31.10.2004. Literatur / Arabische Bücher / Erinnerungen, Biografien / Politische Bücher / Sachbücher
Geschichte
Literatur / Arabische Bücher / Erinnerungen, Biografien / Politische Bücher / Sachbücher Geschichte Dieses Buch wurde bis jetzt noch in keiner überregionalen Zeitung besprochen - wir wissen nicht warum, empfehlen wollen wir es trotzdem:
Anita Kuglers Geschichte des - vielleicht -
jüdischen SS-Offiziers Eleke
Scherwitz ) ist das aufregendste Sachbuch dieser Saison. Es erzählt, mit dem Können einer erstklassigen Journalistin, die Geschichte eines jungen Mannes aus sehr kleinen Verhältnissen, der im lettischen
Konzentrationslager Lenta Juden rettete - und vielleicht auch mordete. Der Jude war - oder vielleicht auch nicht. Die
deutschen Gerichte, die ihn nach dem Krieg verurteilten, glaubten, dass er einer war - er selbst behauptete es - und werteten dies
strafverschärfend. Kuglers Buch recherchiert die Spuren eines Überlebenskünstlers. Wäre es damals nicht um Leben und Tod gegangen, würde man ihn einen
Filou nennen. Neben der unglaublichen Geschichte des Eleke Scherwitz - ob dies sein richtiger Name ist, wissen wir auch nach siebenhundert Seiten nicht - ist dies auch ein Buch über
Geschichtsschreibung: Kugler hat die noch lebenden Zeitgenossen Scherwitz' aufgetrieben, ist in Dörfern von Tür zu Tür marschiert und hat nachgefragt. Und dann sieben Jahre lang die Akten studiert. Ihr Fazit:
Auch Zeitzeugen lügen. Die historische Wahrheit ist nicht immer zu rekonstruieren. Vielleicht ist die Kritik deshalb bisher vor dem Buch zurückgeschreckt?
Geschichtsschreibung ganz anderen Stils betreibt
Valentin Groebner, dessen neueste Studie
"Der Schein der Person" () eine sozialgeschichtliche Untersuchung zu
mittelalterlichen Praktiken des Identifizierens und der Ausweiskontrolle im Mittelalter. Überschwänglich lobt der Historiker Michael Borgolte in der
FAZ den "neuen wissenschaftlichen Stil" des Autors, seine "Erzählfreude" und
Leserfreundlichkeit. Die
SZ will die
"Kurzweiligkeit" des Buches keineswegs leugnen, beklagt allerdings einen gewissen Mangel an methodischer Solidität.
Naturwissenschaften Bis auf den Titel des
Spiegel brachte es die Andere Bibliothek mit ihrer dreifachen Wiederentdeckung des reisefreudigen Naturforschers
Alexander von Humboldt. Neben der zweibändigen Prachtausgabe des
"Kosmos" (
) wurden auch die
"Ansichten der Kordilleren und Monumente der eingeborenen Völker Amerikas" () und seine
"Ansichten der Natur" () neu veröffentlicht. Die Feuilletons
sekundierten bereitwillig und unterstützten Hans Magnus Enzensbergers Versuch, den vor allem in Deutschland kaum mehr gelesenen Autor ins Bewusstsein der Nation zurückzuholen. So preist die
NZZ das
"Opus magnum eines umfassenden Geistes", während die
SZ vor allem die naturwissenschaftliche Prosa lobt, die einen lehre, "die Welt aus ihren Entwürfen zu begreifen". Die
FR fühlte sich bei der Lektüre gar an die
Abenteuerromane eines Alexandre Dumas oder Robert Louis Stevenson erinnert. Der
FAZ hat zudem die
Hörbuch-Ausgabe des "Kosmos" gefallen.
Durchweg Lob und Preis gab es für
Matthias Hagners wissenschaftsgeschichtliche
Aufarbeitung der Hirnforschung unter dem Titel
"Geniale Gehirne" (). Das allem Naturwissenschaftlichen programmatisch zugetane
FAZ-Feuilleton hat diesem Buch gar bescheinigt, es handle sich dabei um den lange erwarteten
"großen Gegenwartsroman" in Gestalt eines Sachbuchs. Wer jetzt fürchtet, das liege wohl am Titel, sei beruhigt: Auch die
FR findet es erfreulich, dass durch Hagners präzise Geschichtsbeobachtung auch die erstaunliche und oft eher bedenkliche
Renaissance der Hirnforschung in einem anderen Licht erscheint. Die ebenfalls freundlich gestimmte
SZ meint nur, dass Hagner in dieser Hinsicht ruhig noch etwas deutlicher hätte werden dürfen.
Die besprechenden Zeitungen mitten entzwei gerissen hat der Star-Mathematiker
Marcus de Sautoy mit seinem Versuch, die
"Musik der Primzahlen" () einem interessierten Laienpublikum näherzubringen. Während die
FAZ sich vom Verzicht des Autors auf einen Ton der "neckischen Bastelladen-Kumpelei" sehr angetan zeigt, konnte sich der Rezensent der
SZ nur die Haare raufen ob dieses sich seiner Ansicht nach in "
missratener Metaphorik, sinnlosen Superlativen, abseitigen Anekdoten, inhaltsleeren Introspektionen" ergehenden Werks.
Lobend erwähnt wurden auch
Angelo Mojettas "Meeresatlas" ), der laut Frank Schätzing in der
SZ durchaus geeignet ist, einen
Tiefenrausch hervorzurufen, und
David Quammens "Das Lächeln des Tigers" das nach Julia Voss in der
FAZ einen heiligen Respekt vor durchaus auch
Menschenfressern einflößt. Und natürlich
Carl Safinas "Ein Albatros namens Amelia" (), das Michael Adrian in der
FAZ restlos begeisterte. Am Beispiel der Albatrosmutter Amelia entfaltet Carl Safina ein Porträt des einst von Baudelaire besungenen Riesenvogels. Und auf den 520 Seiten des Buch erfährt man nach Adreian einiges, zum Beispiel dass Albatrosse sechzig Jahre alt werden und sogar im
Fliegen schlafen können.
Kulturgeschichte Die reich illustrierte
"Geschichte der Schönheit" () von
Umberto Eco und Co-Autor
Girolamo de Michele hat trotz einiger Skepsis auch viel Zustimmung gefunden. Die
SZ freut sich über den "mächtigen Theoriehunger" der Autoren, mit dem sie die jeweiligen
Schönheitstheorien auf den Punkt bringen. Die
FAZ findet das Werk zwar etwas zu ehrgeizig, doch befällt sie beim Blättern
"wachsendes Behagen" angesichts der "subtil ausgesuchten Illustrationen". Bewundernswert und brillant, lobt
Hans Ulrich Gumbrecht in der
NZZ. Nur
Bazon Brock findet das Buch in der
Zeit angesichts der "bildsprachlichen Naivität" völlig
überflüssig.
Die Ankunft eines weiteren
Klassikers der Filmliteratur im deutschen Sprachraum begrüßt bisher einzig die
FAZ: Neal Gablers Studie
"Ein eigenes Reich" () zur zentralen Bedeutung jüdischer Emigranten für die
Hollywood-Geschichte. Empfohlen sei außerdem noch
Roberto Zapperis "Der wilde Mann von Teneriffa" () - die Geschichte eines Mannes von den Kanarischen Inseln, dessen Körper und Gesicht fast ganz
mit Haaren bedeckt war, weshalb man ihn im 16. und 17. Jahrhundert als Kuriosität an den europäischen Fürstenhöfen herumreichte. Der
NZZ lobt das so "anspruchsvoll wie bescheiden verfasste Buch" wegen seiner
Detailgenauigkeit.
Philosophie In Deutschland noch zu entdecken ist die US-Philosophin
Philippa Foot. Ihr jetzt übersetztes Buch
"Die Natur des Guten" () ist dafür die beste Gelegenheit. Diese schmale und konzentrierte Schrift zu Grundlagen der Moralphilosophie hat dem Rezensenten der
NZZ "großen Lesegenuss" bereitet, obgleich er mit den Ergebnissen der Autorin nicht übereinstimmt. Auch die
FR und die
SZ besprechen das Buch ausführlich. Alles andere als eine Zeitverschwendung ist nach Meinung der Kritiker
Harald Weinrichs Parforceritt durch die Geschichte des Zeitmangels, seine Studie
"Knappe Zeit" (). Die Antwort auf die Frage, warum es uns immer an der Zeit fehlt, sucht er in der
Antike ebenso wie in der
Gegenwart, bei Philosophen wie bei Literaten. Die
SZ und die
FAZ bewundern die Souveränität, mit der sich der Autor durch die gesamte
abendländische Geistesgeschichte bewegt.
Auf Zustimmung ist auch
Elmar Holensteins "Philosophie-Atlas" () gestoßen, der die
"Orte und Wege des Denkens" - und zwar weltweit - nachzeichnet. Bei den vielen Karten und Schaubildern ist bei keinem der Rezensenten ein
Aha-Effekt ausgeblieben. Allerdings wird auch gewarnt, dass man sich keine Geschichte der Philosophie erwarten darf, sondern eher einen, wie es der Kritiker der
NZZ formuliert, "
geografischen Begleiter bei der Lektüre philosophiegeschichtlicher Literatur".
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