Bücher der Saison

Politische Bücher

Eine Auswahl der interessantesten, umstrittensten und meist besprochenen Bücher der Saison.
09.11.2020. Tima Kurdi erzählt die Geschichte ihres kleinen Neffen Alan, des ertrunkenen Flüchtlingskindes am Strand. Johny Pitts reist durch Afropa. Hamed Abdel-Samad sucht die Liebe zu Deutschland. Eva Kienholz schickt eine Reportage aus den Tiefen des deutschen Rechtsextremismus.
In diesen polarisierten Zeiten sind sozusagen alle Bücher politisch, selbst Romane wie Ben Lerners "Topeka Schule" (siehe bei der Belletristik). Vielleicht ist es darum richtig, mit einem Buch anzufangen, das individualisiert: Denn es sind die Geschichten von Einzelnen, die die großen Themen erden und die zugleich Empathie und Differenzierung ermöglichen.

Einzelne

CoverTima Kurdi schreibt die Geschichte des "Jungen am Strand" (bestellen), jenes Kindes, das tot mit dem Gesicht im Wasser lag und dessen Bild um die Welt ging. Tima Kurdi ist die Tante des Jungen. Sie war schon 1992 nach Kanada ausgewandert, aber hielt den Kontakt mit ihrer Familie in Syrien. Und damit erzählt sie auch die Geschichte ihres Bruders Abdullah, der von einer islamistischen Miliz schwer gefoltert worden war. Besprochen wurde ihr Buch bisher von Carsten Hueck in Dlf Kultur. Ein berührendes und "bestürzendes" Buch, das einer auf Statistiken reduzierten Menschengruppe beispielhaft "ein Gesicht zurückgibt", lobt der Rezensent. Im Interview mit dem Bayerischen Rundfunk sagt Kurdi: "Es ist die wahre Geschichte, die sonst keiner erzählen kann. Mir war es wichtig, die Namen meiner Familie zu korrigieren und das Alter der beiden Kinder. Bis heute wird der Name meines Neffen falsch geschrieben: "Aylan" statt Alan, wie er richtig heißt.

Cover: LebenswerkUnd noch eine Einzelne: Streitbarer als sie ist keine. Alice Schwarzer legt nach "Lebenslauf" von 2011 den stolz betitelten Band "Lebenswerk" (bestellen) vor, wo es um die letzten fünfzig Jahre ihres Wirkens geht. Und man muss nur aufzählen, bei welchen Debatten sie ganz vorne mit dabei war um -jenseits aller Meinungsverschiedenheiten, - anzuerkennen, wie prägend sie tatsächlich war. Von der Debatte um Abtreibung in den Siebzigern, über die Debatte zur Pornografie in den Achtzigern bis hin zur heutigen Debatte über den Islamismus. Einem ist Schwarzer dabei stets treu geblieben: ihrem übergroßen Ego, konstatiert Shirin Sojitrawalla im Deutschlandfunk. Aber was soll's: Die ganze Bandbreite und Ausdauer von Schwarzers Engagement ist schier beeindruckend, findet sie. Wer wissen möchte, was sich bei uns in der Frauenfrage in den letzten fünfzig Jahren getan hat, lese dieses Buch, rät Sojitrawalla. In der SZ hat Meredith Haaf Schwarzers Memoiren besprochen. Haaf gehörte als Missy-Autorin zur Speerspitze des neuen Genderfeminismus, der Schwarzer hasst und die Frauenfrage abgeräumt hat. Aber diesem Lebenswerk kann und will sie den Respekt nicht versagen.


Rassismus und Antirassismus

Themen haben auf dem Buchmarkt ihre Karrieren und Niedergänge. Unter den politischen Büchern findet sich zum Beispiel im Moment nicht so viel Kapitalismuskritik. Es geht eher um Identitäten, um Extremismen und ums Zusammenleben.

CoverRassismus und Antirassismus sind nach wie vor Riesenthemen. Ibram X. Kendis "How to Be an Antiracist" (bestellen) stand auf Platz 1 der New-York-Times-Bestsellerliste. Die Flut der Bücher zu diesem Thema ist vor allem in Amerika unabsehbar. Kendi drängelt sich in der Bestsellerliste etwa mit Isabel Wilkersons Buch "Caste" (Originalausgabe, die Autorin glaubt, im indischen Kastensystem eine Analogie für amerikanischen Rassismus gefunden zu haben) und natürlich mit allen Büchern von Ta-Nehisi Coates. Das Interessante an Kendis Buch, glaubt man Afua Hirsch im Guardian (hierzulande ist es bisher nur in Dlf Kultur besprochen) ist Kendis persönliche Herangehensweise: Die Last von 500 Jahren Rassismus, die er auf seinen Schultern fühlt, so dass er sogar seine Krebserkrankung damit in Verbindung bringt, die Bewunderung für seine Eltern, christliche Bürgerrechtler, die Intelligenz seiner Reflexion - hier dürfte er sich also mit Ta-Nehisi Coates treffen.

Cover: AfropäischCoverAuf sehr großes Interesse stieß Johny Pitts Streifzug "Afropäisch" (bestellen), eine Reise durch europäische Länder mit der Frage, ob es so etwas wie eine schwarze europäische Identität gibt. Wohl nicht. Aber Hernán D. Caro, der Rezensent der FAS lernte aus dem Buch, dass Europa keineswegs einfach nur weiß ist - und es beinahe nie war. Ob frühe philosophische oder künstlerische Einflüsse, ob heutige Musik- und Party-Szene, über die zu schreiben das ursprüngliche Ziel des britischen Radio-Moderators waren -, immer ist das Europäische durchsetzt und eingefärbt von Menschen des Nachbarkontinents. Außerdem zum Thema, Toni Morrisons gesammelte Essays unter dem Titel "Selbstachtung" (bestellen): Inwiefern ist der Rassist sein eigenes Opfer, fragt sie dort etwa. Alle Rezensenten berichten hoch angeregt von ihren Lektüren.


Integration und Islam

Cover: Aus Liebe zu DeutschlandCoverViele Bücher handeln von Identitäten. Hamed Abdel-Samad, von vielen als Islamkritiker einsortiert, bekennt in seinem jüngsten Buch seine "Liebe zu Deutschland" (bestellen), nicht ohne Kritik: "Ein Land, das sich seiner Identität und Werte nicht sicher ist, kann weder dem eigenen Volk ein stabiles Selbstwertgefühl geben, noch kann es Einwanderern eine attraktive Identität anbieten oder eine selbstbewusste Rolle in der Staatengemeinschaft übernehmen." SZ-Rezensentin Nina von Hardenberg folgt diesem komplexen Bekenntnis zu Deutschland teilweise mit Verblüffung. Es fällt auf, dass auch ein anderer prominenter "Islamkritiker", Ahmad Mansour, in seinem neuen Buch "Solidarisch sein!" (bestellen) den Fokus weiter aufzieht. Beide Autoren warnen vor einem allzu großen deutschen Laissez-faire gegenüber einem Rechtsextremismus, der nicht aus deutschen Wurzeln, sondern dem Islamismus kommt. Aber Mansours Buch, notiert Hardenberg, fordert von den Deutschen auch mehr Verständnis für die Situation von Migranten ein. Vielleicht funktioniert eine neue Selbstverständigung für Deutschland nur mit Autoren, die zwar aus der Fremde kommen, aber auf ihrer Zugehörigkeit bestehen.

Cover: Der eingebildete RassismusCoverGibt es einen "antimuslimischen Rassismus"? Nein, ruft Pascal Bruckner in "Der eingebildete Rassismus" (bestellen) und das nicht nur, weil der Islam eine universalistische und missionierende Religion ist, die jeden nimmt (das gehört ja zu den sympathischen Seiten von Islam und Christentum), sondern weil es nicht angeht, eine Religion mit "Rasse" gleichzusetzen und sozusagen zu einem unveränderlichen Merkmal von Personen zu erklären, das unter Schutz gestellt werden muss. Religion ist dazu da, kritisiert zu werden, und der Islam wird weithin am besten von Muslimen kritisiert (und damit vielleicht auch verbessert), schreibt Bruckner. Edith Kresta dankt ihm in der taz für die "selbstbewusste Verteidigung" universalistischer Ideen. Noch nicht besprochen ist Caroline Fourests Buch "Generation beleidigt" (bestellen), das ebenfalls über linke Identitätspolitik nachdenkt: Fourest beklagt vor allem auch den angelsächsischen Blick auf den französischen Laizismus und überhaupt die Schemata politischer Korrektheit, die aus der amerikanischen Debatte abgeleitet werden, in Europa aber nicht unbedingt Sinn ergeben.

Nochmals empfohlen seien auch die "Cynical Theories" (Originalausgabe) von Helen Pluckrose und James Lindsay, die beschreiben, wie sich der zunächst ultraskeptische Postmodernismus in den "Social-Justice-Theorien" - also Gender, Postcolonial, Fat und Queer Studies und Critical Race Theory - zusehends zu einem immer betonhärteren Dogmatismus verfestigte, der heute in den Geisteswissenschaften an den amerikanischen Unis herrscht und zusehends das Denken in Institutionen und Unternehmen erobert - bis hin zu den Modemagazinen.


Rechtsextremismus und Antisemitismus


Cover: Ihr KampfRechtsextremismus ist ein bleibendes Thema in der Debatte. Besonders empfohlen wurde von der taz Eva Kienholz' Reportage "Ihr Kampf" (bestellen). Es geht nochmal um den "Flügel" der AfD, also um Björn Höcke und Co., die ungenierten Rechtsextremisten in der Partei. Die hat sich angeblich von ihnen getrennt. Aber geht das überhaupt? Kienholz hat laut Klappentext auch undercover recherchiert und behauptet, dass der Flügel die AfD wohl eher unterwandert. taz-Rezensent David Begrich hat das Buch empfohlen: Man lerne die inneren Mechanismen der Partei kennen. Die dichten Beschreibungen der "Flügel"-Treffen sowie die Gespräche mit ehemaligen AfD-Funktionären liest Begrich ebenfalls mit Interesse.

Cover: Digitaler FaschismusDes gleichen Themas, aber methodisch ganz anders, nehmen sich die Soziologen Manuela Freiheit, Wilhelm Heitmeyer und Peter Sitzer in "Rechte Bedrohungsallianzen" (bestellen) an. Aufs Genaueste beschreiben die Autoren laut Jens Balzer in Dlf Kultur, wie Intellektuelle, Politiker, Parteien, aber auch Terrorgruppen und Bewegungen wie die Pegida gemeinsam die freiheitliche Demokratie bedrohen, und zwar in zunehmendem Maße. Dabei entwickeln die Autoren den Begriff des "konzentrischen Eskalationskontinuums". Im Buch heißt es dazu: "Ganz außen stehen menschenfeindliche Einstellungen in der Bevölkerung, im Zentrum terroristische Zellen, dazwischen organisierte Akteure, 'Vordenker', systemfeindliche Milieus und Unterstützernetzwerke. Die Gewaltbereitschaft nimmt von außen nach innen zu, die jeweils äußere Schicht liefert ihrer inneren Nachbarin Legitimation." Wäre dies nicht auch ein Modell, um den Islamismus zu erforschen? Außerdem weisen Mike Fielitz und Holger Marcks in ihrem Buch "Digitaler Faschismus" (bestellen) mal wieder dem Internet die Hauptverantwortung für den heute grassierenden Rechtsextremismus zu: Mit Schrecken muss Dlf Kultur-Rezensentin Vera Linß erkennen, wie weit rechte Sprache bereits den öffentlichen Diskurs bestimmt.

Cover: Terror gegen JudenCoverBegleitend hinzuziehen sollte man Ronen Steinkes Buch "Terror gegen Juden" (bestellen): Es beeindruckte FAZ-Rezensent Günther Nonnenmacher durch akribische Recherche und dezidierte Beschreibungen des rechten, aber auch linken wie des muslimischen Antisemitismus." Weiter zu nennen ist das Buch "Antisemitismus - Wo er herkommt, was er ist - und was nicht" (bestellen) der britischen Rabbinerin Julia Neuberger, das in Deutschland bisher nur von Harald Bergsdorf in der FAZ besprochen wurde, der die historische Gelehrtheit der Autorin preist. Lesenswert ist das Vorwort Neubergers (hier als pdf-Dokument), das sie extra für ihre deutschen Leser geschrieben hat - man findet es auf den Seiten des Berenberg Verlags. Neuberger gehörte zu den scharfen Kritikerinnen Jeremy Corbyns, dem erst jüngst wieder bescheinigt wurde, dass er die antisemitischen Tendenz in der Labour-Partei als Vorsitzender zuließ und selbst vertrat. In der linken britischen Presse wurde das Buch so gut wie gar nicht besprochen - nur in konservativen Zeitungen wie der Times und dem Telegraph, deren Artikel hinter Paywalls versteckt sind.