20.11.2002. "Wenn wir sterben" heißt der am meisten gefeierte Titel der Saison - passt irgendwie zum Herbst 2002. Aber Ernst-Wilhelm Händlers Roman ist in fast allen Zeitungen einhellig gefeiert worden. Und was noch? Wir haben die Literaturbeilagen des Oktobers und Novembers gelesen und präsentieren die besten Bücher der Saison.
Romane / Krimis, Lyrik, Erinnerungen, Kinder- und Jugendbücher / Biografien, Kulturgeschichte, Kunst und Musik, Religion / Politik, Geschichte, Philosophie, Naturwissenschaften Alle großen Themen wie Gott, Ehe, Verrat, Gesellschaft, letzte Liebe schon abgegrast, alle Erinnerungen an die Jugend in Schweinfurt ausgeweidet, Popliteratur und Fräuleinwunder auch schon tot. Ach Gott, worüber soll man noch schreiben? Wie wär's mit
Sex? Oder
Wirtschaft? Einer
Sartre-Biografie? Das
mimetische Begehren?
Wundern? Die interessantesten Bücher der Saison befassen sich mit exakt diesen Themen. Aber auch an klassischen Geschichten über Familie, Verrat, Tod und das "Gefühlserbe der DDR" fehlt es nicht.
Wir lassen die
Literaturbeilagen dieses Herbstes Revue passieren.
Romane
Dies ist das von fünf Zeitungen am enthusiastischsten besprochene Buch der Saison:
Ernst-Wilhelm Händlers Roman
"Wenn wir sterben". Eine Geschichte, die am Beispiel von
vier Karrierefrauen eine
Herrschaftsstruktur der Ökonomie entwirft. Das Leben - ein Tauschgeschäft. Der Erfolg - ein Ersatz fürs Leben. Nichts könnte aktueller sein! "Schwindelerregend" findet die
SZ den Roman, beinahe ein shakespearesches "Königsdrama", meint die
FAZ, hat in der gegenwärtigen Literatur "nicht seinesgleichen", behauptet die
FR, die
NZZ spricht von einem "radikal zeitgenössischen und modernen" Buch und die
taz ist fasziniert von den Parallelen zwischen
entfremdeter Arbeit und
entfremdetem Sex. Starr vor Staunen sind alle Mann von dem alles umfassenden Kreislauf von Waren, Wörtern, Lebensbereichen (
SZ) und der damit einhergehenden virtuosen Ökonomisierung der Erzählsprachen (
FAZ) durch Händler. Man hätte ja gern erfahren, wo sich die Kritiker, die die Herrschaftsstruktur der Ökonomie gerade
am eigenen Leib erfahren, in Händlers Wirtschaftswelt wiedergefunden haben. Sagt aber keiner. Vielleicht, weil es hier um
Frauen geht.
Hervorragend besprochen wurde auch
Karin Schmidts Roman
"Koenigs Kinder", eine Familiengeschichte aus dem
Ostberliner Alltag, die um ein verschwundenes Mädchen kreist, das mit durchschnittener und wieder
zugenähter Kehle wiedergefunden wird. Ein "Erzählwunder", jubelt Frauke Meyer-Gosau in der
NZZ. Da jeder verdächtig sei, werde der Leser "mit den Nachtseiten der jüngsten deutschen Geschichte" konfrontiert. Helmut Böttiger lobt in der
Zeit die "materialistisch-sinnliche" Sprache Schmidts. In der
FAZ bewundert Jörg Magenau die
"grelle Körperlichkeit" der weiblichen Figuren, deren Sexualität für ihn von "geradezu vegetativer Üppigkeit" ist. Und in der
FR staunt Hauke Hückstädt über die atemberaubende "Raffinesse" und große "Artistik" der erzählerischen Komposition.
Kommen wir zum "sprachlich erlesenen" Roman einer achtzigjährigen, schönen und mondänen alten Dame, die in
"Der Witwer von Venedig" über
Giftmorde im Venedig des 18. Jahrhunderts schreibt und dabei ihre Vorliebe für alle Arten von Laster ausspielt.
Gabrielle Wittkop, eine bekennende Sadistin, so Uli Aumüller in der
Zeit, hat schon mit ihrem ersten Roman
"Le Necrophile" einen "unaussprechlichen Verdacht" im Rezensenten aufkeimen lassen. Mit ihrem neuen Roman liefert sie ein
travestierendes Erotikon, das dem Rezensenten ob seiner Grausamkeit fast die Sprache verschlagen hätte.
Um Sex, wenn auch nicht nur, geht es ebenfalls in
A. L. Kennedys neuem Roman
"Alles was du brauchst", den die
FAZ mit dem Aufmacher ihrer ersten Literaturbeilage geehrt hat. Kennedy erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die Schriftstellerin werden will und deshalb auf eine Insel fährt, auf der
lauter Schriftsteller hausen, unter anderem - was sie nicht weiß - ihr Vater. Hubert Spiegel zeigt sich in der
FAZ überwältigt von Kennedys Beschreibung des Literaturbetriebes als "durch und durch
verächtliche Veranstaltung". Dass die "metaphysische Dimension" des Romans immer wieder von Szenen "nicht selten obszön" beschriebener Sexualität unterbrochen werden, hat ihm aber auch gefallen. Angela Schader in der
NZZ findet die Handlung "literaturtheoretisch" eher "unglaubwürdig", würdigt aber Kennedys "blitzende" Sprache.
Lob erfuhr außerdem
Hans Ulrich Treichels "Sexual-Komödie" (
FR)
"Der irdische Amor", in dem Treichel am Beispiel des "etwas zu dicken Provinztropfs" Albert die "
Verwirrungen des Geschlechts ... in allen Varianten durchdekliniert" (
NZZ). Die
Zeit war etwas verärgert, dass sie von dem "akademischen Trottel" nichts mehr lernen konnte, findet die Geschichte aber flott erzählt. Die
FAZ sagt dazu lieber: elegant. Schließlich empfiehlt die
taz noch
Wolfgang Schömels slapstickhafte Geschichten um ältere, wohlhabende Männer auf der erfolglosen Suche nach Sex, zusammengefasst unter dem anspielungsreichen Titel:
"Die Schnecke".
Nach diesem Exkurs ins allgemein menschliche zurück zur geografischen Aufteilung. Unter den
deutschsprachigen Büchern sind uns noch aufgefallen
Erich Hackls "Die Hochzeit von Auschwitz", das Eva Menasse in der
FAZ als "erschütternd und doch auch zärtlich, schonend" beschreibt. Weiter Martin Klugers
"Abwesende Tiere", ein Roman, der mit "Intelligenz, Schlagfertigkeit und Bösartigkeit" eine funkelnde
Chronik des Zoolebens liefert, die fast ein ganzes Jahrhundert umfasst, schwärmt Wilhelm Pauli in der
Zeit, dankbar auch, dass hier ein Roman endlich mal wieder
mehr als 1000 Seiten umfasst. Spaß hatten die Rezensenten außerdem an
Anne Webers leichtfüßigem Monolog
"Erste Person" und an
Walter Abishs "Alphabetisches Afrika", dessen Spielregel, ganze Kapitel nur mit Wörtern eines bestimmten
Anfangsbuchstabens beginnen zu lassen, für Jochen Jung in der
Zeit "von größter Einfachheit und schönster Hirnrissigkeit" zeugt.
Unter den
angloamerikanischen Autoren ist neben
Jonathan Franzens schon im Sommer umjubelten
"Korrekturen" Ian McEwans "Abbitte" der meistgelobte Roman. Erzählt wird die Geschichte einer
13-Jährigen, die durch eine gut gemeinte Lüge das Leben zweier Liebender zerstört. Die
taz findet darin die "beängstigende Macht der Jugend", die Wirklichkeiten schaffen kann, "die stärker sind als die der Erwachsenen". Die
Zeit nennt das Buch ein "tiefenpsychologisches Meisterwerk", die
SZ einen "großen Wurf", die
FAZ findet es "souverän, sprachmächtig und fesselnd", die
FR vergleicht es gar mit Emily Brontes "Sturmhöhe". Gefeiert wurde außerdem
David Foster Wallaces Erzählungsband
"Kurze Interviews mit fiesen Männern", den die
NZZ für seinen "tief ernsten Humor" lobt, während Iris Radisch in der
Zeit angesichts des "Genius" Wallace an den "Autoren des
deutschen Vorruhestandes" verzweifelt (wen meint sie denn damit?).
Einer der "besten Gründe" fürs Lesen nennt die
NZZ die Britin
Antonia S. Byatt. Ihre
"Geschichten von Feuer und Eis" rühmt auch die
FAZ als "Meisterwerke der Miniatur". Gelobt wurde noch
"Goulds Buch der Fische" von
Richard Flanagan, ein
Roman in zwölf Fischen, der auf der Gefängnisinsel Sarah Island kurz vor der Küste Tasmaniens spielt. Und da mal wieder keine Zeitung über die neuen Comics auf der Buchmesse geschrieben hat, sei hier wenigstens
Michael Chabons "Die unglaublichen Abenteuer von Kavalier und Clay" genannt, ein Roman über zwei
Comic-Künstler im New York der vierziger Jahre, den
NZZ, taz und FAZ mit Vergnügen verschlungen haben.
Aus den
spanischsprachigen Ländern wird vor allem
Ricardo Piglias argentinischer Roman
"Künstliche Atmung" empfohlen, den die
FAZ als "spiritistische Sitzung mit
Wacholderschnaps" beschrieben hat. Die
Zeit ist beeindruckt von der Raffinesse, mit der Piglia die Wahrheit über die
Militärdiktatur geschrieben hat, so dass er 1980 damit durchkam. Hingerissen waren die Rezensenten auch
von Javier Cercas "Soldaten von Salamis", ein kleiner, aber glänzender Roman über den
spanischen Bürgerkrieg.
Ungarn glänzt in diesem Jahr. Kein geringerer als Peter Nadas legt uns in der
Zeit den "herzzerreißenden", "wunderbaren" Debütroman
"Der Schwimmer" von
Zsuzsa Bank ans Herz. Bank erzählt die Geschichte
ungarischer Flüchtlinge, die nach dem Aufstand 1956 in den Westen fliehen. Die
NZZ spricht von einem "ein großen, poetischen Buch der Trauer und des Verlusts". Die
SZ lobt Banks "souveränes Gefühl für Rhythmus und Dramaturgie" und "eine außergewöhnlich sinnliche Aufmerksamkeit". Auch
Peter Nadas hat ein neues Buch geschrieben: In
"Der eigene Tod" schildert er seinen
Herzinfarkt mit "großartiger Lakonik", lobt die
NZZ. Die
SZ beeindruckt Nadas' große philosophische Ernsthaftigkeit. Und dann gibt es noch
Istvan Örkenys "Minutennovellen" aus dem Jahr 1968, die Peter Esterhazy in der
FAZ wärmstens empfiehlt, weil sie sich manchmal lesen, "als seien sie jene Gedichte, die man nach Auschwitz nicht mehr schreiben konnte". Die
NZZ bewundert vor allem Örkenys "erbarmungslosen Genauigkeit" in der Beobachtung.
Schließlich sei noch auf drei
dokumentarische Romane hingewiesen:
Martin Pollacks "Anklage Vatermord" erzählt von einem Schauprozess der Nazis gegen den später als Fotografen berühmt gewordenen
Philipp Halsmann, der als junger Mann wegen Mordes an seinem Vater angeklagt und für schuldig befunden worden war, obwohl alles dafür sprach, dass sein Vater bei einem Bergunfall ums Leben kam. Stephan Wackwitz lobt in der
FAZ das merkwürdige "Zwielicht zwischen fiction und non-fiction". Auch
taz, SZ und NZZ fanden die Lektüre äußerst spannend.
Gelobt wurden auch
Pirmin Meiers Nacherzählung eines Skandals in der Schweiz aus dem Jahre 1902: Damals war der Priester und Publizisten
Heinrich Federer beschuldigt worden, sich
sexuell an einem Schüler vergangen zu haben. Die
FAZ würdigt das Buch als "Sittengemälde in den Farben Schweizertum, Knabenliebe, Katholizismus und Naturburschenkult". Zwiespältig wurde dagegen
Peter-Jürgen Boocks dokumentarische Fiktion
"Die Entführung und Ermordung des Hanns-Martin Schleyer" aufgenommen. Da Boock bei der Entführung dabei war, hätten die Rezensenten gern auf den fiktiven Teil verzichtet.
Wir haben die
Oktober- und Novemberbeilagen der Zeitungen komplett ausgewertet. Alle Rezensionsnotizen - aufgelistet nach Zeitungen und Themen - finden Sie
hier.