18.12.2001. Debüts und Klassiker, Sachbücher, politische Bücher und Jugendliteratur: In den Büchern der Saison finden Sie die neuesten, meistgelobten und meistkritisierten Titel aus den Herbst-Literaturbeilagen 2001.
Literatur /
Sachbuch Auch im November und Dezember gibt es eigentlich keinen Roman, der das Prädikat "sensationell" verdiente. Den
größten Enthusiasmus brachten die Kritiker bei neu aufgelegten oder neu übersetzten Büchern wie
Melvilles "Moby-Dick" auf oder
Belyis "Petersburg". Die am besten besprochenen neuen Romane waren:
Literatur
Romane: junge Bücher "Schweigen", der Debütroman des Dramatikers
Joshua Sobol ("Ghetto"). Der namenlose Erzähler dieses Romans ist achtzig Jahre alt und hat seit dem Tag seiner Beschneidung kein einziges Wort mehr gesprochen. Die
Zeit lobt die
atemberaubenden Gedankenspiele des Schweigenden, die Sobol
sprachlich fulminant darbiete, während die
FAZ skurrile Begebenheiten ausmacht, "wie wir sie aus der israelischen Literatur etwa von
Meir Shalev kennen."
Umstritten war
Norman Ohlers Roman
"Mitte", der, wie der Titel schon sagt, in Berlin-Mitte spielt. Die
taz feiert ihn als den
ersten ernsthaften Drogenroman seit Bernward Vespers "Reise". Die
SZ hält dagegen Berlin-Romane schon per se schon für eine
ranzige Angelegenheit und diesen besonders. Und die
Zeit stört sich zwar am
Überkandidelten des Romans, beeindruckt hat sie jedoch die
Präzisionsekstase Ohlers.
Rolf Vollmann feiert in der
Zeit einsam
Jochen Missfeldts Roman
"Gespiegelter Himmel" - eine
herrliche Geschichte über zwei Männer, die sich in
dieselben Frauen verliebt haben. Vollmann hat das Buch an
Arno Schmidt und an Döblin erinnert, nicht nur in den Anspielungen, sondern auch in den Naturschilderungen, und zwar bevor diese
"Manieren" entwickelt haben.
Gelobt wurde auch
Dave Eggers autobiografischer Roman
"Ein herzzerreißendes Werk von umwerfender Genialität" über zwei Brüder - der eine 22, der andere 8 - die plötzlich Waisen werden und nach Kalifornien gehen, um ein neues Leben zu beginnen. Die
SZ bewundert die
draufgängerische, selbstverliebte, aber auch selbstironische Erzählweise Eggers', und auch die
taz ist beeindruckt von den
postmodernen Spielchen des Autors.
Romane: alte Bücher Kein Autor wurde in dieser Saison so
stürmisch gefeiert wie die Übersetzerin
Gabriele Leupold, die
Andrej Belyis symbolistischen Roman
"Petersburg" (von 1913) neu übertragen hat. Erst in Leupolds Übersetzung, so die
FAZ, könne der deutsche Leser die
experimentelle Kühnheit dieses Romans entdecken. Die
SZ preist das
rasende Tempo des Romans
- zu viele Metaphern und Allegorien,
alle irrwitzig und irrwitzig schnell - und verneigt sich neben
NZZ und
Zeit tief vor der Übersetzerin.
Der Herausgabe des
Melville-Klassikers Moby-Dick ist ein Streit vorausgegangen, der damit endete, dass der ursprüngliche Übersetzer Friedhelm Rathjen durch Matthias Jendis ersetzt wurde. Rathjens Übersetzung ist in Auszügen in der Literaturzeitschrift
Schreibheft erschienen. Die Rezensenten, die die Übersetzungen miteinander verglichen haben, geben jedoch im großen und ganzen der Version von Jendis den Vorzug. Joachim Kalka, der in der
FAZ Moby Dick "neben dem Faust" als eines der
großen Bücher des Satanismus bezeichnet - "das wichtigste zwischen Milton und Dostojewski" - hebt hervor, dass sich Jendis erstmals "auf einen gesicherten Originaltext" beziehen konnte. Er bevorzugt die Jendis-Übersetzung, weil er im Gegensatz zu Rathjen mehr auf die
Lesbarkeit geachtet habe. Gelobt wird auch der "wertvolle, über hundert Seiten lange Kommentaranhang" des Herausgebers Daniel Köske. Auch
NZZ-Kritiker Uwe Pralle spricht Jendis höchstes Lob für seine Übersetzung zu: Sie sei
hervorragend lesbar, weder habe Jendis das Sperrige von Melvilles stilistischen Anstrengungen ausgelöscht, noch zugunsten einer modernen Lesart gewagte Arabesken und Sprachlabyrinthe des geradezu
avantgardistischen Autors geopfert.
Wer sich in Moby-Dick verliebt hat, kann gleich in den
Reisetagebüchern Melvilles weiterlesen und verfolgen, wie Melville
nach Methode reiste, um Eindrücke für seine Romane zu sammeln, so die
FAZ, die auch die
schöne Ausgabe des Buchs lobt.
Besonders hervorzuheben sind noch
Elizabeth Bowens 1929 erstmals erschienener,
gänzlich unsentimentaler (SZ) Roman
"Der letzte September" über die letzten Tage der englischen Oberschicht in Irland kurz vor der Revolution, den die
FAZ unangestrengter, gelassener, weniger stilisiert findet als die Prosa einer Virginia Wolf.
Mela Harwigs Roman von 1931
"Bin ich ein überflüssiger Mensch?" über eine Sekretärin, deren
virtuose Geständnispraktiken die
SZ begeistert haben. Schon der Titel eines Romans von
Franziska Gräfin zu Reventlow zeigt, dass er seit seinem Erscheinen 1916 nichts von seiner Aktualität verloren hat: "
Der Geldkomplex. Roman, meinen Gläubigern zugeeignet". In der
FAZ rühmt Annette Pehnt die
geistreichen Ausführungen zur Psychologie des Geldes und die
Parodie auf einen Psychoanalyse, die noch die Geldnot auf verdrängte Sexualität zurückführen will.
Weiter feiert in der
FAZ Joachim Kalka fünf Bände mit
phantastischen Erzählungen von
Howard Phillips Lovecraft. Schon die Präsentation des Verlags hat ihn hingerissen. Die Bände sind "massiv, üppig in
graues Samtleinen gebunden, übersät mit
tiefroten Sprenkeln, die gleichermaßen Blutspritzer wie ferne Gestirne sein könnten".
Romane: andere Bücher Schließlich seien noch zwei Bücher empfohlen, die sich nicht so recht einordnen lassen: Da wäre einmal
Ilse Aichingers Autobiografie
"Film und Verhängnis", eine faszinierende" (
FAZ) Mischung aus
Lebensbeschreibung und
Besprechungen von Filmen, die Aichinger während der Kriegsjahre gesehen hat, als viele ihrer Verwandten deportiert und ermordet wurden. Laut
NZZ sind es weder Essays noch Kritiken, sondern vielmehr
Beziehungsgeschichten zwischen Subjekt und Film, in denen es darum gehe, wie der Mensch im Film Zuflucht und Distanz zu sich selbst finde.
"Etwas Großes" sei das, so die
NZZ, während die
FAZ vor allem Aichingers die
besondere Eleganz und Tiefensicht preist. Mit höchstem Lob wurde auch
Anne Carsons Roman in Versen
"Rot" bedacht. Eine
ergreifende Schilderung einer obsessiven Liebe, schreibt die
FAZ und die
SZ rühmt den
harten, präzisen Ton und mitleidslosen Blick Carsons. Von hier lässt sich elegant überleiten zur
Lyrik Mit einhelliger Freude wurde der erste, auf Deutsch übersetzte Gedichtband
"Die Farben des Kartographen" von
Elisabeth Bishop aufgenommen. Ein
Riesenschatz, jubelt Wilhelm Genazino in der
SZ. Er ärgert sich allerdings sehr über die "konzeptlose" Auswahl. Die
FAZ rühmt die
subtile Ironie der Autorin, und die
FR ihre
große Imagination. Gelobt wurden auch
Paul Wührs deftige und
erotische Gedichte in
"Leibhaftig", und Joachim Sartorius bricht in der
SZ eine Lanze für
Andrea Zanzottos funkelnde Sprache in
"La Belta - Pracht".
Kinder- und Jugendbücher Ein
Schutzengel, nicht schön und ätherisch, sondern als
vollbusige, gesetztere Dame mit einem
Pflaster auf der Nase, hat die Rezensenten entzückt.
Jutta Bauers Kinderbuch
"Opas Engel" lobt die
SZ als
heiter und beglückend,
und die
Zeit musste am Ende
tief gerührt schlucken. Viel gelobt wurden auch das chinesische Kinderbuch
"Zhong Kui" von
Jianghong Chen über einen Besuch in der
Peking-Oper, dessen
zarte Tusche-Zeichnungen die Kritiker von
SZ und
NZZ hingerissen haben, Donaldson/Schefflers
"Für Hund und Katz ist auch noch Platz" über die Freundschaft zwischen einer
Hexe und verschiedenen Tieren und Rotraut Susanne Berners Sammlung von
Weihnachtsgeschichten und -liedern "Apfel, Nuss und Schneeballschlacht", das die
SZ "strahlend heiter, erfrischend komisch und
zärtlich behutsam" findet.
Großes Lob ernteten auch zwei
Märchenbücher: Da wären einmal die bei Haffmans erschienenen
"Kinder- und Hausmärchen" der
Gebrüder Grimm, allesamt literarische
Meisterstücke, so Peter Rühmkorf in der
SZ. Die
FAZ verspricht dem Leser, "fast vier Wochen lang
glücklich einschlafen und freudig erwachen" zu können. Und zum Zweiten die im Wallstein Verlag erschienenen,
höchst kunstvoll erzählten (
FAZ)
"Neuen Volksmärchen der Deutschen" von
Benedikte Naubert (1756-1819).
Und schließlich hätten wir noch zwei
Jugendsachbücher anzubieten:
Bernd Schuhs didaktisch wertvolles (
SZ)
"Das visuelle Lexikon der Umwelt" und
Reinhold Zieglers Geschichte des Automobils
"Der Traum vom Fahren", aus dem man, wie die
FAZ versichert,
sehr gut vorlesen kann.
Literatur / Sachbuch Die
vollständig ausgewerteten Literaturbeilagen vom Herbst 2001 finden Sie
hier. Wir wünschen viel Spaß beim Lesen.