06.11.2017. Ulli Lust treibt's mit einem Nigerianer im Wien der Neunziger und die Kritiker zur Hyperventilation. Julien Gracq bereitet den Lesern ein grausames Wunder. Und dann geht Asterix nach Italien.
Phantastische LiteraturJulien Gracqs "Das Abendreich" ist eine Art Vorläufer von Tolkiens Epos "Herr der Ringe". Barbarische Horden aus dem Osten überfallen das Abendreich, verhandlungswillige Botschafter werden kurzerhand enthauptet. Insgesamt ein "
grausames Wunder" ist dieser Roman, versichert in der
Zeit Claude Haas: Gracqs am Surrealismus geschulte Erzählweise vermag nicht nur dichterische Hoffnung aus dem Krieg zu schöpfen, ihm gelingt darüber hinaus gerade in den Landschaftsbeschreibungen eine "poetische Erkundung der Erde", die Haas wie eine "literarische Revision des kopernikanischen Weltbildes" erscheint. Und wie Übersetzer Dieter Hornig diesen "
Berserker"
der Poesie ins Deutsche übertragen hat, ringt dem Kritiker höchste Bewunderung ab. In der
SZ ist Joseph Hanimann süchtig nach Gracqs Erzählton, der ihn an
Ernst Jünger gemahnt, doch milder und zugleich herber ist, wie er erklärt. In der
FAZ stimmt Jochen Schimmang in den Chor der Bewunderer ein.
Dietmar Dath empfiehlt in der
FAZ wärmstens
John Crowleys "Die Übersetzerin" über eine amerikanische Übersetzerin und einen mysteriösen russischen Dichter im Exil , die sich während der Kuba-Krise begegnen, warnt aber vor vorschnellem Begreifen. Reichlich Gänsehaut bescherte Tilman Spreckelsen (
FAZ) die Erzählsammlung
"Fantasmagoriana" mit
Schauergeschichten aus dem 19.
Jahrhundert von August Apel, Heinrich Clauren, Friedrich Laun und Johann Karl August Musäus. Dass die Autoren offenlassen, ob es sich bei ihren Erlebnissen nicht doch um Sinnestäuschung handelt, unterscheidet die Texte von ihren Nachfolgern Shelley und Byron, erklärt Spreckelsen, der auch Kommentar und Vorwort erhellend findet.
ComicMit
"Asterix in Italien" (
Bestellen) ist nun schon der dritte Asterix-Band aus der Feder des Duos
Didier Conrad und
Jean-
Yves Ferri erschienen, und wenn man zumindest
Welt-Kritiker Marc Reichwein glauben schenken mag - auch der beste. Wie von Sinnen haben sich die Kritiker gleich am Erscheinungstag auf das neue Abenteuer der Gallier gestürzt, um dann doch zu gemischten Ergebnissen zu kommen: Noch
rasanter als die "Originale" von
Goscinny und
Uderzo erscheint
SZ-Kritikerin Martina Knoben der Band; Witz, s
chamlos ausgestellte Klischees und Anspielungen auf die Gegenwart, etwa das korrupte Sportgeschäft, entdeckt Marc Reichwein in der
Welt und
NZZ-Kritiker würdigt das Werk gar als Beitrag zur
kulturellen Versöhnung der Völker. In der
FAZ fühlt sich Patrick Bahners angesichts der dynamischen Kinoästhetik allerdings ein wenig gehetzt.
Mit dem Fortsetzungsband ihrer Comic-Autobiografie,
"Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein" ist
Ulli Lust endgültig in der Spitzenklasse des Genres angekommen, schwärmt
FAZ-Kritiker Andreas Platthaus und staunt über den "bedingungslosen
Mut zur Selbstentblößung" der Zeichnerin, die ihm "schockierend" intensiv von ihrem Liebens- und Sexleben mit einem älteren Kleindarsteller und einem sexbesessenen Nigerianer im Wien der Neunziger erzählt. Auch
SZ-Kritiker Thomas von Steinaecker lässt sich von Lusts Mischung aus detaillierten "Splash-Panels" und reduzierten "atmosphärischen" Bildern in den Bann ziehen. Platte Sexszenen und rassistische Stereoptype verderben dem Rezensenten allerdings ein wenig den Spaß. Im
Tagesspiegel liest Marie Schröer hingegen eine schwelgerische "
Ode an die Lust", einen Künstlerinnenroman und eine Abrechnung mit der Asylpolitik. Das Autorengespann
Ari Folman und
David Polonsky ist vor allem durch seine Graphic Novel "Waltz with Bashir" bekannt geworden. In ihrem Graphic Diary
"Das Tagebuch der Anne Frank" entdeckt
FR-Kritiker Christian Schlüter nun zwar ein paar "interessante Ansätze" und zeichnerisches Gespür für
Annes frechen Witz, insgesamt gerät ihm das schlicht illustrierte Werk aber zu
ehrfürchtig.
Ziemlich unterschiedlich fällt auch das Urteil der Kritiker zu
Reinhard Kleists neuem
Nick-Cave-Comic aus. Für
taz-Kritikerin Julia Lorenz ist Kleist spätestens seit seiner Johnny-Cash-Biografie ohnehin ein "Meister klingender Buchseiten", der auch dank seiner persönlichen Cave-Begegnungen sämtliche Lebensstationen des australischen Rockers "
expressiv,
mitunter aggressiv" zu erzählen vermag. Während
FAZ-Kritiker Andreas Platthaus die originellen Schwarz-Weiß-Zeichnungen bewundert, die die Grenzen zwischen Realität, Imagination und Liedtexten verschwimmen lassen, meint Thomas von Steinaecker in der
SZ: Nur bessere
Fanware. In der
FR greift Christian Schlüter fasst noch ein wenig lieber zum ebenfalls gerade erschienenen Kleist-Band "
Nick Cave and the Bad Seeds" in dem Kleist erstmals beweise, wie brillant er auch mit Farbe umgehen kann. Vielleicht kein Hergé, aber doch ein ziemlich guter Zeichner ist auch
Herve Tanquerelle, meint
taz-Kritiker Ralph Trommer, der gern mit den lebensnahen Figuren des französischen Comiczeichners durch
"Grönland Vertigo" gereist ist. In der
FAZ staunt Uwe Tellkamp über grandiose Naturbilder.
Empfohlen sei außerdem
Garry Trudeaus amerikanische
Dramödie mit gesammelten Trump-Strips aus knapp fünfzig Jahren "Doonesbury".
taz-Kritiker Ralph Trommer stellt hier erstaunt fest, wie früh Trudeau
Trumps ruppiges Geschäftsgebaren, seine Eigenliebe, sein Frauenbild und seine einfache Denkweise schon entlarvte. Weshalb der
Manga seit den Sechziger Jahren zu einer Kunstform wurde, versteht
NZZ-Kritiker Christian Gasser nach Lektüre der Neuauflage von
Kazuo Kamimuras und
Kazuo Koikes "
Lady Snowblood" Kamimuras elegante Zeichnungen erscheinen ihm wie eine Mischung aus französischen Modezeichnungen der siebziger Jahre und
japanischen Holzschnitten aus dem 19. Jahrhundert. Ganz anders kommt die Neuauflage von
Guido Crepax' sechziger Jahre Comic-Klassiker "
Valentina" daher:
taz-Kritiker Christoph Haas kann zwar über die "triviale" Handlung und Valentinas "
bizarre Bondage-Posen" allenfalls schmunzeln, Crepax' Mix aus Elementen verschiedener Genres findet er hingegen "schillernd".