11.04.2011. Literatur ist, wenn es ungemütlich und doch herrlich ist. Den Literaten gelang es in dieser Saison am besten in Erzählungen, an erster Stelle Clemens J. Setz in "Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes". Große Romane sind in dieser Saison Mangelware. Dafür gibt's gute Reportagen, Erinnerungsbücher und viel böse Philosophen.
Die
Romanciers, so scheint es, treten derzeit etwas auf der Stelle. Oder liegt es an den Kritiken? Jedenfalls hat man nach einer Besprechung oft den Eindruck, dieses Buch schon mal gelesen zu haben. Die Stoffe ähneln sich und die Kritiken betonen diese Ähnlichkeit oft noch, statt die Besonderheiten herauszustellen. Anders war es in diesem Jahr bei den
Erzählungen. Hier ließen die Autoren allzu routiniertes Rezensieren nicht zu. Auch einige ausgezeichnete
Reportagebände sind erschienen, die die Welt draußen aufscheinen lassen. Etwas, das bei den politischen Büchern komplett fehlt. Ein aktuelles Buch zu China, zur arabischen Welt, zur Elfenbeinküste, zum Sudan?
Fehlanzeige. Spannendes findet man viel eher in den Abteilungen Erinnerungen - allen voran
Jan Karskis "Bericht an die Welt" - und Geschichte.
ErzählungenDer Österreicher
Clemens J.
Setz wurde für
"Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes" mit dem Leipziger Buchpreis ausgezeichnet. In der
Welt erklärte sich Elmar Krekeler voll einverstanden: Endlich mal einer, der aus der "hübsch verkasteten Literaturwerkstättenliteratur" ausbricht. "
Herrlich ungemütlich" seien diese Geschichten. Die übrigen Rezensenten waren etwa zu gleichen Teilen fasziniert und abgestoßen. Postmoderne, katholischer Surrealismus, Gewaltfantasien - was soll man davon halten? Und dann ist er auch noch
so jung! Iris Radisch ließ in der
Zeit alle Möglichkeiten offen: Das wird entweder
ein ganz Großer oder eine weitere begrabene Hoffnung am Wegesrand der Literaturgeschichte. Lothar Müller
erkennt in der
SZ ein
großes Talent, von dem er sich noch Besseres erhofft. Die
FAZ fühlt sich wie auf einem "Abenteuerspielplatz für Germanisten", muss aber zugeben: Schreiben kann er.
Clemens J. Setz wiederum
empfahl in der
Zeit Tobias Wolffs Erzählband
"Unsere Geschichte beginnt" In diesen Geschichten über die "
Kunst des Lügens" gibt es keine postmodernen Fisimatenten. Dafür haben sie den Vorzug, den Leser nach kürzester Zeit vergessen zu lassen, dass er ein Buch liest. Er
lebt einfach mit, versichert Setz. In der
FAZ lobte Paul Ingendaay den "dirty realism" dieser Geschichten aus der Lebenswelt der amerikanischen Eigenheime und ihre bewundernswerte Formsicherheit. Viel Lob auch für
Peter Stamms "Seerücken" Zehn Geschichten über das
Scheitern, über die kleinen Brüche, die die Niederlage, die Entwurzelung unvermeidbar machen. Für Ekkehard Knörer (
taz) ist Stamm denn auch kein Heimatautor, sondern ein "Autor der
Unmöglichkeit jeder Heimat". In der
SZ bewunderte Christoph Schröder Stamms Kunst der genauen Dosierung, des präzisen Arrangements sowie die Beschreibung der unheimlichen psychischen Tektonik seiner Figuren.
Einen Klassiker, der die japanische Literatur von der Tradition in die Postmoderne führte,
stellt Ludger Lütkehaus in der
NZZ vor.
Akutagawa Ryunosuke, im Westen höchstens bekannt für seine von Akira Kurosawa verfilmte Erzählung "Rashomon", nahm sich 1927 im Alter von 35 Jahren das Leben. Hinterlassen hat er ein Prosawerk, das Autobiografisches, Zeitkritisches und von düsteren Ahnungen durchzogene
schwarze Romantik umfasst.
"Die Fluten des Sumida" bietet nun in einer Auswahl 21 Erzählungen und Prosatexte auf Deutsch. Akutagawa Ryunosuke ist ein faszinierender Autor voller Gegensätze, dem Lütkehaus in seiner ausführlichen Kritik wünscht, dass er hierzulande endlich entdeckt wird. Auch von der
italienischen Literatur hört man nicht mehr viel. Dabei scheint sie immer noch einiges zu bieten zu haben. Für einen scharfen und politischen Blick auf die italienische Gegenwart empfiehlt Jutta Person in der
SZ die Anthologie
"A Casa Nostra" die
18 Erzählungen von teils unbekannten, teils verdienten italienischen Autoren vereint.
ReportagenRoman, Reportage, Geschichtswerk? Von allem etwas ist
Javier Cercas'
"Anatomie eines Augenblicks" über die "Nacht, in der Spaniens Demokratie gerettet wurde". Cercas rekonstruiert den
Putschversuch im spanischen Parlament am 23. Februar 1981: Der Oberstleutnant Antonio Tejero zog die Waffe und nahm die Abgeordneten in Geiselhaft.
Drei Männer, keiner von ihnen seiner Lebensgeschichte nach ein lupenreiner Demokrat, widerstehen ihm: Der scheidende Ministerpräsident Adolfo Suarez, Gustavo Mellado, beide Franquisten, und der Kommunist Santiago Carillo.
Schlicht exzellent erzählt findet das Franziska Augstein in der
SZ. Ein
Meisterwerk, nennt es Paul Ingendaay in der
FAZ. Auch Louisa Reichstetter (
Zeit) ist tief beeindruckt, wie Cercas den Moment herausarbeitet, in dem die politischen Eliten Spaniens sich
endgültig zur Demokratie bekannten. Allerdings hätte sie sich gewünscht, dass Cercas hin und wieder seine
Quellen nennt. Großes Lob geht auch an den Übersetzer Peter Kultzen.
Dave Eggers' erzählt in seiner Reportage
"Zeitoun" die Geschichte des aus Syrien stammenden
Abdulrahman Zeitoun, der im
überfluteten New Orleans völlig unschuldig festgenommen und 24 Tage lang ohne Anklage, ohne Anwalt, ohne Grund weggesperrt wurde. Geradezu
surreal wirkte das Buch in der
SZ auf Alex Rühle in seiner Beschreibung der Katastrophe, die Eggers in großer Stille und
Nüchternheit schildere. Rühle stellt diesen Reportageroman neben Capotes "Kaltblütig" und Mailers "Gnadenlos". Heinrich Wefing hat das Buch für die
Zeit mit angehaltenem Atem gelesen, so diszipliniert, ohne jede wohlfeile Empörung erzähle Eggers von dieser rechtsstaatlichen Katastrophe.
Andrea Böhms Reportage aus dem
Kongo "Gott und die Krokodile" erzählt einmal nicht die üblichen Schauergeschichten aus dem Herzen Afrikas, stellt Michael Bitala in der
SZ mit Erleichterung fest, sondern führt aus, wie Raubtierkapitalismus, Globalisierung und
Rohstoffkriege den Kongo prägen. Auch
FAZ-Rezensent Andreas Eckert ist beeindruckt: Bewundernswert geradezu gelinge es Böhm, zwischen Sympathie für das Land und seine Bewohner, genauer historischer Kenntnis und differenzierter Schilderung der Gegenwart die Balance zu wahren.
Hingewiesen sei schließlich noch auf
Joseph Mitchells großartigen Band
"McSorley's Wonderful Saloon" mit seinen Reportagen aus den Jahren 1938 bis 1955 für den
New Yorker. Eine
echte Entdeckung, verspricht Andrian Kreye in der
SZ. Und
Sybille Bedford erzählt in
"Jagd auf einen Lebemann" über den Prozess gegen den Society-Osteopathen und Porträtmaler Dr.
Stephen Ward. Ward wurde im Zuge des
Profumo-Skandals wegen Zuhälterei angeklagt und nahm sich am Vorabend des letzten Prozesstages das Leben. Bedfords Herkunft - sie war die Tochter des badischen Barons Maximilian von Schoenebeck und der unkonventionellen Kaufmannstochter Elizabeth Bernard - erlaubt ihr einen "neidfreien" und verständnisvollen Blick auf das
Sexleben anderer Leute und auf
Drogen, schreibt Felicitas von Lovenberg in der
FAZ. So werden aus dem Prozessbericht die Schilderung einer "menschlichen Komödie", die tragisch endete.
SerbienSerbien war in diesem Jahr Schwerpunkt der Leipziger Buchmesse. Für einen Überblick empfiehlt es sich die - allerdings nirgends besprochene -
Anthologie "Der Engel und der rote Hund" zu lesen. Die Feuilletons, man muss es leider sagen, waren nicht sehr neugierig auf serbische Literatur. Gerade mal fünf Bücher sind besprochen worden, und fast alle beschäftigen sich mit der Vergangenheit. Den größten Beifall erhielt
Milovan Danojlics Roman
"Mein lieber Petrovic" Er erzählt von dem in die USA emigrierten Schriftsteller und Professor Mihailo Putnik, der nach seiner Pensionierung 1977 in die lange vermisste
alte Heimat reist und davon in Briefen an seinen ebenfalls in den USA lebenden Freund Petrovic berichtet. Putnik, voller Liebe zu Serbien angereist, verzweifelt schnell an dem
Nationalismus und der Passivität seiner Landsleute. In einem Kaffeehaus diskutiert er die Lage mit dem Kommunisten Vito Lukic und dem Nationalisten Vuk Paligoric. In der
NZZ rühmt Ilma Rakusa den Roman als "
rhetorisches Feuerwerk voller Komik, Polemik und Wehmut". Auch
Zeit,
FR und
taz sind voll des Lobs. Hans-Peter Kunisch zeigt sich in der
SZ begeistert, wundert sich aber auch über den
Gesinnungswandel des Autors, der sich 2000 in einem
Interview mit dem französischen Magazin
Regard sur L'Est dem Patriotismus seiner nationalistischen Figur Paligoric anzunähern schien.
Sehr gut besprochen wurden auch
Bora Cosics Erzählband
"Im Ministerium für Mamas Angelegenheiten" dessen Geschichten vom "Olymp des Kleinbürgertums" in den
vierziger Jahren Karl-Markus Gauß (
NZZ) köstlich amüsiert haben,
Dragan Aleksics Erzählband
"Vorvorgestern" mit Geschichten vom einfachen Leben in den
fünfziger Jahren,
Ivo Andrics Klassiker
"Die Brücke über die Drina" der über
drei Jahrhunderte Menschen aller Couleur beobachtet, die über eine steinerne Brücke in Bosnien ziehen, und
David Albaharis Band mit Kurzprosa
"Die Kuh ist ein einsames Tier" : 118 Prosaminiaturen, die alle Register ziehen. "Als Leser steht man am Ende
erleuchtet und ziemlich abgebrannt da", notiert ein ganz und gar hingerissener Andreas Breitenstein in der
NZZ.
Wer sich
ausführlicher über serbische Literatur informieren möchte, dem sei die
Webseite zum Serbien-Schwerpunkt empfohlen. Lesenswert auch die
Überblicke von Jörg Plath und Andreas Breitenstein in der
NZZ (
hier und
hier), Michael Martens
in der FAZ und Doris Akrap
in der taz.
RomaneMichel Houellebecq erzählt in
"Karte und Gebiet" von einem Künstler, Jed Martin, dessen Distanziertheit zum Kunstbetrieb ihn erst recht reüssieren lässt. Er befreundet sich mit einem Schriftsteller, Michel Houellebecq, bei dem das ähnlich lief, wenn auch etwas härter in der Form. Am Ende ist der Schriftsteller tot und der Künstler hat sich wieder so weit vom Betrieb entfernt, dass seine Kunst gewissermaßen nur noch
im Gras erblüht. In Frankreich erhielt Houellebecq für diesen Roman den Prix Goncourt. In Deutschland waren die Reaktionen geteilt: Großes Buch, tiefgründig, thematisiert den
Kunstbetrieb, den
Kapitalismus und die Rolle des Künstlers, meinten Helmut Böttiger in der
SZ und Sandra Kegel in der
FAZ. Iris Radisch konnte es in der
Zeit nicht ernst nehmen: Die Kontrollwut, die Frauenfeindlichkeit, die notorische Bösartigkeit der früheren Romane sind weg, wohl der
Altersmilde geschuldet. Und was bleibt? Houellebecqs "sentimentaler Lustekel an der Welt". In der
taz empfahl Ines Kappert den Lesern gar, "den alten Sack getrost
der Pflanzenwelt zu überlassen". Hier ein
Gespräch Houellebecqs mit Finkielkraut bei
France Culture.
Silke Scheuermann hat in
"Shanghai Performance" ein ähnliches Thema aufgegriffen. Auch hier geht's um den
Kunstbetrieb und um das Leben in dieser Welt, erzählt aus der Perspektive einer
Assistentin. Die lobenden Kritiker wollten darin ein Lehrstück über kalte Kunst und Menschlichkeit erkennen. Nur Marie Schmidt ahnte in der
Zeit, dass
mehr dahintersteckt, was ihr das Buch aber nicht sympathischer machte.
Sehr gut besprochen wurden
Jonatham Lethems postmoderner New-York-Roman
"Chronic City" und
Najat El Hachmis Roman
"Der letzte Patriarch" über einen in Spanien lebenden
marokkanischen Patriarchen, dessen Tochter ihn entthront, einfach indem sie ihn beschreibt: "Es ist ein Bereich, in den der Vater nicht mehr vordringen kann, weil er die neuen Kommunikationsformen nicht beherrscht. Sein
Gewaltcode funktioniert plötzlich nicht mehr", erklärt Ulrich Rüdenauer in der
SZ. Und Ernst Osterkamp empfiehlt in der
FAZ, einfach die erste Seite zu überspringen und gleich in die Geschichte einzusteigen, die El Hachmi nicht nur "sinnlich und sachlich, sondern auch
gänzlich unsentimental erzählt".
Der britische Autor
John Burnside erzählt in seinem autobiografischen Roman
"Lügen über meinen Vater" kommt damit der Wahrheit aber wohl ziemlich nahe. Burnside sen. war ein Großmaul und ein
brutaler Alkoholiker, der Frau und Kinder mit permanentem Terror überzog. Sein Sohn, der später selbst große Alkoholprobleme hatte, konnte sich dem Vater erst entziehen, als er die Literatur entdeckte. Für
Thomas Glavinic, der das Buch in der
FAZ besprochen hat, ist Burnside ein Wissender, der Sätze schreibt, die das eigene Dasein verändern können, weil sie es erhellen, nicht im Sinne eines schönen Scheins, sondern als
finstere Offenbarung über das Sein.
In
Wolf Wondratscheks Roman
"Das Geschenk" taucht Chuck wieder auf, den Wondratschek-Liebhaber aus dem Gedichtband "Chucks Zimmer" kennen. Damals war Chuck ein
junger Macho, heute ist er ein
alter. Spät noch Vater geworden, kostet er jetzt Vaterfreuden und Rebellendasein gleichzeitig aus. Die Mutter spielt nicht die geringste Rolle, aber das geht okay, versichern uns die Rezensenten. Chuck ist eben ein Arschloch. Meike Fessmann zeigt sich in der
SZ fasziniert von dem Versuch, als alternder Wilder noch
bella figura zu machen. In der
FAZ hat Ernst Osterkamp einfach große Sympathie für das
Cowboy-hafte des Protagonisten und die gelassene Erzählhaltung des Autors. Hingewiesen sei schließlich noch auf
Arno Geigers schon in unserem letzten Bücherbrief vorgestellten und vielbesprochenen autobiografischen Roman
"Der alte König in seinem Exil" über seinen
dementen Vater.
Literatur / Sachbuch