13.11.2019. Mit Tarjei Vesaas in ein norwegisches Eisschloss, Mircea Cartarescus Farbrausch in Bukarest, Abubakar Adam Ibrahim über eine Amour fou in Nigeria, mit Salman Rushdies Quichotte auf USA-Reise, zwei Frankensteins von Ahmed Saadawi und Jeanette Winterson und ein Netflix-Wiedergänger.
Gastland Norwegen
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Henrik Ibsen oder
Knut Hamsun,
Karl-
Ove Knausgard oder
Tomas Espedal,
Jostein Gaarder oder
Maja Lunde - Literatur aus Norwegen ist wahrlich kein Geheimtipp. Die obligatorischen Länderporträts und Journalistenreisen fielen dementsprechend schmal aus, einige literarische Entdeckungen gibt es dennoch zu annoncieren. Und eine Neuigkeit verkündete Tomas Espedal im
taz-
Porträt fast nebenbei: "Ich glaube, dass
Autofiktion in Norwegen an ein
Ende gekommen ist", sagte der Autor, der wie Knausgard bereits in den Achtzigern begann, bekenntnisfreudig aus dem eigenen Leben zu berichten. Eine literarische Reise durch das Gastland steht in der
ARD-Mediathek
online.
Eine wirklich spannende Entdeckung scheint dieser Roman der jungen norwegischen Autorin
Maria Kjos Fonn zu sein, den bisher allerdings nur Sonja Hartl im
Dlf-Kultur besprochen hat.
"Kinderwhore" (
bestellen) bezeichnet zunächst einmal einen Kleidungsstil, den die Sängerin Courtney Love prägte - kurzes Kleidchen, Schleifen im Haar, Riemchensandalen, alles sehr kindlich, aber das verschmierte Makeup dazu erzählt von
Sex und Gewalt, klärt uns Hartl auf. Sie folgt hier der jungen Charlotte, Tochter einer drogenabhängigen Prostituierten, die fast immer alleingelassen und schließlich von einem Freier ihrer Mutter vergewaltigt wird, erzählt die Rezensentin. Im Versuch, Autonomie zu gewinnen, stylt sie sich bald nach dem Vorbild der Mutter selbst als "Kinderwhore" und prostituiert sich. Ein Happy End sollte man nicht erwarten, warnt Hartl vor, hebt aber besonders die "radikal subjektive", zugleich
poetische Sprache hervor.
Sehr norwegisch erscheint hingegen
Merethe Lindströms Roman
"Tage in der Geschichte der Stille", (
bestellen) in dem eine gealterte Frau versucht zu ergründen, weshalb sich ihr Mann in Schweigen zurückgezogen hat - und auf diese Weise immer mehr mit sich selbst konfrontiert wird. Sparsam im Ton, bitter und spannt, lobt Harald Eggebrecht in der
SZ, eine "
Poesie der Trostlosigkeit", die geschickt die Themen Erinnerung, Verdrängung und
Antisemitismus verdichtet, aber auch ein paar Längen hat, urteilt Heidemarie Schumacher im
Dlf.
Und was macht
Tomas Espedal, wenn er nicht mehr die eigene Biografie seziert? Er wendet sich in seinem neuen Buch
"Das Jahr" (
bestellen) tagespolitischen Themen zu, der Flüchtlings- und Klimakrise etwa, und studiert
Petrarcas "
Liebesgedichte", anhand derer er die unglückliche Liebe zu einer jüngeren Frau verarbeitet, aber auch über die Liebe seiner Eltern reflektiert. Ganz ohne Privates geht es offenbar doch nicht.
Taz-Kritiker Jens Uthoff ist einmal mehr eingenommen von Espedals stillem, zurückgenommenem,
Widersprüche balancierenden Erzählton, nur Nico Bleutge meint im
Dlf-Kultur: Zu nüchtern, zu wahllos die tagespolitischen Einschübe im Texte - eher die Simulation eines
Langgedichts.
Mit
"Das Eis-Schloss" (
bestellen), diesem im kleinen Guggolz-Verlag erschienenen Roman von
Tarjei Vesaas gibt es offenbar einen wahren
Schatz zu entdecken: Für
FAZ-Kritiker Matthias Hannemann gehört das 1965 im Original erschienene und von Hinrich Schmidt-Henkel virtuos übersetzte Buch schon jetzt "zu den schönsten Büchern", "die ihm je auf den Tisch gelegt wurden". Erzählt werde die ebenso
lyrische wie märchenhafte Geschichte zweier elfjähriger Mädchen an der Schwelle zur Pubertät, die sich anfreunden, bis die eine spurlos im titelgebenden Eisschloss verschwindet, während die andere sich in Trauer, Einsamkeit und die Erinnerung an die verlorenen Freundin zurückzieht. Der Kritiker nimmt viele kluge Gedanken zur Schönheit der Natur, zu Freundschaft und Trauerbewältigung mit. Im
Dlf-Kultur empfiehlt Manuela Reichart dieses kraftvoll poetische Buch als perfekten Einstieg in die norwegische Literatur. In die Grandezza eines
Grand Hotels der 80er Jahre in den norwegischen Bergen entführt uns indes
Erik Fosnes Hansen, dessen Roman
"Hummerleben" (
bestellen) wir schon im letzten
Bücherbrief empfohlen haben.
ExpeditionenDiesen Bücherherbst gibt es einen deutlichen Trend zur Wiederbelebung von
Klassikern und anderen Untoten. Ein Don Quichotte, zwei Frankensteins und auch der Mystiker Jakob Frank geistern durch die jüngsten Romane. Viel Applaus gab es für
Salman Rushdies "Quichotte" (
bestellen), der, begleitet von Sancho, als pensionierter, indischstämmiger Pharmavertreter quer durch die USA der Gegenwart reist, auf Alltagsrassismus,
Cyber-
Spione,
Fake News und die
Opioid-
Krise trifft, aber natürlich auch allerhand Liebes- und Familienkonflikte auszufechten hat. Atemberaubend, meisterhaft, ein Lesegenuss, jubeln die KritikerInnen: In der
FR erfreut sich Arno Widmann gerade an den im
New Statesman kritisierten
Takt- und
Geschmacklosigkeiten des Romans.
Dlf-Kritiker Johannes Kaiser amüsiert sich über ein wenig schmeichelhaftes Spiegelbild der amerikanischen Gesellschaft, und
FAZ-Kritiker Andreas Platthaus bewundert, wie Rushdie
alle Stilregister zieht. Im
Zeit-Online-
Interview spricht Rushdie über das Buch, Donald Trump, die Klimakrise und andere Bedrohungen.
Gleich zwei frischgeborene Frankensteins begegnen uns in diesem Herbst, wobei
Ahmed Saadawis Roman
"Frankenstein in Bagdad" (
bestellen) im irakischen Original bereits 2005 erschienen ist. Zwei Jahre nach der amerikanisch geführten Intervention im
Irak und dem Sturz Saddam Husseins lässt Saadawi hier ein aus den Leichenteilen der Opfer von Bombenattentaten in Bagdad erschaffenes Monster durch die Stadt geistern und so die ethnische, religiöse und soziale Vielgestaltigkeit des Landes widerspiegeln.
Überbordend,
bös ironisch und
realitätsnah nennt Angela Schader in der
NZZ den Roman, der ihr ein Panoptikum aus Hellsehern, Kriegsprofiteuren, Schlägern und aus jüdischen, christlichen und islamischen Elementen liefert.
Jeannette Wintersons "Frankissstein" (
bestellen) ist hingegen aus ganz anderem Holz geschnitzt: Winterson nämlich verknüpft die Lebensgeschichte von
Mary Shelley mit dem Schicksal des
transgender Arztes Ry Shelley, der sich in einen mysteriösen Cyberspezialisten verliebt. Wie die Autorin teils historisch, teils fantastisch, manchmal elegant, oft moralische Fragen berührend zwischen den Jahrhunderten switcht, Mary Shelley und Lord Byron mit den frühen Denkern Künstlicher Intelligenz und der
Kryonik verknüpft und dabei auch noch
quirlig und lebendig erzählt, findet Sylvia Staude in der
FR meisterhaft.
Olga Tokarczuk hat dieses Jahr den
Literaturnobelpreis für 2018 erhalten, welch glücklicher Zufall also, dass zeitgleich ihre
"Jakobsbücher" (
bestellen) von 2014 auf Deutsch erschienen sind. Absolut berechtigt findet denn auch
Dlf-Kultur-Kritikerin Sabine Adler die Auszeichnung, wenn sie hier dem historischen Mystiker
Jakob Frank - charismatischer Kopf einer von Kabbalisten und Sabbatianern inspirierten jüdischen Bewegung - durch die polnisch-litauische Adelsrepublik folgt und an
Polens verdrängtes jüdisches Erbe erinnert wird. Auch empathisch gezeichnete, lebendige Figuren, farbige Schauplätze und eine turbulente Handlung, hebt Adler hervor. Großes Lob auch in der
SZ und in der
FAZ, wo Marta Kijowska die gelungene Mischung aus
magischem Realismus und geschichtlichem Hintergrund hervorhebt. Der Nobelpreisträger von 2019,
Peter Handke, hat in diesem Herbst kein neues Buch veröffentlicht. Wir haben aber in unserem neuen Buchladen
Eichendorff21 ein kleines
Dossier zusammengestellt mit Handke-Büchern für
Einsteiger.
Als surrealistisches Meisterwerk feierten die Kritiker
Mircea Cartarescus 900-Seiten-Brocken
"Solenoid" (
bestellen): Cartarescu ersinnt hier ein Alter Ego, einen Rumänischlehrer, der in der Bukarester Vorstadt während des Ceausescu-Regimes in den
Bann einer Magnetspirale gerät, zwischen Kindheitserinnerungen, Träumen und Ängsten wortwörtlich den Boden unter den Füßen verliert, bis er schließlich zu
levitieren beginnt. Erst die Liebe holt ihn auf den Boden der Tatsachen zurück.
FR-Kritikerin Katrin Hillgruber taucht gern ab in diesen bunten und komischen Parallelkosmos, in dem sie nicht nur Anklänge an Lem, Breton und Arghezi vernimmt, sondern auch sozialistischen Alltag hautnah erlebt. In der
NZZ hebt Franz Haas vor allem die poetische Sprache dieses "
verrückt kopflastigen" Buches hervor. Und im
NDR schreibt Cornelia Zetsche: "'Solenoid' ist überbordend mit seinem
Farbrausch der Grün- und
Opaktöne, der Fülle schillernder Orte, Figuren, Episoden und Fantasmagorien; ein Roman wie in Trance".
Hingewiesen sei auch auf
Petina Gappahs Roman
"Aus der Dunkelheit strahlendes Licht" (
bestellen), der die wahre Geschichte des Arztes und Forschungsreisenden David Livingston erzählt, dessen Leiche von freigekauften Sklaven 1500 km durch Afrika bis zur Küste getragen wurde, um von dort nach Großbritannien verschifft zu werden. Kein Kitsch, keine Moralinsäure, sondern ein komplexer Roman über die
Geschichte Afrikas, lobt Sieglinde Geisel im
Dlf-Kultur. Und gut besprochen wurde außerdem
Alain Mabanckous neuer Roman
"Petit Piment" (
bestellen), der aus der Perspektive des kleinen Waisenjungen Moses die Geschichte des
Kongo erzählt:
Üppig wuchernd geht es in diesem Roman zu, freut sich
SZ-Kritiker Jonathan Fischer, der mit Mabanckou von Mythologie, Ahnenverehrung und Aberglauben über Folkloristisches bis zur ätzenden Kritik an den politischen Zuständen mäandert.
Debütant*innenBesonders spannend sind jede Saison die DebütanTinnen - besonders wenn sie so wagemutig sind wie
Cemile Sahin. Die junge Künstlerin packt in ihrem ersten Roman
"Taxi" (
bestellen) nämlich nicht weniger als die Themen
Krieg und Verlust an - und macht eine ganz eigene Story daraus: Eine Mutter, die ihren Sohn in einem nicht näher beschriebenen Krieg verliert, tröstet sich über den Verlust hinweg, indem sie sich eine
Netflix-Serie auf den Leib schreibt und ihre verschollenen Sohn kurzerhand durch einen
Doppelgänger ersetzt. Der geht aber leider bald voll in seiner Rolle auf und stiehlt der Mutter die Show.
Dlf-Kritikerin Melanie Weidmüller liest den Roman als
subversive und rasante Geschichte voller harter Schnitte, Zeit- und Perspektivsprünge. Urkomisch,
trashig und doch
bitterernst, lobt Birthe Mühlhoff in der
SZ, während
taz-Kritiker Jens Uthoff hier auch eine Studie über Eskapismus erkennt. Für die
Zeit hat Carolin Würfel die junge Autorin
porträtiert.
Lesenswert auch das Debüt des nigerianischen Autors
Abubakar Adam Ibrahim, der uns in
"Wo wir stolpern und wo wir fallen" (
bestellen) von der Affäre zwischen der frommen, verwitweten Mutter und Großmutter Binta und dem jungen Dealer und Gangleader Reza erzählt. Und zwar ganz ohne Kitsch, wie
Dlf-Kultur-Kritiker Johannes Kaiser versichert: Schwungvoll und fesselnd schildere Ibrahim die alle Grenzen überwindende "
Amour fou", die erwachende Leidenschaft der streng gläubigen Binta und die Korruption in Nigeria, beleuchte darüber hinaus aber auch immer wieder die mörderischen Konflikte zwischen Christen und Muslimen. Die niederländische Autorin
Nhung Dam wiederum erzählt in ihrem Debütroman
"Tausend Väter" (
bestellen) von einer jungen
Migrantin aus Vietnam, die mit ihrer labilen Mutter in Holland ankommt, den verlorenen Vater betrauert und über die Kälte in der Fremde sinniert. Ein einfühlsamer, märchenhafter Roman über Flucht, Fremdheit, Sehnsucht und
Selbstermächtigung, meint Katharina Borchardt im
Dlf-Kultur, ein Roman wie ein Meer mit
Strudeln,
Wellen und Untiefen voller fantastischer Bilder, lobt Peter Praschl in der
Welt. Für die
taz hat Katharina Borchardt die junge Autorin
porträtiert.
Einige Debüts haben es dieser Saison auf die
Short List des Deutschen Buchpreises geschafft:
Tonio Schachingers Roman
"Nicht wie ihr" (
bestellen) etwa, den die KritikerInnen zunächst fast übersehen hätten. Die Geschichte um einen
prolligen Fußballstar kurz vor dem Burnout, der über Sex, Sport und die Welt sinniert, wurde als origineller
Gesellschaftsroman gewürdigt, voller Insiderwissen und Milieuschilderungen, dabei leichthändig und zugleich "scharfsinnig" Alltagsrassismus und Leistungsdruck reflektierend, wie Wiebke Porombka in der
FAZ lobt. Auch
Raphaela Edelbauers Debütroman
"Das flüssige Land" (
bestellen) über kollektive Verdrängung in einem österreichischen Dorf stand auf der Shortlist, wurde von der Kritik aber eher zwiespältig aufgenommen: Wenn Edelbauer hier eine
junge Physikerin in ein österreichisches Provinzkaff schickt, wo ein unterirdisches Loch den ganzen Ort zu verschlucken droht, mussten die RezensentInnen von
Dlf,
Dlf-Kultur und
FR unweigerlich an Kafka denken: Ein die Zeit aufhebender, surrealer
Anti-
Heimatroman, geschrieben mit barocker Erzähllust und schwarzem Humor, fand etwa Anne Kohlick im
Dlf Kultur.
FAZ und
SZ konnte der Roman dagegen zu wenig überraschen. Sehr gut besprochen wurde auch
Dana von Suffrins Debütroman
"Otto" (
bestellen), der von einem tyrannischen Familienpatriarchen, einem
Siebenbürger Juden erzählt, der zum Pflegefall wird. Den Witz der Autorin fanden die KritikerInnen bemerkenswert.
Schöne neue WeltPure Gegenwart verspricht
Nora Bossongs neuer Roman
"Schutzzone" (
bestellen), der, wie die KritikerInnen einstimmig loben,
UN-
Alltag,
Liebesleiden und
Weltpolitik geschickt verknüpft. Wir folgen der unglücklichen und zynischen Botschafterin Mira, die mit der Aufarbeitung der
Massaker in Burundi ebenso beschäftigt ist wie mit ihren Affären mit einem verheirateten Mann und einem Rebellen und sowohl privat als auch politisch in einen Gewissenskonflikt gerät. Das ist "ungeheuer klug" erzählt, bewundert Tomasz Kurianowicz in der
Welt, aber Glück findet er in diesem Roman nicht. Auch Christoph Schröder beobachtet in der
SZ mit fröstelnder Bewunderung, wie Bossong Begriffe wie Gerechtigkeit, Versöhnung oder Frieden zerrinnen lässt. Politische Kritik an dem Roman
meldet Robert Stockhammer im
Freitag an: Er sieht hier
eine Konkurrenz zwischen den Massakern in Burundi und dem Völkermord in Ruanda aufgebaut.
Sehr aktuell ist auch
Valeria Luisellis neuer Roman
"Archiv der verlorenen Kinder" (
bestellen). Die mexikanische Autorin erzählt in ihrer Road Novel von einer Patchworkfamilie, die sich von New York aus auf den Weg in die ehemalige Heimat der Apachen macht und auf ihrer Reise
Kindern auf der Flucht von Zentral- nach Nordamerika begegnet. Es wäre auch ohne die Metafiktion mit literarischen Referenzen und montierten Dokumenten gegangen, denken die KritikerInnen, aber den Lesefluss hemmt sie nicht. Vor allem, wenn der jungen Familie schließlich die
eigenen Kinder entlaufen, gelingt es Luiselli, zwei Ebenen übereinander zu blenden, lobt
Zeit-Rezensentin Judith Heitkamp. Politisch aktuell,
experimentierfreudig und unterhaltend, findet Gregor Dotzauer den Roman im
Dlf-Kultur.
Klingt zunächst nach einer
Dystopie, nach der man sich fast sehnen möchte: In
Sam Byers Roman
"Schönes neues England" (
bestellen) gehört der
Brexit nämlich schon wieder der Vergangenheit an. Damit hat es sich dann aber auch an freudigen Nachrichten in dieser
Gesellschaftssatire, die uns in die Kleinstadt Edmundsbury entführt, die von Tech-Konzernen ohne Rücksicht auf verbliebene Ansässige in ein Freelancer-Paradies verwandelt wird: Die sozialen Medien beginnen ihre schlimmstmöglichen Wirkungen zu entfalten,
Shitstorms, Aufmerksamkeitsdrang, Populisten und Datenerpresser beherrschen das Dasein. Bei allem "beißenden britischen Spott" findet
taz-Kritiker den Roman nicht nur gut durchdacht, unterhaltsam und lehrreich, sondern auch
erschreckend wahrscheinlich. In der
FAZ muss Oliver Jungen allerdings gestehen: Auf Dauer sind die Dialogfeuerwerke und die Exkurse über digitale Gesellschaftssteuerung ganz schön anstrengend. Empfohlen wurde außerdem
Robert Harris' Roman
"Der zweite Schlaf" (
bestellen), der ebenfalls von einem
postapokalyptischen England erzählt, in dem nach einer durch Technologiebesessenheit und Informationsflut ausgelösten Katastrophe allerdings wieder mittelalterliche Zustände herrschen. Unterhaltung auf
höchstem Niveau, versichert Gina Thomas in der
FAZ.
Wer ein Buch zur
Klimakrise lesen will, muss nicht nur zu
Jonathan Safran Foer greifen, auch
Amitav Ghosh befasst sich in seinem neuen Roman
"Die Inseln" (
bestellen) mit Umweltaktivismus und Flüchtlingshilfe - verpackt in der
magisch realistischen Story um die Entschlüsselung einer geheimnisvollen bengalischen Legende, verspricht eine sich gut unterhalten fühlende Eva Behrendt in der
taz. Quer durch Europa hat uns
Terezia Mora in ihren Romanen um den IT-Spezialisten Darius Kopp bereits geschickt, nun, in
"Auf dem Seil" (
bestellen), zum Ende der Trilogie, landet Kopp auf Sizilien, wo er auf seine schwangere 17jährige Nichte trifft und mit ihr nach Berlin zurückkeht. Die KritikerInnen sind einmal mehr angetan von Moras Witz, erzählerische Brillanz und ihren präzisen
Milieuschilderungen. Nicht ganz so angetan zeigten sich die RezensentInnen von
Margaret Atwoods Fortsetzungsroman
"Die Zeuginnen" (
bestellen), auf den wir bereits in unserem letzten
Bücherbrief hingewiesen haben.
NachtseitenAuch diese Saison sind die AutorInnen wieder in tiefste private und
familiäre Abgründe abgetaucht, um einige literarische Schätze zu bergen. Als Spezialistin für Abgründiges ist vorweg die bereits 1967 gestorbene
Albertine Sarrazin zu nennen, die in ihrem letzten, autobiografisch geprägten, nun erstmals auf Deutsch vorliegenden Roman
"Querwege" (
bestellen) von Albe erzählt, die nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis versucht, mit ihrem Geliebten, ebenfalls Ex-Häftling, ein bürgerliches Dasein zu führen. Sarrazin schreibe so "
lässig, so
poetisch, so
wild und frei", dass sich
SZ-Kritiker Alex Rühle mehr Bücher der früh verstorbenen Autorin gewünscht hätte. Bravourös findet Paul Jandl in der
NZZ auch
Claudia Steinitz' Übersetzung, die das
Schwingen und Zittern der Wörter sehr schön ins Deutsche rette. Vom Misslingen der Rückkehr in die Bürgerlichkeit erzählt uns auch die in Paris lebende Schweizer Autorin
Pascale Kramer, die in ihrer Tragödie
"Eine Familie" (
bestellen) beschreibt, wie der junge lebensmüde Romain gegen seinen Willen von der Straße zurück in den Schoß der Familie geholt wird. Wie Kramer das Familienleben seziert, "klinisch präzise", dabei ein dichtes Gewebe aus
Schuld und Verhängnis freilegt und die psychologischen Fragen, die der Roman stellt, zu metaphysischen erhebt, findet
NZZ-Kritiker Roman Bucheli virtuos.
In ihrem Debütroman
"Was man sät" (
bestellen) erzählt uns die holländische Autorin
Marieke Lucas Rijneveld von einer streng gläubigen Familie, die mit dem Schicksal des Todes eines ihrer Kinder zurecht kommen muss. Im Mittelpunkt steht die zwölfjährige Jas, die sich die Schuld am Tod des Bruders gibt und in deren düstere, von Ängsten und aufkeimender Sexualität geprägte Vorstellungswelt uns die Autorin mit
drastischer Sprache und poetischen Bilder hineinzieht, wie Anna Vollmer in der
FAZ versichert. Nicht weniger grausam geht es in
Rebecca Waits Roman
"Das Vermächtnis unsrer Väter" (
bestellen) zu, der von einem schottischen Familienvater erzählt, der Frau, Kind und sich selbst erschießt, seinen Jüngsten aber
im Schrank vergisst. Wie Waits nur in Andeutungen und ohne zu psychologisieren schildert, wie der überlebende Sohn Jahre später zurückkehrt um herauszufinden, warum damals niemand etwas unternommen hat, findet Sylvia Staude in der
FR überzeugend. Bisher erst von
SZ-Kritiker Xaver von Cranach besprochen wurde
Leslie Jamisons erster Roman
"Der Gin-Trailer" (
bestellen), den Cranach als gelungene literarische Ergänzung zu Jamisons hochgelobten
Essays über
Alkoholsucht und Selbstzerstörung liest.
Die KritikerInnen können sich nicht ganz entscheiden, in welche Gattung sie
Jan Peter Bremers neuen Roman
"Der junge Doktorand" (
bestellen) einordnen wollen: Kammerspiel? Thriller?
Künstler- oder
Ehesatire? Oder doch Entwicklungsroman? Macht aber auch nichts, denn von der Geschichte um ein alterndes, verkrachtes Ehepaar, das auf den vermeintlich erlösenden
Besuch eines jungen Kunststudenten erwartet, sind sie hellauf begeistert: Als groteskes Bernhardsches Konversationsstück, liest Nico Bleutge im
Dlf-Kultur den Roman, dem Nina Apin in der
taz ein präzises Gespür für Komik und psychische Abgründe attestiert. Zeit-Kritikerin Ursula März amüsierte sich über den Slapstick, giftige Paardialoge und
Thrillerelemente. Die Bitterkeit des Alters nimmt
Kathy Page in ihrem Roman
"All unsere Jahre" (
bestellen) aufs Korn, wenn sie über sieben Jahrzehnte eine Ehe, den Verfall der Liebesbeziehung und der Illusionen seziert und statt auf große Dramen auf kleine Details setzt, wie Sandra Kegel in der
FAZ lobt.
Blick zurückJede Büchersaison verspricht natürlich eine große Portion an Romanen, die
in der Vergangenheit spielen. Gerade die deutschen AutorInnen erweisen sich hier als SpezialistInnen.
Norbert Scheuers Roman
"Winterbienen" (
bestellen) stand nicht nur auf der Shortlist des Buchpreises, sondern wurde auch von den RezensentInnen gefeiert: Die Geschichten des Imkers Egidius Arimond, der 1944 in seinen Bienenstöcken Juden rettet, nannte bereits
NZZ-Kritiker Jörg Magenau im Juli große Literatur: Wie mühelos der Autor die
Jahreszyklen der Bienen mit der
Zerstörungswut der Menschheit zu kontrastieren weiß, hat ihn begeistert. Und in der
SZ bewunderte auch Hubert Winkels, wie Scheuer die Verknüpfung von Krieg, Bomben, Liebe, Flucht und Bienen dezent und in lapidarem Ton arrangiert.
Einen
blinden Fleck der deutschen Geschichte hat indes
Eugen Ruge in seinem Roman
"Metropol" (
bestellen) entdeckt, staunt Alexander Cammann in der
Zeit: Nach
"In Zeiten des abnehmenden Lichts" lässt uns Ruge hier noch einmal auf seine Großeltern treffen, beleuchtet nun aber vor allem jene Zeit, als die beiden Mitarbeiter des OMS wegen Verstößen gegen die Parteilinie im Moskauer Hotel Metropol einsaßen.
FAZ-Kritiker Andreas Platthaus lobt die Wahrhaftigkeit der penibel recherchierten Handlung, der Orte und der psychologisch komplexen Figuren. Ein episodisches Panorama des kommunistischen Exils, das wie eine Droge wirkt, meint er. Sehr gut besprochen wurde auch
Sherko Fatahs neuer Roman
"Schwarzer September" (
bestellen), der von den Ereignissen rund um das mörderische Attentat auf die israelische Olympia-Mannschaft während der Spiele 1972 in München erzählt. Spannend, unerbittlich, komplex und zeitlos aktuell, lobten die KritikerInnen in
SZ,
Zeit und
Dlf-Kultur.
Diese Saison gibt es durchaus einige interessante
Wiederentdeckungen zu annoncieren: Auf
"Ein anderer Takt" (
bestellen),
Melvin Kelleys Debütroman von 1957 über den Auszug eines schwarzen Farmers aus einem fiktiven Bundesstaat im Süden der USA haben wir in unserem letzten Bücherbrief schon vorgestellt. Abgründig, visionär, raffiniert lobten die KritikerInnen. Unbedingt erwähnenswert ist aber auch
Fran Ross' Roman
"Oreo" (
bestellen) aus dem Jahr 1970: Die afroamerikanische jüdische Autorin schickt ihre Männer betörende und verprügelnde Heldin Christine, wie Ross Tochter einer Afroamerikanerin und eines Juden, auf Vatersuche durch das
Amerika der Fünfziger. Ein schräges, "leidenschaftliches"und schwarzhumoriges Buch über eine überraschend coole Protagonistin, lobt Fatma Aydemir in der
taz,
flapsig und
kunstvoll zugleich, leichtfüßig und trotzdem mit Tiefgang, hochgebildet und doch roh, außerdem voller historischer und literarischer Anspielungen, kurz: "ein Wunder!", jubelt Gabriele von Arnim im
Dlf-Kultur. Hingewiesen sei schließlich noch auf
"Psalm 44", (
bestellen) einen frühen Roman des jugoslawischen Schriftsteller
Danilo Kis, der uns von der Flucht zweier Frauen aus einem Konzentrationslager erzählt. Drastisch,
explizit und
radikal, meinen die RezensentInnen und im
Dlf-Kultur ergänzt Carsten Hueck: Besser als das seicht-naive Erzählen, mit dem die Nachgeborenen heute den Holocaust schildern.