms Untergang und die Schule der Rebellen. Die Sachbücher des Frühjahrs.
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politische BücherSprache und KritikDie Verehrung für
Karl Kraus hat in den vergangenen Jahren arg nachgelassen. Während seine Sprachkritik einst für ihre Strenge und Präzision bewundert wurde, steht sie heute mehr und mehr in den Ruch übellauniger Besserwisserei.
Jens Malte Fischers Biografie
"Der Widersprecher" (
Bestellen) kann
Daniel Kehlmann zumindest wieder mit dem
brillanten Polemiker versöhnen, der Kraus ja auch war, wie Kehlmann in der
Zeit schreibt. In einem Doppel-Interview mit Kehlmann vor fünf Jahren in der
Zeit versicherte der Kraus-Anhänger
Jonathan Franzen allerdings, dass Kraus nur "
Zombie-Journalisten" wie seelenlose Untote behandelte, allen anderen Menschen begegnete er voller Mitgefühl!
FAZ-Kritiker Helmut Mayer hätte sich von Fischer mehr Bündigkeit und Kunstanspruch gewünscht. In der
SZ kann Lothar Müller dem Biografen nicht in seiner beinahe bedingungslosen Sympathie für sein Sujet folgen, schließlich war der Autor des pazifistischen Weltkriegsdramas "Die letzten Tage der Menschheit" auch
Heine-Hasser und Dollfuß-Verteidiger.
Charles King zeichnet in der
"Schule der Rebellen" (
Bestellen) nach, wie der Kulturanthropologe Franz Boas und seine bedeutenden Schülerinnen
Margaret Mead,
Ruth Benedict und
Zora Neale Hurston in den zwanziger Jahren unser Denken über das Menschsein revolutionierten: An die Stelle von Evolutionismus, Anthropometrie und wissenschaftlichen Rassismus setzten sie die
moderne Anthropologie. Auch wenn sich der von ihnen in die Welt gebrachte "
kulturelle Realitivismus" scharfer Kritik ausgesetzt sah, wird ihr Erbe nicht mehr aus der Welt verschwinden, meint Thomas Weber in der
FAZ. In
New York Times und
Guardian wurde das Buch hymnisch besprochen. Denn Boas und Mead lehrten die westliche Welt,
schreibt etwa Kathryn Hughes, "dass die Samoer nicht ein Haufen
pittoresker Primitiver waren, deren etwas seltsame Gebräuche eine zeitlose Lebensform darstellen. Sie waren gebildet und selbstkritisch und hatten auf ihre Art die Dinge entwickelt, die für sie gut waren."
Kunst und RaubSehr respektvoll wurde
Julia Voss' Biografie der schwedischen Malerin
Hilma af Klint besprochen. Kein Wunder: Voss war stellvertretende
FAZ-Feuilletonschefin und af Klint nicht nur eine
Pionierin der Abstraktion, sondern auch eine "homosexuelle, genderfluide, vegetarisch" lebende Frau. Auf einhellige Gegenliebe stößt Voss mit ihrem Buch
"Die Menschheit in Erstaunen versetzen" (
Bestellen) indes nicht. Für Kia Vahland in der
SZ und Christiane Meixner in der
taz steht Voss' Leistung im Vordergrund, durch
enorme Recherche ein umfassendes Bild der Malerin und ihres Spritismus zu ermöglichen. In der
Zeit stört sich der Kunsthistoriker Jörg Scheller allerdings nicht nur an den vielen Superlativen und einer ins Romanhafte abgleitenden Wissenschaftsprosa, sondern auch an der mangelnden Distanz, die Voss gegenüber
af Klints Geisterglaube an den Tag legt. Auch in der
FAZ fand der Kunsthistoriker
Karlheinz Lüdeking die Begegnung mit Geistern irritierend.
So gutgelaunt wie nach
Hubertus Butins "Kunstfälschung" (
Bestellen) haben die KritikerInnen selten über
geraubte Kunst geschrieben. Dabei gehört der Kunsthistoriker keineswegs zu jenen Leichtfertigen, die
Kunstfälscher als wahre Künstler oder moderne Robin Hoods glorifizieren, die es von den reichen nähmen. Im Gegenteil, versichert etwa Jens Bisky in der
SZ: Bei Butin lerne man, dass so nur argumentiere, wer auch
Heiratsschwindler für Kritiker des Patriarchats halte. In der
FAZ bewundert Rose-Maria Gropp, wie scharf Butin den
Kunsthandel analysiert, wie genau er Sammlern, Galeristen, Spekulanten und Medien auf die Finger schaut und sich auch nicht scheut, Namen zu nennen. Im
DlfKultur preist Eva Hepper das Buch als neues
Standardwerk und hält fest: Butins Lösungsvorschläge muss man gelesen haben. Ein zweites Buch zum Thema haben die Kunstkritiker
Stefan Koldehoff und
Tobias Timm vorgelegt. In der
SZ empfiehlt Bisky
"Kunst und Verbrechen" (
Bestellen) als ausgesprochen lehrreiche
Geschichte des Kunstraubs, die das globale Geschäft und seine Profiteure bis in die
schattigsten Freihandelsdepots ausleuchte.
Klassik und Pop Kaum ein Kulturjournalist wurde in den zehner Jahren so verehrt wie der Brite
Mark Fisher, der als Blogger
k-punk den Ton im kritischen popkulturellen Diskurs vorgab, bis er sich 2017 im Alter von 48 Jahren das Leben nahm. Der
gleichnamige Band (
Bestellen) versammelt Texte zu Musik, Film und Politik. In der
SZ liest Tobias Obermeier noch einmal gern nach, wie Fisher die
hedonistische Leere des Rappers Drake analysiert, das Punk-Moment in den "Tributen von Panem" oder das Reaktionäre der "Batman"-Filme. In der
Zeit erkennt Martin Eimermacher einen Zusammenhang von der
Alternativlosigkeit des Kapitalismus und den
Depressionen, unter denen Fisher litt. Die
taz hat auch sehr gern
Billy Braggs Weckruf
"Die drei Dimensionen der Freiheit" (
Bestellen) vernommen, in dem der Barde des
Good Old England mehr Liberalität, Gleichheit und Verantwortlichkeit einfordert.
Als Autorin, Radio-Moderatorin und Violinistin ist
Clemency Burton-Hill ein wahres Multitalent. In ihrem populär gehaltenen Buch
"Ein Jahr voller Wunder" (
Bestellen) stellt sie
klassische Musik in Tagesportionen vor, 366 Stücke, denn 2020 ist ja ein Schaltjahr, mit kurzen Erklärungen zur Musik und biografischen Skizzen der KomponistInnen. In der
taz empfiehlt Tania Martini wärmstens dieses Kompendium, auch wenn sie
Alban Bergs Violinkonzert vermisst. Der
Guardian lobt das Buch als unterhaltsam und lehrreich zugleich. Der Band
"Über Musik" (
Bestellen) versammelt Texte des Dirigenten
Nikolaus Harnoncourt, der vor vier Jahren starb, aber noch immer die historische Aufführungspraxis bestimmt. In der
FAZ lässt sich Jan Brachmann von Harnoncourts
Wucht des Denkens mitreißen, das bei Alter Musik, Cembaloklang oder Mehrstimmigkeit aber auch rigoros werden konnte. Lobende Worte findet Gerald Felber in der
FAZ auch für
Hans-Klaus Jungheinrichs Buch
"Bedřich Smetana und seine Zeit" (
Bestellen), das er jedoch weniger als Biografie des tschechischen Nationalkomponisten liest denn als
Liebeserklärung an die tschechische Romantik.
Meister-, Kreuz- und QuerdenkerBettina Hitzer erhielt für ihre Emotionsgeschichte
"Krebs fühlen" (
Bestellen) den
Preis der Leiziper Buchmesse. Sie erzählt darin nichts über medizinische Forschung oder Krankheitsbilder, sondern erkundet die Gefühle, die bei dieser Krankheit hochkochen, unterdrückt oder eben besonders geschürt werden. Im
DlfKultur lobt Susanne Billig auch die hervorragende Rechercheleistung. Dass die Autorin dafür nicht nur Medizinkolumnen und bundesdeutsche Schriften heranzieht, sondern auch DDR-Autorinnen wie
Christa Wolf und Maxie Wander, rechnet ihr etwa
SZ-Kritikerin Birte Förster hoch an. In der
FAZ liest Joachim Müller-Jung mit großem Erstaunen, wie bei Betroffenen und Angehörigen
Gefühle in der Krebstherapie gelenkt wurden und heute noch werden.
Quer zu üblichen Denkrichtungen steht auch der in Paris lehrende italienische Philosoph
Emanuele Coccia. Vor zwei Jahren machte er mit seinem Werk
"Die Wurzeln der Welt" (
Bestellen) Furore, in dem er anhob, die
Welt von den Pflanzen her zu denken, nicht nur vom Menschen oder vom Tier. In seinem Buch
"Sinnenleben" (
Bestellen), das im französischen Original bereits 2010 erschien und ihm von
Le Monde den Ruf des "philosophischen Meteoriten"
eintrug, macht er sich dafür stark, die
Sinne zurück in die Philosophie zu holen, die
Descartes mit seinem Rationalismus verbannt hatte. In der
Zeit schreibt Maja Becker sehr instruktiv über Coccias Denken - und erfreut, dass sich jemand der
Beschimpfung des Sinnlichen entegegenstellt. Hingewiesen sei auch auf den Band
"Hannah Arendt und das zwanzigste Jahrhundert" (
Bestellen), der als Begleitbuch zur
Hannah-Arendt-Ausstellung im DHM Berlin erschien und von dessen Essays "nicht einer langweilig" sei, wie etwa Jens Bisky in der
SZ versichert.
So eine
originelle Geistesgeschichte haben die Kritiker lange nicht annonciert: Der Berliner Pianist und Kulturwissenschaftler
Zoran Terzic schreibt mit
"Idiocracy" (
Bestellen) die
Geschichte der Idiotie, und die Rezensenten können ihr auf einmal ganz neue Facetten abgewinnen:
FAZ-Kritiker Cornelius Dieckmann verdankt Terzic etwa die Einsicht dass Idiotie wenig mit Nichtintelligenz oder Bosheit zu tun hat, aber viel mit eigensinniger Unbefangenheit. Abgründiges halte das Buch aber auch bereit, unter anderem das demokratische Dilemma, dass heute jeder Idiot Präsident einer Weltmacht werden könne. In der
taz jubelt Jakob Hayner über dieses neue "Standardwerk", besonders gut gefällt ihm die These, dass "die
Idotie die anarchische und die
Dummheit die rationale Seite der Macht" darstelle. Beim
Stichwort Eigensinn muss
FAZ-Kritiker Hannes Hintermeier auch an den britischen Oberkatholiken
G. K. Chesterton denken, der in seiner Streitschrift
"Der Umriss der Vernunft" (
Bestellen) einen Ausweg aus Kapitalismus und Sozialismus suchte und in ihm
Distributismus fand. In der
SZ konnte Stephan Speicher die Schrift für ihre klassische Eleganz schätzen, aber er möchte lieber nicht mit drei Morgen Land und einer Kuh abgespeist werden.
Schöne fremde LebensweltenDer Kulturgeograf
Werner Bätzing hat mit seinem Buch über
"Die Alpen" (
Bestellen) ein Standardwerk verfasst, das die Bergregion erstmals als Lebens-, Kultur- und Wirtschaftsraum in den Blick nahm. In seinem neuen Buch über
"Das Landleben" (
Bestellen), untersucht Bätzung, wie es eigentlich heute um das Leben auf dem Land bestellt ist: Mit Landlust hat es wenig zu tun, stellt Bätzing fest, dafür viel mit
industrialisierter Landwirtschaft, urbanisierten Agglomerationen, Zwischenstädten und Touristenparks. In der
FAZ findet Sonja Asal das Buch vor allem dann stark, wenn Bätzing der Verklärung die Realität gegenüberstellt. Thomas Steinfeld empfiehlt das Buch in der
SZ als lehrreiche
Kulturgeschichte der Landwirtschaft, auch wenn er nicht mit Bätzings Lösungsvorschlägen einverstanden ist. Statt auf ländliche Identität und Planungsämter würde Steinfeld eher auf Bewegungen wie die "Slow-Food"-Initiative setzen, die Steinfeld seinerseits in seinem
Italien-Porträt (
Bestellen) ebenso in den Blick nimmt wie die Landschaften des
bel paese, ländliche Heiligenkulte oder die
Vorstädte im Mezzigiorno.
Einzelne Pflanzen können nicht wandern, Pflanzenarten aber sehr wohl.
FAZ-Kritiker Ulf von Rauchhaupt weiß zu schätzen, wie sich
Stefano Mancuso nach seinem Erfolgsbuch
"Die Intelligenz der Pflanzen" (
Bestellen) mit
"Die Reise der Pflanzen" (
Bestellen) weiter um die
botanische Volksbildung verdient macht. Aber auch wenn Rauchhaupt versteht, dass man
Pflanzen im Kollektiv denken muss, sind ihm doch die Geschichten am liebsten, die der italienische Botaniker von
individuellen Bäumen erzählt, von der Schirmakazie im Norden Nigers etwa oder der Sitka-Fichte auf Campbell Island. Im
DlfKultur zeigt sich Susanne Billig Mancusos Schreiben völlig ergeben, sie folgt auch gebannt dem
Meersenf bei seiner monatelangen Reise durch den Atlantik.
SZ-Kritikerin Catrin Lorch konnte sich allerdings gar nicht für die Vermenschlichung der Pflanzen erwärmen.
Wer Geschichte machtRoms Untergang wurde nicht von Kaisern oder barbarischen Horden besiegelt, sondern von Klimawandel und Seuchen: Dass
Kyle Harpers "Fatum" (
Bestellen) faustgenau in die gegenwärtige Stimmungslage passt, dürfe man dem Buch auf keinen Fall negativ ankreiden, beteuert Gustav Seibt in der
SZ, der amerikanischen Historiker habe sein Werk lang vor Corona oder Greta verfasst. Wie Harper das Wechselspiel von Natur, Demografie, Politik und Wirtschaft anschaulich macht und damit die
ökologische Bedingtheit von Geschichte, beeindruckt auch
FAZ und
DlfKultur.
Ian Morris ist der Mann für die großen Linien in der Geschichte, für die Big History, und er ist
durch und durch Materialist: Biologie und Geografie sind bei ihm die entscheidenden Kräfte, nicht politische Ideen oder Werte. Mit
"Beute, Ernte, Öl" (
Bestellen) spitzt er seinen Ansatz noch einmal zu, frohlockt
SZ-Rezensent Jens-Christian Rabe, der hierin eine forsche Replik an die Kritiker sieht: Gesellschaften hängen jeweils den Werten an, behauptet Morris, die sie brauchen, um ihre
Energieversorgung zu sichern. Die Jäger und Sammler hingen egalitären Werten an, aber nicht unbedingt Gewaltlosigkeit; bäuerliche Gesellschaften setzten auf Besitz, Erbe und Hierarchie; moderne Gesellschaften wiederum auf Vernetzung und flache Hierarchien. Auch im
DlfKultur liest Volkart Wildermuth das Buch angeregt und fragt sich, auf
welche Werte wir in Zukunft wohl setzen werden.
Bei der Belletristik herrscht im
Geschlechterverhältnis mittlerweile mehr als Gleichstand. Bei
historischen Büchern werden immer noch am liebsten Bücher rezensiert, in denen alte Männer über tote Männer schreiben. Klar, dass
Torsten Körners Politikerinnen-Porträts
"In der Männerrepublik" (
Bestellen) deswegen den Kritikerinnen überlassen wurde. Richtig einig sind sie sich aber nicht über das Buch: "Fabelhaft" findet Dorion Weickmann das Buch in der
SZ, auch wenn sie nur ungläubig lesen konnte, in welch
gehässigem Ton und mit welchen dreisten Sprüchen bis in die achtziger Jahre über Frauen im Parlament hergezogen wurde. Unterhaltsam und informativ findet auch Simone Schmollack in der
taz diese alternative BRD-Geschichte, die Unionspolitikerinnen wie
Ursula Männle und
Elisabeth Schwarzhaupt in Erinnerung ruft. In der
Welt findet Andrea Seibel Körers Ton mitunter zu schwärmerisch und den Gestus zu kopfschüttelnd. Viel besprochen wurde auch
Edgar Wolfrums Buch
"Der Aufsteiger" (
Bestellen), das die deutsche Geschichte seit 1990 pointiert und optimistisch erzähle, aber ohne so recht in die Tiefe zu gehen, wie die Kritiker von
SZ,
FAZ und
Welt nahelegen. Auf
Karl Schlögels "Duft der Imperien" (
Bestellen) haben wir bereits ausführlich im
Bücherbrief vom März hingewiesen ebenso wie auf
Jan Wenzels vielgepriesenes Buch
"Das Jahr 1990 freilegen" (
Bestellen).
Als das Reisen noch geholfen hatAuch vor
Klimanotstand und Corona war das Vielreisen schon eine fragliche Angelegenheit und wird es auch nach der Krise bleiben. Mit ihrem Buch
"Das nächste Mal bleib ich daheim" (
Bestellen) trifft
Claudia Endrich eindeutig einen Nerv.
SZ-Rezensent Stefan Fischer sieht hier aber auch sehr plastisch vor Augen geführt,
wie normiert sich selbst diejenigen bewegen, die den
Lonely Planet nur benutzen, um ausgetretene Pfaden zu vermeiden. Und wie wenig sie oft der Ökonomie des bereisten Landes nutzen. Klassisch, aber mit großer Offenheit und Neugier war
Nadine Pungs auf der arabischen Halbinsel unterwegs. Was sie in ihrem Buch
"Meine Reise ins Übermorgenland" (
Bestellen) aus Jordanien und Kuweit, Saudi-Arabien und Jemen fasziniert und überrascht
SZ-Rezensentin Monika Maier-Albang gleichermaßen.
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