12.04.2021. Bénédicte Savoy über Afrikas Kampf um seine Kunst, Gerd Schwerhoff über die Geschichte der Blasphemie, Adam Kucharski über das Gesetz der Ansteckung, und Francesca Buoninconti folgt den Wanderungen von Gnu, Blauwal und Libelle.
GeschichteEuropas Museen haben sich bis heute nicht von dem Schlag erholt, den ihnen die französische Kunsthistorikerin
Bénédicte Savoy und ihr senegalesischer Kollege
Felwine Sarr mit ihrem
Aktionsplan zur Dekolonialisierung versetzt haben. Jetzt legt Savoy noch einmal nach. In ihrer faktenreichen Studie
"Afrikas Kampf um seine Kunst" (
bestellen) rekonstruiert sie - sachlich und unpolemisch, wie alle Rezensenten versichern - die vergeblichen Bemühungen afrikanischer Staaten wie
Nigeria und Kongo, geraubte Kunst zurückzuerhalten. In der
SZ erkennt Till Briegleb, dass der Kampf um Rückgabe nicht erst seit wenigen Jahren von einigen Aktivisten geführt wird, sondern
seit Jahrzehnten. In der
FAZ weiß Andreas Kilb nicht, worüber er mehr bestürzt sein soll: Die Erfolglosigkeit eines legitimen Ansinnens oder die Arroganz, mit der es auch von deutschen Museumsdirektoren verächtlich gemacht wurde. Sie verschleppten die Verhandlungen, machten den afrikanischen Kunstverstand verächtlich oder verweigerten Inventarlisten, um
keine Begehrlichkeiten zu wecken. Positiv besprochen wurde das Buch auch in
Standard,
Berliner Zeitung oder dem
SWR. Und apropos: Empfehlen kann der
DlfKultur auch
Andreas Eckerts komprimierte
"Geschichte der Sklaverei" (
bestellen), die nicht unbedingt anschaulich, aber informativ Politik, Ökonomie und Ideologie des Menschenhandels darstellt.
Als Pionierarbeit würdigen die Rezensenten
Benno Gammerls Geschichte des
schwulen und lesbischen Lebens in der Bundesrepublik,
"Anders fühlen" (
bestellen). Gammerl macht in seinem Buch, für das er 32 Schwule und Lesben interviewte und etliche Zeitschriften auswertete, drei große Phasen aus: Die erste bis 1969 war geprägt von der Gefahr bürgerlicher Existenzvernichtung, die zweite von Politisierung und Provokation, die dritte ab 1982 von Aids. Dass Gammerl sein Buch ausdrücklich als
Emotionsgeschichte angelegt hat, erklärt Gustav Seibt in der
SZ mit Gammerls Forschungen im Umkreis der Gefühlshistorikerin Ute Frevert. Für Seibt "
ein großer Wurf". In der
Welt weiß Tilman Krause vor allem die Vielfalt zu schätzen, mit der Gammerl schwules und lesbisches Leben in der Bundesrepublik zeigt und berührt zitiert er den 1944 geborenen
Herrn Meyer, der auch nach etlichen Nackenschläge noch findet: "Mein Lebensglück ist, dass ich schwul bin."
Mit ihrem Buch
"Demokratie. Eine deutsche Affäre" (
bestellen) hat die Historikerin
Hedwig Richter im letzten Jahr ihre KollegInnen vor den Kopf gestoßen: Kann man dem wilhelminischen Kaiserreich wirklich so viel Positives abgewinnen? In ihrem neuen Band
"Aufbruch in die Moderne" (
bestellen) spinnt Richter den Faden weiter und untersucht, wie Reformen und Emanzipation die
moderne Demokratie in Deutschland voranbrachten. In der
SZ lobt Georg Simmerl das Buch einigen Einseitigkeit zum Trotz als durchaus instruktiv. Durchweg positiv aufgenommen wurde auch
Ulrich Herberts Aufsatzsammlung
"Wer waren die Nationalsozialisten?" (
bestellen), die zentrale Fragen des Nationalsozialismus analysiert, etwa die Unterstützung des Regimes in akademischen Kreisen, Judenhass und Gewalterfahrungen, aber auch die Integration von NS-Größen in der Bundesrepublik. Herberts Erkenntnisse sind nicht unbedingt neu, aber fundiert, da sind sich die Kritiker von
FAZ,
FR und
SZ einig.
Hoch gelobt wurde auch
Dan Diners Buch
"Ein anderer Krieg" (
Bestellen), das die Kritiker vor allem durch seinen
Perspektivwechsel beeindruckt, wie sie einhellig bekunden. Diner blickt auf den Zweiten Weltkrieg nicht von Europa aus, sondern vom damaligen Palästina, so dass nicht nur der Kriegsverlauf, sondern auch die Entstehung Israels eine andere Fokussierung erhält. Es geht viel um Geostrategie, räumen
FR,
SZ und
DlfKultur ein, sehen aber auch wie
Welt und
Zeit darin einen Aufruf zu Multiperspektivismus in der Geschichte.
Auch über dreitausend Jahre nach seiner Gründung bleibt
Jerusalem religiös und politisch umkämpft. In
"Al-Aqsa oder Tempelberg" (
bestellen) erzählt
Joseph Croitoru die Geschichte der Stadt und ihrer großen Mythen. In der
FR lobt Micha Brumlik die seiner Ansicht nach ungewöhnlich objektive Darstellung. Im
DlfKultur warnt Anne Françoise Weber allerdings: Croitoru macht wenig Hoffnung auf eine baldige Lösung des Konflikts, er hilft nur zu verstehen. Nur einmal, aber begeistert besprochen wurde
Gerd Braunes Buch
"Indigene Völker in Kanada" (
bestellen). Im
Dlf versichert Katja Ridderbusch, dass der seit über zwanzig Jahren in Kanada lebende Journalist "unaufgeregt und feinfühlig" über die Lebenssituation
indianischer Nationen schreibt, über ihre Geschichte und das Unrecht, das ihnen selbt im liberalen Kanada immer wieder angetan wurde.
PandemischesMit großem Interesse haben die KritikerInnen
"Das Gesetz der Ansteckung" (
bestellen) gelesen, in dem der Mediziner und Mathematiker
Adam Kucharskis die Allgemeingültigkeit epidemiologischer Mechanismen untersucht - und zwar leicht verständlich, aber fundiert. Fasziniert lernten die Kritiker, dass sich nicht nur Viruserkrankungen nach mathematischen Modellen ausbreiten, sondern auch politische Meinungen,
Fake News und Finanzkrisen. Ungemein "einleuchtend und schlüssig", lobt im
Dlf Kultur Vera Linß, die gelernt hat, wie wir unser aller Leben verbessern könnten, würden wir
epidemiologische Zusammenhänge besser verstehen. In der
FAZ hält Sibylle Anderl fest, dass Kucharski sein Buch noch
vor dem Ausbruch der Pandemie verfasst hat. Das mache es umso spannender, so Anderl, Corona beim Lesen selbst vergleichend heranzuziehen. In der
taz empfahl Annette Jensen dagegen nachdrücklich
Fabian Scheidlers Buch
"Der Stoff, aus dem wir sind" (
bestellen), demzufolge Mensch und Natur gerade keine quantifizierbaren Einheiten seien. Gerade eine technokratische Weltsicht führe mit ihren Eingriffen in komplexe Kreisläufe zu Klimakatastrophen, Massenaussterben und Pandemien.
Auf
Mark Honigsbaum vielgelobte Medizingeschichte
"Das Jahrhundert der Pandemien" (
bestellen) haben wir schon in unserem Bücherbrief hingewiesen. Darin rekonstruiert der britische Medizinhistoriker die Geschichte von
Pest, Spanische Grippe und Aids. Allerdings stehen bei Honigsbaum die angelsächsischen Länder im Mittelpunkt, Europa und Afrika kommen nur am Rand vor. Der Renaissance-Historiker
Volker Reinhardt konzentriert sich dagegen in
"Die Macht der Seuche" (
bestellen) ganz auf die Pest in Italien 1348 und ihre Folgen für das Leben, die Politik, die Kunst. Auch auf diese Studie haben wir bereits hingewiesen.
Flora und FaunaDie Pandemie führt auch zu einem neuen Nachdenken über das Verhältnis des Menschen zu
Umwelt und Natur. Am weitesten geht vielleicht der italienische Starbotaniker
Stefano Mancuso, der in seiner Charta für die
"Die Pflanzen und ihre Rechte" (
bestellen) streitet. Im
DlfKultur bekennt Michael Lange einen ganz neuen Blick auf die Pflanzenwelt gewonnen zu haben, wenn Mancuso das
hierarchiefreie Miteinander in vernetzten Systemen als Grundprinzip der pflanzlichen Lebensweise darstellt. In der
FAZ würde Christian Schwägerl zwar nicht jede These Mancusos unterschreiben, aber die Charta hält er nichtsdestotrotz für lesens- und bedenkenswert. In der
Zeit fragt die Philosophin Eva Weber-Guskar allerdings spitz, ob sie jetzt Frutarierin werden muss. In Frankreich ist auch der Philosoph
Emanuele Coccia sehr angesagt, der ebenfalls für ein neues Sinnenleben und eine
Philosophie der Pflanzen wirbt. Im
Dlf konnte zumindest Leander Scholz Coccias neuem Buch
"Metamorphosen" (
bestellen) viel abgewinnen, das ihm ein
Denken der stetigen Verwandlung eröffnete: Die Welt ist für Coccia vor allem Atmosphäre, erklärt Scholz, der eine atme ein, was der andere ausatme.
Als schönes Beispiel kenntnisreicher und feinsinniger Tierbeobachtung erscheint
Francesca Buonincontis Buch
"Grenzenlos" (
bestellen). Die italienische Wissenschaftsjournalistin verfolgt darin die Wanderbewegungen verschiedener Tiere rund um den Globus:
Gnu, Karettschildkröte,
Blauwal oder Libelle. In der
FAZ versichert Thomas Krumenacker, dass Buoninconti mit derselben Leichtigkeit über die physiologischen Grundlagen der Tierwanderungen schreibt wie über blühende Landschaften oder den Heißhunger von Singvögeln vor dem großen Zug.
Christine Korsgaards Schrift
"Tiere wie wir" (
bestellen) kann die
FAZ empfehlen, die mit Kant und Mill den moralphilosophischen Unterschied zwischen
Mensch und Schwein erkundet.
Zudem loben
FAZ und
DlfKultur Neil Shubins "Geschichte des Lebens" (
bestellen) als exzellentes Überblickswerk, in dem der amerikanische Paläontologe den Verlauf der
Evolution sowie ihrer Erforschung nachzeichnet. Die
FR jagte auch sehr gern in Siebenmeilenstiefeln mit
Stefan Klein durch die Geschichte des
menschlichen Geistes "Wie wir die Welt verändern" (
bestellen). Unter anderem entnahm sie dem Buch die Erkenntnis, dass Fortschritt nicht allein dem Denken entspringt, sondern auch dem Fühlen einer auf Überleben getrimmten Spezies.
DenkerinnenHannah Arendt und Simone de Beauvoir dürften den meisten einfallen, wenn es um die großen Philosophinnen geht, aber was ist mit
Hypatia,
Ban Zhao und
Harriet Taylor Mill? Oder
Lalla, Angela Davis und
Sophie Bosede Oluwole? Der von Rebecca Buxton und Lisa Whiting herausgegebene Band
"Philosophinnen" (
bestellen) stellt zwanzig Denkerinnen vor, anhand derer sich die Geistesgeschichte ebenso gut erzählen lasse wie mit ihren männlichen Pendants. Im
Standard zeigt sich Aloysius Widmann besonders beeindruckt von
Diotima von Mantineia, auf deren Vorstellungen von der Liebe sich Sokrates in Platons Dialog "Symposion" beruft. In der
SZ vermisst Dirk Lüddecke zwar Christine de Pizan, ist ansonsten aber voll des Lobes für diese schwungvolle Porträtsammlung. Hingewiesen sei auch noch auf
Peter Burkes Geschichte der Universalgenies
"Giganten der Gelehrsamkeit" (
bestellen), das von Leonardo da Vinci bis Susan Sontag dem Wesen großer Geister nachspürt und es nicht im Wissen findet, sondern in
Neugier, Fantasie und Gedächtnis.
Ein wenig in Vergessenheit geraten ist die französische Philosophin
Simone Weil, die als Gewerkschafterin in die Fabrik ging, um das Los der ArbeiterInnen zu teilen, bei den Anarchisten im Spanischen Bürgerkrieg kämpfte und sich schließlich der Mystik zuwandte. In einer mitreißenden Besprechung empfiehlt Thomas Palzer im
Dlf Weils Band
"Schwerkraft und Gnade" (
bestellen) als Antidot gegen "
unerträgliche protestantische Lauheit", warnt aber, dass Weils spirituelles Denken nicht unbedingt an die philosophische Moderne anschließt: Weil zufolge werden
Leid und Demütigung wie physikalische Kräfte übertragen und erst durch einen Akt der Gnade aufgehoben. Auch in der
SZ zeigt sich Thomas Steinfeld inspiriert von Weils widersprüchlichem, aber durch und durch originellem Denken. Auch
Christina Pareigis' Biografie der Philosophin
"Susan Taubes" (
bestellen) können die KritikerInnen empfehlen; sie sehen darin eine willkommene Einladung, sich mit dem Denken dieser Intellektuellen unabhängig von ihrem Mann Jacob Taubes zu befassen.
FAZ und
FR empfehlen außerdem
Dieter Henrichs autobiografischen Gesprächsband
"Ins Denken ziehen" (
bestellen) wegen seiner anekdotenreichen Erinnerungen an Zeitgenossen und "Brennpunkte" der Geistesgeschichte.
ReligionGeht das, "gelassen und fair" eine
Geschichte der Blasphemie schreiben? Wenn wir den Kritikern vertrauen dürfen, gelingt dem Dresdner Historiker
Gerd Schwerhoff in
"Verfluchte Götter" (
bestellen) dieser Parcour offenbar bravourös. In der
FAZ weiß Thomas Macho zu schätzen, wie kenntnisreich Schwerhoff erzählt, vom Beginn der Blasphemie im Römischen Reich, wo Religion immer auch Herrscherkult war, über die Kriminalisierung der Gotteslästerung durch Justinian und den Kampf der Aufklärung dagegen bis hin zum Streit um die Mohammed-Karikaturen. Dass heute nicht Gotteslästerung, sondern die
Verletzung religiöser Gefühle geahndet wird, macht es nicht leichter, erkennt Johann Hinrich Claussen in der
SZ, wenn sich verletzte Gefühle mit reeller Marginalisierung und politischer Manipulation verbinden. In der
taz bedauert Steffen Greiner ein wenig, dass Schwerhoff nur gelegentlich über Europa hinausblickt, denn die angeschnittene Perspektive des Autors auf
Pakistan und Nigeria findet Greiner durchaus erhellend. Und wenn wir schon beim Thema sind: Positiv, aber nur einmal besprochen wurde bisher Katajun Amirpurs Biografie des iranischen Revolutionsführers
"Khomeini" (
bestellen), der berüchtigterweise zum Mord an
Salman Rushdie und seinen Übersetzern aufgerufen hatte, als Rache für die ach so blasphemischen
"Satanischen Verse".
Sprache und WeltDie Germanistin Nicola Gess untersucht in ihrer Studie
"Halbwahrheiten" (
bestellen) mit literaturwissenschaftlichen Mitteln die
Manipulation der Wirklichkeit:
Fake News, Verschwörungstheorien oder Progpaganda schlagen deshalb ein, glaubt Gess, weil sie mit dem emotionalen Einverständnis ihrer Zuhörer rechnen können, die sich nicht mehr die Frage stellten, ob eine Geschichte wahr oder falsch sei, sondern nur noch ob
glaubwürdig oder nicht. Der Wahrheitsgehalt ließe sich wie bei einer typischen Anekdote eh nicht überprüfen. In der
SZ nannte Gustav Seibt diese Studie bahnbrechend, weil sie mit der alten Philologen-Formel "Begreifen, was uns ergreift" auch zur permanenten Selbstkontrolle aufruft. Auch in der
taz fand Henrikje Schauer überzeugend, wie Gess die
Logik der Fiktion analysiert. Als hilfreicher Diskussionsratgeber wurde auch
Ingrid Brodnigs "Einspruch!" (
bestellen) empfohlen, dem Gustav Seibt in der
SZ die einschlägige Faustformel entnimmt: Wenn eine Geschichte ins Blut geht wie Traubenzucker, sollte man ihr misstrauen. Außerdem hat Suhrkamp
Leo Löwenthals Studie zur faschistischen Agiation
"Falsche Propheten" (
bestellen) neu aufgelegt, die der Literatursoziologe in den vierziger Jahren im Auftrag der amerikanischen Regierung erstellte. Ein Klassiker für die Analyse
demagogischer Rhetorik.
Berückend finden die KritikerInnen, was
Harald Haarmann in seinem Band
"Die seltsamsten Sprachen der Welt" (
bestellen) an Wortschätzen, Merkwürdigkeiten und Eigenheiten zusammenträgt: In der
SZ zeigt sich Lothar Müller begeistert vom ausgefeilten
Winter-Vokabular der Inuit, das sich allerdings auf die Eisverhältnisse bezieht, aber noch mehr beeindruckten ihn die Samen mit ihren fein differenzierten Wörtern für Schnee: "Seeli" etwa sei "Schnee, der vollkommen weich ist" oder "ceeyvi" schließlich sei "
vom Wind hartgepeitschter Schnee, der so hart ist, dass Rentiere die Decke nicht mit ihren Hufen durchbrechen können, um Futter zu finden". In der
FAZ kann sich Wolfgang Krischke auch für die sibirische Sprache Jukagirisch erwärmen, deren Sprecher grammatisch unterscheiden zwischen dem, was sie selbst erlebt haben und dem, was sie nur vom Hörensagen wissen. Im
Dlf genießt Sieglinde Geisel durchaus dieses "luxuriöses Kuriositätenkabinett", hätte sich aber ein bisschen Theorie dazu gewünscht. Ebenfalls im Orchideenfach liebevoll gehegt:
Rita Mielkes "Atlas der verlorenen Sprachen" und
Johann Jacob Sprengs "Unerhörte Auswahl vergessener Wortschönheiten" (
bestellen), die dem
DlfKultur "Flubbern", "Bobern" oder "Vuschmunt" in Erinnerung rief.
FilmWenn
Dieter Kosslick aus seinem Leben als Berlinale-Chef plaudert, dann erkennen ihn die FilmkritikerInnen sofort wieder: Gutgelaunt und spaßig gibt er in
"Immer auf dem Teppich bleiben" (
bestellen) Anekdoten über
Meryl Streep, die
Rolling Stones oder
Fidel Castro zum Besten, träumt vom ökologischen Filmemachen oder kulinarischem Kino. Die
FAZ bemerkt allerdings auch, dass Kosslick einen Bogen um Ästhetik und Politik macht, die
SZ erhebt Einspruch, wenn Kosslick gegen die "bösartige" Filmkritik schießt. Hingewiesen sei auch auf Bert Rebhandls respektable Biografie des den französischen Regisseurs, Filmrevolutionärs und Gegenaufklärers
"Jean-Luc Godard" (
bestellen), die von
Standard und
Tagesspiegel bis zur
Jungle World recht breit besprochen wurde, sowie auf
Tine Rahel Völckers Hommage
"Chantal Akermans Verschwinden" (
bestellen).
MusikBis auf Weiteres gibt es Clubleben nur in Schrumpfformaten, etwa in einem Bildband: Die Fotografin
Marie Staggat und der Reporter
Timo Stein besuchten für
"Hush" die ikonischen Orte Berlins, von Tresor und Kitkat bis zum Klunkerkranich, porträtieren die Pioniere des Partylebens, Türsteher und Managerinnen. Die
taz staunt über die verschiedenen
Konzepte der Nacht, die sich in den hier abgebildeten Architekturen offenbaren. Die
Welt wurde über den Bildern, die sie mitunter gar an Edward Hopper erinnern, ganz melancholisch. Artifiziell, aber kenntnisreich und uneitel findet Hans-Jürgen Linke in der
FR auch
Rainer Wieczoreks literarisches Porträt des von ihm sehr verehrten Jazzmusikers
Heinz Sauer "Im Gegenlicht" (
bestellen). In der
FAZ kann Jan Wiele allen Nick-Cave-Fans außerdem den Ausstellungsprachtband
"Stranger Than Kindness" (
bestellen) empfehlen, in dem der australische Musik sein Talent als Zeichner wie auch seinen Hang zum Sakralen zeige.
Im MaschinenraumNein,
künstliche Intelligenzen werden so bald keine Gefühle entwickeln, Liebesabenteuer stehen nicht ins Haus. Im Gegenteil: Sie werden nämlich unsere Gefühle besser deuten können als wir selbst. Die Göttinger Philosophin
Catrin Misselhorn untersucht in ihrem Buch
"Künstliche Intelligenz und Empathie" (
bestellen), wie Maschinen auf eine
gesichtsbasierte Emotionserkennung getrimmt werden. In der
SZ nannte ein beunruhigter Andrian Kreye das Buch sehr wichtig, im
DlfKultur spricht die Autorin über unbewusste Mikromimik und andere "Lecks unserer Psyche". Unbehaglich wurde den KritikerInnen auch bei der Lektüre von
Ole Nymoens und
Wolfgang Schmitts Buch über
"Influencer" (
bestellen). Zum einen, weil sie sich nicht vorgestellt haben, wie groß die Reichweite und das Geschäft mancher Werbefiguren tatsächlich ist, wie etwa die
taz bemerkt. Zum anderen aber auch, weil ihnen der abfällige Ton und der entlarvende Gestus der Autoren zu weit geht, wie etwa die
SZ findet. Die
Zeit hätte gern gewusst, warum die
kapitalistische Verblendung so gut funktioniert, wenn sie so einfach zu durchschauen ist.
Der Anthropologe
James Suzman untersucht in seinem Buch
"Sie nannten es Arbeit" (
bestellen), wie sich das
Wesen der Arbeit von Anbeginn der Menschheit gewandelt hat, und siehe da: Von stetiger Optimierung kann irgendwie keine Rede sei, denn Jäger und Sammler mussten nur fünfzehn Stunden in der Woche für die Nahrungssuche aufbringen. Im
Dlf bekennt Nikolaus Nützel, dass Suzman seinen Blick auf die Welt verändert hat mit seiner Dekonstruktion gängiger Konzepte wie Güterknappheit, Wettbewerb und Selbstbestätigung. Über
Julia Friedrichs Report
"Working Class" (
bestellen) wurde in den Medien viel diskutiert, besprochen wurde das Buch nur einmal in der
taz. Dort fand Marlen Hobrack zwar nicht alle Beobachtungen zu
Ungleichheit und Chancenlosigkeit neu, aber die Schlüsse der Autorin doch sehr treffend.
Kunst und KulturgeschichteEinen aufwändig gestalteten und üppig bestückten Band widmet der Steidl Verlag der südafrikanischen Fotografin
Jo Ractcliffe, und auch die KritikerInnen hoffen, dass Ractcliffe mit
"Photographs: 1980s to now" (
bestellen) endlich auch hierzulande die Bekanntheit erlangt, die sie verdient. In der
SZ warnt Catrin Lorch allerdings vor, dass die Bilder aus dem Bürgerkrieg von Angola, von Flüchtlingen in Namibia oder kontaminierten Landschaften in Südafrika bei aller Schönheit nicht ganz leicht zu verkraften sind. Im
Perlentaucher feierte Peter Truschner den Band schon jetzt als Standardwerk und erklärt auch den Unterschied etwa zu den ikonisch gewordenen Bildern der ebenfalls südafrikanischen Fotografin und Aktivistin
Zanele Muholi: Ractliffes Bilder verweigern jede Affirmation, ihnen müsse sich jeder allein stellen.
Mit seinen Essays hat der Kunsthistoriker
Martin Warnke in den siebziger Jahren die deutsche Kunstgeschichte revolutioniert, indem er an die Arbeiten von
Erwin Panofsky und
Aby Warburg anschloss, die Kunstwerke nicht nur als Illustrationen begriffen, sondern als Argumente in der gesellschaftlichen Analyse. In der
SZ freut sich Jan van Bevern, dass der Band
"Warburgs Schnecke" (
bestellen) nun einige der wichtigsten Aufsätze Warnkes wieder zugänglich macht, denen er noch immer enorme kunstsoziologische Sprengkraft attestiert. In der
Zeit liest auch Peter Geimer mit Begeisterung Warnkes Essays über
höfische Gesten bei Goya, die Bildpolitik der Reformation oder die
Couch im deutschen Wohnzimmer. Und natürlich den explosiven Vortrag "Wissenschaft als Knechtungsakt" vom Kunsthistorikertag 1970, mit dem Warnke der Zunft eine Metaphorik der Gewalt vorwarf, deren Bildbeschreibungen zu "
Zuchtexerzitien" verkommen sei. Bereits im Bücherbrief haben wir auf
Jochen Hörischs Kulturgeschichte
"Hände" (
bestellen) hingewiesen, die vielfach gelobt wurde, allerdings mit dem Hinweis versehen, dass Hörisch sich eigentlich auf eine literaturgeschichtliche Untersuchung beschränkt. Oft und recht gut besprochen wurde auch
Henry Keazors Studie
"Raffaels Schule von Athen" (
bestellen), die der Rezeptionsgeschichte des Werks nachgeht.
Julian Barnes' viel gelobte Kulturgeschichte über den
"Mann im roten Rock" (
bestellen), den Arzt und Freigeist Dr. Samuel Pozzi (1846-1918) hatten wir schon im Bücherbrief vorgestellt.