09.11.2020. Biografien über Josephine Baker und Susan Sontag. Martin Gayfords Führer durch die britische Kunst in den 50ern und 60ern. Die Geologin Marcia Bjornerud entwickelt Zeitbewusstheit. Wolfram Ellenberger sucht das Feuer der Freiheit. Josef H. Reichholf schildert die Hundwerdung des Wolfes.
Bühne und FilmFast jeder kennt
Josephine Baker als bananenberockte kesse Revuetänzerin, aber nicht unbedingt ihre andere Seiten: Baker war auch eine Sängerin von kühler Präzision, eine hochdekorierte Resistance-Heldin, Schlossherrin und Mutter einer Regenbogenfamilie.
Mona Horncastle erzählt in ihrer Biografie
"Josephine Baker" (
Bestellen) das Leben dieser außergewöhnlichen Künstlerin, die, 1906 in St. Louis in Missouri geboren, zur bewunderten Ikone der Pariser Kunstszene wurde. In der
FAZ liest Rose-Maria Gropp diese kenntnisreiche Biografie mit Begeisterung, vor allem die Passagen zu Bakers Resistance-Zeit haben sie in den Bann geschlagen. In der
SZ berauscht sich Susan Vahabzadeh an den illustren Zirkeln, die Baker um sich scharte - Le Corbusier, Matisse, Picasso und Leonhard Bernstein gehörten zu ihren Bewunderern. Auch wie eisern Baker gegen Diskriminierung ankämpfte, ringt Vahabzadeh Bewunderung ab, die trotzdem zu schätzen weiß, dass Paris einer schwarzen Frau andere Entfaltungsmöglichkeiten gewährte als die damals noch nach Rassen getrennten USA. Auf
YouTube finden sich natürlich großartige Aufnahmen von ihr, besonders schön:
"J'ai deux amours".
Bereits im Sommer wurden zwei Bücher gefeiert, die aus dem Genre der Jubiläumspublikationen herausragen:
Christoph Schlingensiefs Gesprächsband
"Kein falsches Wort jetzt" (
Bestellen), der zehn Jahre nach dem Tod des Aktivisten und künstlerischen Tausendsassas noch einmal zeigte, wie fröhlich sich Schlingensief noch dem "borniertesten Interviewer" ausliefert (
SZ), sowie Sibylle Zehles
Bildband über
Max Reinhardt (
Bestellen), der zum hundertjährigen Jubiläum der Salzburger Festspiele an Tatkraft und grimmigen Charme des Theatermanns erinnert (
FAZ,
Welt).
Die Geschichte des deutschen Films ist oft auch ein Familienroman. Der
Kulturwissenschaftler Thomas Medicus erzählt in seiner
Doppelbiografie das Leben von
Heinrich und Götz George (
Bestellen), die beide, so ähnlich und doch grundverschieden, zu großen Volksschauspielern wurden: Als "angemessen monumental" feiert Hanns Zischler in der
SZ das Buch, das auch ungeschönt den hemmungslosen Konformismus aufzeige, mit dem sich Heinrich George von der linken Rampe des Theaters aus den Nazis an den Hals geworfen hat. Subtil beschrieben findet Harry Nutt in der
FR, wie sich bei Medicus der an den Vater gekettete Sohn entfesselt. Im
DlfKultur spricht Medicus mit Janis El-Bira unter anderem auch über die Körper der beiden Schauspieler, über Ideale und Vorstellungen von physischer und psychischer Stärke. Außerdem empfiehlt die
FAZ eine
Leni-
Riefenstahl-
Biografie (
Bestellen) der Regisseurin Nina Gladitz als "wuchtige Gegendarstellung" zu der Legende, Riefenstahl sei nur eine harmlose Mitläuferin gewesen. In der
arte-Mediathek ist Gladitz' Riefenstahl-Doku
"Ende eines Mythos" zu sehen.
KunstIn den fünfziger und sechziger Jahren war New York für die Kunst
the place to be, der abstrakte Expressionismus das Nonplusultra. Der Kunsthistoriker und
Spectator-Kritiker
Martin Gayford beweist in seinem Buch
"Britische Kunst" (
Bestellen), dass noch größere Kunst dort entsteht, wo alle anderen nicht sind: Er porträtiert die britischen Malerinnen und Maler, die allen Moden zum Trotz dem grauen, kriegsversehrten London treu blieben, der gegenständlichen Malerei oder einer Idee britischer Kunst: Lucian Freud, Francis Bacon, David Hockney, Frank Auerbach und Leon Kossoff. Aber auch Bridget Riley kommt zu ihrem Recht! Großartig
findet Alexandra Harris im
Guardian diese Erzählung und sieht in ihr auch eine Feier des künstlerischen Individualismus. Im
DlfKultur lobte Eva Hepper das Buch ebenfalls als "spannend, lehrreich und unterhaltsam".
Ein bisschen aus der Zeit gefallen, aber als historischen Kompendium zu schwarzem Leben und schwarzer Kultur empfehlen
FAZ und
DlfKultur Nancy Cunards "Negro" (
Bestellen) mit Essays, Gedichten und Gesängen afroamerikanischer Intellektueller, 1934 zusammengestellt von der exzentrischen, aber sehr engagierten Erbin
Nancy Cunard und neu herausgegeben vom Musikjournalisten Karl Bruckmaier. Im
Dlf Kultur sieht Nana Brink in dem Band vor allem ein Textkonvolut, das neugierig macht, die Geschichte der afroamerikanischen Kultur rekapituliert und Rückschlüsse erlaubt auf den heutigen Stand der Rassismus-Debatte in den USA. Auch
FAZ-Kritikerin Verena Lueken hat den Band mit Interesse gelesen. Doch bemerkt sie auch einen unreflektierten Enthusiasmus in den Texten, der ihr die Lektüre etwas ungemütlich macht. Staunen lässt die
FAZ auch
Massimo Listris "Buch der Wunderkammern" (
Bestellen), in dem der italienische Fotograf Kurioses und Bizarres versammelt, Mirabilia und Artificilia, von Einhörnern über Edelsteine und Korallen bis Murano-Glas und anderen Erlesenheiten europäischen Kunsthandwerks. Hingewiesen sei auch auf
Neal Treadwells und
Hugh Ninis reizenden Band
"Loving" (
Bestellen), der mit Fotografien schwuler Paare ein Jahrhundert pures Liebesglück versammelt, wie etwa Eva Hepper im
DlfKultur schwärmte.
Literatur- und KulturgeschichteFAZ-Rezensent Stefan Locke taucht mit
Marko Martins "Die verdrängte Zeit" (
bestellen) tief ein in die kulturelle Vielstimmigkeit der DDR. Dabei geht es nicht um die staatstragende Literatur und Kunst, sondern um Jugendlektüren, Musikvorlieben und Kinoerlebnisse. Was der Autor über Paul und Paula, Gojko Mitic oder Reiner Kunze berichtet, weckt in
Zeit-Kritiker Alexander Cammann einige Erinnerungen auf. Dass Martin keine "moralistischen Scheuklappen" auf hat und lustvoll der Vielstimmigkeit der DDR lauscht, zur Not auch via Stasi-Protokoll bis in Biermanns Butze, findet Cammann gut, das Ergebnis lesenswert. taz-Rezensentin Marlene Hobrack hat wiederum gut gefallen, dass Martin ohne Bitterkeit an Protestnischen-Kunst zurückdenkt und die Frage stellt, warum ein Werner Tübke nicht auch im Westen groß berühmt werden konnte.
Der Titel
"Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug" (
bestellen) ist Programm für die Erinnerungen des Germanisten und Kulturwissenschaftlers
Helmut Lethen. In der
Zeit ist Ijoma Mangold beeindruckt von dem Lebensbericht des altgewordenen Exkommunisten aus K-Gruppen-Zeiten, der seine Verletzlichkeit im Leben und Denken so deutlich beschreibt bis hin zu seiner Ehe mit der als Identitäre auftretenden Philosophin Caroline Sommerfeldt. Dass Lethen nahezu hilflos seine Liebe zur Familie bekennt - und darauf verzichtet, sich selbst und sein Leben vollständig zu verstehen, ringt dem Kritiker einigen Respekt ab. Lethen bietet keine Erklärungen an, schreibt auch Jörg Magenau (
dlf Kultur), doch macht er ihm den Weg der eigenen "Denk-Geschichte" nachvollziehbar. Und in der
FAZ lernt ein faszinierter Stephan Wackwitz, warum der klassische Liberalismus in den Sechzigern und Siebzigern selbst für begabte Linke nicht unbedingt eine Option war.
Hingewiesen sei auch nochmal auf
Benjamin Mosers Susan-Sontag-Biografie (
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Sigrid Nunez Erinnerungen an Sontag,
"Sempre Susan" (
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SZ-Kritikerin Marie Schmidt ein zugleich eindrucksvolles und rührendes Charakterbild von Susan Sontag vermitteln, das allerdings nicht immer schmeichelhaft aussfällt, wie in der
Zeit Susanne Mayer leicht melancholisch feststellt. Sie kann kaum glauben, dass Sontag so mitleidlos, böse und "weinerlich, schrill" sein konnte.
Klima / UmweltFAZ-Rezensent Ulf von Rauchhaupt findet Geologie sexy, seit er mit
Marcia Bjornerud "Zeitbewusstheit" (
bestellen) erlangt hat. Geologie ist die Biografin der Erde, lernen wir. Die langen Zeiträume relativieren uns einerseits, aber es bleiben nur sehr kurze Zeiträume, um das Anthropozän nicht vorzeitig zum Abschluss zu bringen (keine Ahnung, ob Bjornerud diesen Begriff benutzt). Kontinentaldrift und Vulkanerruptionen. Tsunamis werden erläutert und das Zusammenspiel von Zeit und Kraft, so Anna Gielas in der
NZZ. Und mehr noch, meint die Rezensentin: Für den Leser werden das Klima und seine Veränderungen nachvollziehbar. Als nächstes dann
Frank Uekötter lesen, der
"Im Strudel" (
bestellen) eine "Umweltgeschichte der modernen Welt" erzählt. Zumindest die Sachkapitel kann Christian Schwägerl in der
FAZ empfehlen. Und irgendwie muss man ja den Diskussionen mit der
heutigen Jugend standhalten.
Mojib Latifs "Heißzeit" (
bestellen) ist für Günther Wessel (
dlf Kultur) das "Musterbeispiel einer engagierten Streitschrift" für den Klimaschutz: Dezidiert und gut verständlich nehme Latif die Argumente der Klimaskeptiker auseinander und zeige die Störfeuer ihrer Lobbygruppen auf. In der
FAZ lobt Joachim Müller-Jung die positive Energie und wissenschaftliche Expertise des Autors, der bei allem Zorn über die vertane Zeit nach vorne blickt und Hoffnung macht. In der
FAZ empfiehlt Theresa Weiss außerdem
"See and Change!" (
bestellen) des 20-jährigen
Leonard Hepermann, eine Art Manifest der "Fridays for Future"-Generation, erklärt sie. Hepermann fordert einerseits eine Politik, die den Jungen eine Zukunft sichert. Andererseits gibt er ganz konkrete Handlungsempfehlungen, was man schon jetzt besser machen könnte. Das Buch ist in einfacher Sprache geschrieben, so Weiss, die das nicht stört. Als Aufforderung zum Mitmachen taugt das Buch mit seinen vielen Fallbeispielen und Links gut, meint sie.
Gut besprochen wurden auch
"Das Wasser gehört uns allen!" (
bestellen) von
Maude Barlow, die sich für Wasser als Menschenrecht einsetzt.
Fred Luks weist in
"Hoffnung" (
bestellen) darauf hin, dass trockene Analysen allein den Nachhaltigkeitsdiskurs nicht weiter bringen und setzt auf das mit Wissen gepaarte Prinzip Hoffnung. Und schließlich sei noch einmal auf
Uta Ruges "Bauern, Land" (
Leseprobe,
bestellen) hingewiesen: Ruge erzählt wunderbar anschaulich die Geschichte ihres Dorfes im Weltzusammenhang und durchleuchtet Landwirtschaft und bäuerliches Leben auf eine Art, die manchem Städter zu kauen geben dürfte.
PhilosophieNach seinem Welterfolg "Zeit der Zauberer" über die Denker Heidegger, Benjamin, Wittengenstein, Ernst Cassirer legt
Wolfram Eilenberger mit seinem Buch
"Feuer der Freiheit" (
Bestellen) über vier Philosophinnen nach. Aber was verbindet die Ultralibertäre Ayn Rand mit der Feministin Simone de Beauvoir, der Sozialrevolutionärin und Mystikerin Simone Weil und der politischen Theoretikerin Hannah Arendt? Ihre radikale Zeitgenossenschaft: Eilenberger zufolge stemmten sie sich mit der ganzen Macht ihres Verstandes gegen den Zeitgeist jener Jahre, nahmen Anteil am existenziellen Elend der Welt und dachten neu über Freiheit nach. Gerade dazu hätte Uwe Justus Wenzel gern mehr und Genaueres gelesen, wie er in der
FAZ bekennt, aber dass ihm Eilenberger überhaupt die vier Denkerinnen näher bringt, weiß er sehr zu schätzen. In der
SZ sieht Jens Bisky in der populärphilosophischen Ausrichtung des Buches die Schwächen und Stärken zugleich. Natürlich bleibe manches an der Oberfläche, aber wie packend, einfühlsam und klug Eilenberger das Denken, Leben und Kämpfen seiner Protagonistinnen erzählt, ringt Bisky Bewunderung ab.
Der in Harvard lehrende Philosoph
Michael Sandel erklärt in seinem Buch
"Das Ende des Gemeinwohls" (
Bestellen) den Erfolg des Populismus mit den Prinzipien der Leistungsgesellschaft. In der globalisierten Welt haben die kosmopolitischen Eliten die Arbeiter und einfachen Angestellten nicht nur abgehängt, sie geben ihnen auch noch die Schuld daran. Die Globalisierungsverlierer müssen also nicht nur mit der ökonomischen Deklassierung fertig werden, sondern auch mit der sozialen. Im
Guardian weiß Julian Coman, dass gerade auch die akademische Linke Sandels Diagnosen ablehnt, hält er ihr doch vor, die Arbeiterschaft im Stich zu lassen. Für ihn ist das Buch, das im Original den klareren Titel "The Tyranny of Merit" trägt, ein Wackerstein in Sandels Kampf gegen den "gruseligen Individualismus", der seit Reagan und Thatcher den Westen beherrsche. In der
FAZ hätte sich Günther Nonnenmacher bessere Lösungsvorschläge gewünscht. Der
Freitag bringt eine
Leseprobe.
Elsa Dorlins Philosophie der
"Selbstverteidigung" (
Bestellen) hat den RezensentInnen einen ordentlichen Kick versetzt. Gespannt lesen sie, wie Körper, die in einer Art organisierter Entwaffung für wehrlos erklärt wurden, ihre Widerstandskraft entwickelten: Sklaven begehrten auf, Sufragetten lernten Jiujitsu, die Black Panthers bewaffneten sich. Aber ganz überzeugt hat Dorlin offenbar nicht. Im
DlfKultur fühlt sich Andrea Roedig vom wilden Theoriejargon erschlagen, in der
FAZ erscheint Florian Meinel manche Behauptung mehr als verwegen.
Axel Honneths Aufsätze
"Die Armut unserer Freiheit" (
Bestellen) kommt mit nicht ganz so viel r
adical chic daher. Nichtsdestotrotz findet Wolfgang Hellmich in der
NZZ Honneths Überlegungen zu Solidarität und Kooperation gewinnbringend, niveauvoll und lesbar.
SZ-Kritiker Thomas Meyer verdankt dem Buch Einsichten zu Hegel, der Legititmationskrise der Demokratie und der Empörung als dem "Notrecht der Armen". Verlässlich divergierend besprochen wurde
Hans Ulrich Gumbrechts Buch über Denis Diderot
"Prosa der Welt" (
Bestellen), an dem der Autor durchexerziert, dass die Quintessenz des aufklärerischen Denkens nicht in Systematik und Dogma besteht, sondern im Freien und Flüchtigen.
GeschichteBereits im Oktober haben wir
im Bücherbrief auf
Geert Maks viel besprochenes Buch
"Große Erwartungen" (
Bestellen) hingewiesen, in dem der niederländische Historiker von seinen Reisen durch Europa berichtet. Mit großem Interesse haben die KritikerInnen auch
Orlando Figes' Kulturgeschichte
"Die Europäer" (
Bestellen) gelesen. Der britische Historiker erzählt darin anhand der drei Künstlerfiguren Iwan Turgenjew, Pauline Viardot und Louis Viardot nach, wie sich im 19. Jahrhundert parallel zu Machtkämpfen, Modernisierung und imperialen Strukturen auch Europas kulturelles Selbstverständnis herausbildete. Als originell, faktenreich und "glänzend gebaut" lobt Jan Brachmann in der
FAZ das Buch, als spannend und lehrreich Volker Mühleis im
Dlf. Im
DlfKultur hätte sich Edelgard Abenstein in dieser Erzählung etwas mehr Stringenz und Struktur gewünscht.
Auch das Paradies wurde von Cherubim bewacht, stellt
Alexander Demandt in seiner Geschichte der
"Grenzen" (
Bestellen) fest. Für den Historiker sind sie eine Konstante der Menschheit, egal ob natürlich, willkürlich oder zeitlich gesetzt. Demandt führt in seiner Erzählung vom Limes zur chinesischen Mauer, von der Maginotlinie zum Eisernen Vorhang, über Flüsse und in Tempelbezirke.
FAZ und
SZ loben Faktenfülle in dem Buch, betonen aber Demandts affirmative Sicht Der DlfKultur vermisst zudem einen argumentativen Bogen. Beeindruckt sind
FAZ- und
SZ-Kritiker zudem von
Gerald Knaus' Buch
"Welche Grenzen brauchen wir?" (
Bestellen), in dem der Migrationsforscher und Erfinder des EU-Türkei-Abkommens mit Sinn für das "politisch Machbare" überlegt, wie die Migration nach Europa gesteuert werden kann, ohne Empathie und Humanismus aufzugeben.
Beachtung gefunden hat auch die
Tito-
Biografie der Münchner Osteuropa-Historikerin Marie-Janine Calic (
Bestellen), die der
FAZ zufolge souverän und anschaulich, wenn auch etwas unkritisch die Geschichte des des ewigen Partisanen erzählt. Empfehlen kann Mark Siemons in der
FAZ auch
Daniel Leeses Buch
"Maos langer Schatten" (
Bestellen), das Chinas Aufarbeitung der Kulturrevolution untersucht.
Die
deutsche Reichsgründung 1870 begründete auf Kriegen gegen Dänemark, Österreich und Frankreich, und besonders der Deutsch-französische Krieg war die Bedingung aller folgenden Katastrophen. Die Historiker haben zu diesem Jubiläum geliefert, aber die Journalisten hatten kaum Interesse an ihren Büchern. Allein Gustav Seibt
besprach in der
SZ klug und kenntnisreich wie stets
Christoph Nonns "12 Tage und ein halbes Jahrhundert" (
bestellen),
Christoph Jahrs "Blut und Eisen" (
bestellen),
Eckart Conzes "Schatten des Kaiserreichs" (
bestellen) und
Hermann Pölkings und Linn Sackarnds "Der Bruderkrieg" (
bestellen).
NaturwissenschaftenHm, vielleicht verlief die Menschheitsgeschichte umgekehrt? Der Wolf begann dem Menschen zu folgen, weil der seine Nahrungsgrundlage - die großen paläontologischen Säuger - dezimiert hatte, so erzählt der Rezensent ein wenig nach. Da blieb dem Wolf laut
Josef Reichholfs "Der Hund und sein Mensch" (
bestellen) nur die Selbstdomestizierung übrig, in deren Folge er offenbar auch uns domestiziert hat, erzählt Rudolf Neumaier aus dem neuen Buch des großen deutschen Nature-Writers nach. Die
FR nennt das die "Hundwerdung des Wolfes". Hunde würden ihren Herrchen dieses Weihnachtsgeschenk kaufen!
"Missverstand ist überall", sagte der kluge Schleiermacher. Und wer könnte diese Hypothese besser überprüfen als Ethnologen, die überall den Ursprung suchen und doch überall nur Mischkulturen finden, die sich aus anderen Kulturen nehmen, was sie gerade gebrauchen können. Die Forscherin
Heike Behrend reflektiert in
"Menschwerdung eines Affen" (
bestellen) auch, wie sie von den Fremden, die sie erforscht, zurückerforscht und dann als "Affe", "Närrin" oder "Kannibale" rubriziert wurde.
FAZ-Rezensent Helmut Mayer war fasziniert, zumal es nicht um Anekdoten gehe, sondern um handfeste Zuschreibungen. Auch Michaela Schäuble (
Freitag)
empfiehlt dieses Buch wärmstens, weil es einerseits "erfrischend nüchtern", aber auch mit einem "Gespür für skurrile Situationen und Begegnungen" geschrieben sei. In einem lesenswerten
Interview mit dem
Bayerischen Rundfunk erklärt Behrend ihr Credo: "Die Umkehrung der Perspektive hat zur Folge - was mich auch besonders interessiert hat - dass das eigene Selbstverständnis ganz wesentlich erschüttert wird. Und das sollte eigentlich im Zentrum der Ethnologie stehen: die Erschütterung des Selbstverständlichen." Empfohlen werden schließlich noch
"Das Gedächtnis der Welt - Vom Finden und Ordnen der Pflanzen" (
bestellen) - tollkühne Reisen der Botaniker
Charlotte Vauve und
Marc Jeanson. Sowie Leonard Mlodinows
Biografie (
bestellen) des Kosmologen
Stephen Hawking.
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