24.10.2001. Geben wir es zu: Eine echte Sensation ist nicht dabei, jedenfalls nicht bei den deutschen Romanen. Die taz meldet zwar ein Wiederaufleben des deutschen Gesellschaftsromans (Hettche, Nieman, Merkel) und liegt damit wohl nicht falsch - doch wurden die deutsche Literaturkritiker gewohnt eloquent damit fertig. Um zu erleben, wie sich Kritiker verlegen am Kopf kratzten, musste man die ersten Rezensionen zu Michel Houellebecqs bisher nur auf Französisch erschienenen Roman "Plateforme" lesen.
Literatur / Sachbuch Geben wir es zu: Eine echte Sensation ist nicht dabei, jedenfalls nicht bei den deutschen Romanen. Die
taz meldet zwar ein Wiederaufleben des
deutschen Gesellschaftsromans (Hettche, Nieman, Merkel) und liegt damit wohl nicht falsch - doch wurden die deutsche Literaturkritiker gewohnt eloquent damit fertig. Um zu erleben, wie sich Kritiker verlegen
am Kopf kratzten, musste man die ersten Rezensionen zu
Michel Houellebecqs bisher nur auf Französisch erschienenen Roman "Plateforme" lesen (
FAZ,
SZ,
taz).
Und auch das arme Griechenland, Gastland der diesjährigen Buchmesse, erregte wohl auch wegen des 11. Septembers, der alles überschattete, nicht die angemessene Aufmerksamkeit. Aber vielleicht ist die völlige Abwesenheit eines Trends ganz gut. So kann jeder unbelästigt von "du musst" nach eigenen Entdeckungen suchen.
Guten Stoff gibt es jedenfalls reichlich.
Literatur
Belletristik und Lyrik Was hat Griechenland zur Buchmesse mitgebracht? Romane, ja, aber vor allem
Lyrik: Einen
heiligen Respekt brachten die Rezensenten zwei Gedichtbänden des 1996 verstorbenen griechischen Nobelpreisträgers Odysseas Elytis entgegen: "
To Axion Esti / Gepriesen sei" und "
Oxopetra Elegien / Westlich der Trauer". Es sind
religiöse, aber dennoch
moderne Gedichte, so die Kritik. Auch Jannis Ritsos' Gedichtband "
Die Umkehrbilder des Schweigens" muss erwähnt werden, den die
SZ wärmstens empfiehlt. Bei den
Romanen wurde Ersi Sotiropoulos' "
Bittere Orangen" gut besprochen: Es geht um eine
seltsame Geschwisterliebe und einen Mordversuch auf einer
Intensivstation. Die
FR bewundert den
konsequent poetischen Ansatz, und die
taz ist beeindruckt von den
krankhaften Erregungszuständen der Figuren. Sehr gelobt wurde auch Aris Alexandrous "
Die Kiste" von 1974. Der Roman spielt in den
Bürgerkriegswirren 1949. Im Zentrum steht der Transport einer Kiste, an dem sich "die Befehlsketten eines schemenhaften Partei- und Armeeapparats" offenbaren (
FAZ).
Unter den deutschen Romanen wurde Martin Mosebachs "pikaresker Gesellschaftsroman" (
SZ) "
Der Nebelfürst" mit uneingeschränktem Lob aufgenommen: Ein gewisser
Herr Lerner aus Berlin reist Ende des 19. Jahrhunderts zu einer Insel südlich von
Spitzbergen, um sie in Besitz zu nehmen. Die
FAZ bewundert die
erzählerische Bravour und Eleganz des Autors und sieht ganz beiläufig
Vorformen der New Economy eingefangen. Die
FR erklärt begeistert, dieser Roman zeigt, was Literatur eigentlich ist, nämlich eine
Reise ins Blaue hinein.
Das perfekte Kontrastprogramm dazu dürfte "
1979" von Christian Kracht sein. Die
FAZ kürte den Roman über einen Innenarchitekten, der am Vorabend der iranischen Revolution in Teheran den
dekadenten Dandy gibt, um schließlich seine innere Freiheit als
vollkommen Unterworfener in einem chinesischen Arbeitslager zu finden, zum "
erstaunlichsten Roman dieses Herbstes": Das Buch sei ein Pamphlet gegen die "
moralische Verrottung des Westens". "Erstaunlich" war ein gut gewähltes Wort: Die
SZ konnte das Buch schlicht
nicht ernst nehmen, für die
taz liest es sich immerhin wie ein
ganz subtiler Splatterroman, und die
FR wundert sich, wo der Dandy im Arbeitslager stecken bleibt: irgendwo
zwischen Dummheit und Zen.
Eine von der
NZZ hoch gelobte Auseinandersetzung mit der
politischen Reislamisierung ist ein
1971 im Original erschienener Roman aus dem
Sudan: Tajjib Salichs "
Bandarschah". Und auch der türkische Autor Orhan Pamuk erzählt in "
Rot ist mein Name" anhand eines mörderischen Intrigenspiel im
höfischen Buchmalermilieu Istanbuls im 16. Jahrhundert vom Streit zwischen islamischen Traditionalisten und westlich orientierten Neuerern. Die
SZ bewundert die
doppelte Perspektive des Autors: "mit einem Bein im Okzident und mit dem anderen im Orient."
Beeindruckt, aber auch ziemlich erschöpft haben die Kritiker Peter Esterhazys "
Harmonia Caelestis" besprochen. Erzählt wird die Familiengeschichte der Esterhazys als
Epochenroman der k.u.k.-Monarchie und das ganz ohne Sentimentalität, wie übereinstimmend festgestellt wird. Eine Art "
Springprozession durch die Geschichte der Gewalt" ist das, erklärt die
FR, die
FAZ brach irgendwann unter den
endlosen Assoziationsketten zusammen. "Bedeutend kompliziert", sagt die
Zeit dazu. Nur die
SZ hatte offenbar gar keine Mühe bei der Lektüre: Sie findet das Buch
ausgesprochen anregend, zumal der Erzähler wie ein
Luftgeist durch die Generationen gleite. Großes Lob von allen erfährt auch die Übersetzerin Terezia Mora. Wer sich für die ungarische k.u.k.-Zeit interessiert, dem sei auch
Bela Balazs' autobiografischer Roman "
Die Jugend eines Träumers" empfohlen, dem
NZZ und
FAZ begeisterte Besprechungen gewidmet haben.
Und welches sind nun die
deutschen Gegenwartsromane, über die die
taz schreibt? Da hätten wir neben "1979" Norbert Niemanns "
Schule der Gewalt" über einen Lehrer, der sich in seine 17jährige Schülerin verliebt und schließlich
Opfer eines Schüleranschlags wird. Thomas Hettches von allen Zeitungen besprochener Roman "
Der Fall Arbogast", die Geschichte eines
Sexualmords in den fünfziger und sechziger Jahren, dessen "theoretischer Überbau" den Rezensenten gelegentlich Bauchschmerzen bereitet hat. Und Rainer Merkels "
Das Jahr der Wunder", ein "solides Debüt" (
FAZ) über einen Medizinstudenten, der in einer
Werbeagentur landet. Erwähnt werden muss hier auch noch Thomas Meineckes "
Hellblau" über vier junge Leute aus Berlin und den USA, die sich über hybride Kulturen, Multikulturalismus, Antisemitismus, Identität, Maskerade und Travestie unterhalten. Die
taz nennt das
postkoloniale Literatur, die
NZZ Un-Roman.
Auch zwei große
amerikanische Gegenwartsromane sind anzukündigen: Denis Johnsons "
Engel", dem die
SZ ihren Aufmacher widmete, beschreibt, so Thomas Steinfeld, die
dunkle Seite der amerikanischen Gesellschaft. Die
FAZ erlebte bei der Lektüre gar "
Höllenfahrten ins zerquälte Bewusstsein". Gelobt wurde auch Neal Stephensons "
Cryptonomicon", ein gelungener Versuch, "der scheinbar so geschichtsversessenen
Cybergegenwart eine Vergangenheit zu geben" (taz).
Weitere Romane, die uns aufgefallen sind: E.L. Doctorows
Ideenroman (
Zeit) "
City of God", Stewart O'Nans "
Das Glück der anderen", eine
apokalyptische Geschichte über eine Epidemie in der amerikanischen Provinz. Clara Sanchez' "
Letzte Notizen aus dem Paradies", ein spanischer Roman, dessen
Zaubereffekt die
FAZ feiert, Frode Gryttens
warmherziger und hoffnungsvoller (
Zeit) Roman "
Was im Leben zählt" und Lavinia Greenlaws Roman "
Die Vision der Mary George", der ein
polyperspektivisches Bild der
englischen Provinz in den siebziger Jahre zeichnet, hochgelobt von SZ, FAZ und NZZ.
Böse Verrisse hat sich dagegen Umberto Eco mit "
Baudolino" eingehandelt: Die
FAZ nervt der
Imponiergestus, die
Zeit vergleicht Eco mit
David Copperfield, und die
SZ nennt das Buch einen
norditalienischen Exportschinken.
Krimis Zwei Krimis werden empfohlen: Wolfgang Haas ist in "
Wie die Tiere" hinter einem
verrückten Hundehasser her - eine "bitterbösen Milieuzeichnung", lobt die
NZZ, und die
Zeit schreibt:
einfach wunderbar. Und Heinrich Steinfests Stuttgarter Krimi "
Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte" reißt die Zeit zu dem Ausruf
Herrlich! Göttlich! Steinfest! hin. Bernhard Schlinks "
Selbs Mord" kam dagegen nicht so gut an.
Briefe Bei den
Briefen ist vor allem auf zwei Neuerscheinungen hinzuweisen: Heinrich Bölls "
Briefe aus dem Krieg 1939-1945" haben die Kritiker vor allem wegen der
Offenheit erstaunt, mit der Böll das
Soldatenleben beschreibt: "Es gibt, streng genommen, gar nichts ihresgleichen", schreibt die
FAZ. Die
Zeit lobt die
vorzügliche Edierung. Der unter dem Titel "
Hernach" erschienene Briefwechsel zwischen Gottfried Benn und seiner letzten Geliebten Ursula Ziebarth wurde dagegen zwiespältig aufgenommen. Vor allem die später eingefügten Kommentare Ziebarths, der
verheimlichten Frau (Klaus Theweleit in der
taz), haben die Rezensenten verstört.
Kinder- und Jugendbücher
Was soll man empfehlen? Klicken Sie sich einfach durch die Rubriken: Die Kritiken sind zu 99 Prozent Lobeshymnen. Besonders aufgefallen sind uns "
Die ganze Welt" (ab 4 Jahre) von Katy Couprie und Antonin Louchard, zwei Neuausgaben von
Kinderbuchklassikern: Rudyard Kiplings "
Dschungelbuch" und Mark Twains "
Tom Sawyers Abenteuer" und Phillip Gwynnes australischer Jugendroman "
Wir Goonyas, ihr Nungas" über den alltäglichen Rassismus, bei dem die Zeit nicht wusste, ob sie
lachen oder weinen sollte. Ein Sachbuch für Jugendliche ist noch zu empfehlen: Sylke Tempels "
Das alte Rom" findet die
SZ zugleich
federleicht und tiefgründig.
Literatur / Sachbuch Die
vollständig ausgewerteten Literaturbeilagen vom Herbst 2001 finden Sie
hier. Wir wünschen viel Spaß beim Lesen.