Bücherbrief

Anfang Vierzig, Volloptimist

04.09.2009. Barbi Markovic geht mit Thomas Bernhard durch Belgrad. Terezia Mora beobachtet einen Mann ohne Eigenschaften im 21. Jahrhundert. Knut Hamsun hat Hunger. Herta Müller begleitet die Rumäniendeutschen in den Gulag. David Foster Wallace hinterlässt einen Himalaya der Postmoderne. Ben Katchor zeichnet jüdische Einwanderer in New York. Ilija Trojanow und Juli Zeh wehren den Angriff auf unsere Freiheit ab. Die besten Bücher im September.
Willkommen zu den besten Büchern des Monats! Sie wissen ja: Wenn Sie Ihre Bücher über den Perlentaucher bei buecher.de bestellen, ist das nicht nur bequem für Sie, sondern auch hilfreich für den Perlentaucher, der eine Provision bekommt.

Den Bücherbrief in seiner vollen Pracht können Sie auch per E-Mail betrachten. Dazu müssen Sie sich hier anmelden. Weiterempfehlen können Sie ihn natürlich auch.

Weitere Anregungen finden Sie in den älteren Bücherbriefen, unseren Notizen zu den Literaturbeilagen vom Frühjahr 2009, den Leseproben in Vorgeblättert und in den Büchern der Saison vom Herbst 2008.


Literatur

Barbi Markovic
Ausgehen
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009, Kartoniert, 95 Seiten, 12,00 Euro

()

Ein Remix. Die serbische Autorin Barbi Markovic überträgt "Gehen", einen fulminanten und inzwischen dennoch klassischen Text Thomas Bernhards über Wahn in Wien, auf das Nachtleben von Belgrad. Es scheint zu funktionieren. Oliver Jungen hat die beiden Texte in der FAZ parallel gelesen und ist sowohl beim Gehen als auch beim Ausgehen außer Atem geraten. Sebastian Fasthuber hält in now-on fest: "Idealerweise sollte man Bernhards Originaltext vorher schon gelesen haben, bevor man sich Markovics grandioser Nachdichtung widmet. Es ist zwar nicht unbedingt notwendig, aber die Geistes- und Humorblitze funkeln einen, wenn man die Anspielungen und die Parallelen zwischen den Texten versteht, umso heller an." Zum Beweis stellt er Passagen aus beiden Büchern nebeneinander. "Markovic kopiert und modifiziert Bernhards Erzählung Satz für Satz, und es ist schon erstaunlich, dass dabei nicht völliger Murks oder pseudointellektueller Wittgenstein-Schwachsinn herauskommt, sondern ein äußerst unterhaltsames, an Witz dem Original nacheiferndes Buch", schreibt Tina Manske im Titel-Magazin. Welche Herausforderung die Übersetzung ins Deutsche für Mascha Dabic war, kann man im Falter nachlesen. (Hier eine von "Ausgehen")


Terezia Mora
Der einzige Mann auf dem Kontinent
Roman
Luchterhand Literaturverlag, München 2009, gebunden, 384 Seiten, 21,95 Euro



Seit ihrem ersten Roman "Alle Tage" gilt die 1971 in Ungarn geborene Schriftstellerin Terezia Mora als eine der "bemerkenswertesten Erzählerinnen der Gegenwart", so Wiebke Porombka in der taz. Moras zweiter Roman, "Der einzige Mann auf dem Kontinent" (), erzählt eine sehr aktuelle Geschichte: Darius Kopp, in der DDR geboren, Anfang Vierzig, verheiratet, Vertreter für drahtlose Kommunikation und dicklicher Volloptimist, verteidigt vehement sein Lebensglück. Was genau er beruflich macht, ist laut Porombka nicht zu verstehen. Meist scheint er Spammails zu löschen und zu surfen. Es ist nicht mal sicher, ob seine in Kalifornien sitzende Firma wirklich noch existiert. Seine Frau Flora darf das nicht erfahren. Die weltweite Wirtschaftskrise trägt ihren Teil zum Desaster bei. Porombka begreift Kopp deshalb als eine "symptomatische" Figur des frühen 21. Jahrhunderts, unserer Zeit. Diese fängt Mora so eindringlich mit ihren Beobachtungen ein, dass sich die Rezensentin an Musils "Mann ohne Eigenschaften" erinnert fühlt. In der FAZ zeigt sich Tilman Spreckelsen fasziniert vom Aufbau des Romans: Denn Kopp hat die Angewohnheit, mit sich selbst zu sprechen und die Reaktionen seiner Umwelt vorwegzunehmen, so dass der Roman von einer "wunderbaren Vielstimmigkeit" geprägt ist. Und Christoph Schröder erklärt Kopp im Tagesspiegel zu einer "erschütternd zeitgemäßen Figur".


Herta Müller
Atemschaukel
Roman
Carl Hanser Verlag, München 2009, gebunden, 304 Seiten, 19,90 Euro



Mit ihrem Roman "Atemschaukel" () hat Herta Müller die Kritikerschaft gespalten, wie es schon lange niemand mehr geschafft hat: Die einen preisen diese auf den Erinnerungen des Lyrikers Oskar Pastior basierende Erzählung über die Deportation der Rumäniendeutschen in den Gulag als großes "europäisches Meisterwerk", die anderen lehnen ihn als "blanken Entbehrungskitsch" ab. Die Grabenlinien verlaufen dabei wie folgt: In der SZ preist Karl-Markus Gauß den Roman als "Sprachkunstwerk, das seinesgleichen sucht in der europäischen Literatur", sehr beeindruckt ist auch Andrea Köhler in der NZZ. In der Zeit rühmt Michael Naumann den Roman als verstörendes Meisterwerk und seltenes Dokument der dichterischen Empörung. Ebenfalls in der Zeit schmäht Iris Radisch dagegen den Roman für eine unernste, "unverbindliche Virtuosität", Christopher Schröder, von dem auch das böse Verdikt des Kitsches stammt, hält den Roman in der taz schlicht für misslungen.


David Foster Wallace
Unendlicher Spaß
Roman
Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2009, gebunden, 1548 Seiten, 39,95 Euro



David Foster Wallaces Roman "Unendlicher Spaß" () ist das Literaturereignis des Sommers. Mit sechs Jahren Verspätung, aber mächtiger Bugwelle und eigenem deutschen Autorenforum kommt dieser Roman auf den deutschen Markt. Dabei geben die Kritiker zu erkennen, dass Wallaces gut 1500 Seiten schweres Trumm für sie nicht das reine Vergnügen war. Es ging dem Autor, der sich vor einem Jahr erhängte, um die Sucht nach Lust, nach Drogen, Erfolg und Unterhaltung, um die Suche nach dem "menschlichen Schmerzkern" und das Ende der Ironie, schreibt Alex Rühle in der SZ und tituliert den Roman - nach erfolgreicher Bewältigung - als den "Himalaya der Postmoderne". Ekkehard Knörer mag in der taz nicht entscheiden, ob Wallace die Gegenwart zur Kenntlichkeit oder zur Unkenntlichkeit entstellt. FAZ-Kritiker Richard Kämmerlings erkennt in dem Buch das Gegengift zum drohenden Tod der Kultur und des Subjekt. Ulrich Greiner wurde in der Zeit ganz kalt über so viel Leere, Ich-Verlust und Gottesferne. Die NZZ fühlte sich durch den sprachlichen Reichtum für alle Strapazen entschädigt. Und alle preisen Übersetzer Ulrich Blumenbach für seine Leistung, die es dem deutschen Leser so leicht wie nur möglich mache.


Knut Hamsun
Hunger
Roman
Claassen Verlag, Berlin 2009, gebunden, 236 Seiten, 19,90 Euro



Wenn sich auch Norwegen und der Rest der Welt noch immer schwer tun, den Hitler-Verehrer Hamsun zu verehren, Wolfgang Schneider, der "Hunger" zusammen mit dem ebenfalls neu übersetzten Roman "Pan" bespricht, zeigt sich in der FAZ vorbehaltlos begeistert: Für ihn ist dieser 1890 erschienene Roman ein "Pionierwerk der literarischen Moderne", auch heute noch eine "grandiose Leseerfahrung" und eine "schwarze Komödie der Scham". Es geht um einen jungen Mann, der Anerkennung als Journalist und Schriftsteller sucht. Er ist so bitter arm, dass er buchstäblich Hunger leidet. Wie das beschrieben wird, die geradezu irrwitzig anmutenden Strategien, mit denen er sein Elend vor sich und der Welt zu verbergen sucht, das beschert dem Leser heute noch eine "grandiose Leseerfahrung", so Schneider. Großes Lob auch für die "makellose" Neuübersetzung von Siegfried Weibel. In der SZ empfiehlt Alexander Kissler ein Hörbuch () zum Roman: stark gekürzt zwar, aber mit dem wunderbaren Oskar Werner als Sprecher. (Hier eine Hörprobe beim Verlag, mehr von Oskar Werner bei youtube)


Yu Hua
Brüder
Roman
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009, gebunden, 768 Seiten, 24,95 Euro



Yu Huas Roman "Brüder" () hat die Kritiker nicht nur als Epochenroman von buddenbrookschem Format ungemein beeindruckt. Sie fanden ihn auch richtig komisch! In der Zeit staunt Hans-Christoph Buch über den Reichtum des Romans, der die grausame Tragödie der Kulturrevolution ebenso schildere wie die Farce der Reformpolitik. Und dass hier nach Herzenslust "gefurzt, gepisst und gevögelt" wird, hält der vergnügte Buch für einen gezielten Angriff auf die guten Sitten. NZZ-Kritiker Andreas Breitenstein rühmt das Mammutwerk (mit 768 Seiten allerdings gerade mal halb so dick wie Wallaces "Unendlicher Spaß") als vielschichtiges, welthaltiges und "ironisch-heiteres, gefühlsstark-witziges Schelmenstück". In der taz rümpfte Lennart Laberenz das Näschen: "bestenfalls kurzweilig". Hier noch ein Hinweis auf einen Artikel Yu Huas in der New York Times: Seine Erinnerungen an die niedergeschlagene Studentenbewegung auf dem Tienanmen-Platz vor 20 Jahren.


Comic

Ben Katchor
Der Jude von New York
Avant Verlag, Berlin 2009, Paperback, 112 Seiten, 19,95 Euro



Höchstes Lob regnete es von allen Seiten auf diesen Comic. Ben Katchor verknüpft Episoden aus dem Leben jüdischer Einwanderer zu einem Bild New Yorks in den 1830er Jahren. Für NZZ-Kritiker Christian Gasser ist dies einer der "außergewöhnlichsten und hervorragendsten Comics der letzten Jahre". In der FR rühmt Ole Frahm Katchors große Kunst, religiösem Ernst mit "ausgesprochener Komik" zu begegnen. Für ihn ist das Buch schlicht ein "Meisterwerk" ist. In der SZ lobt der Schriftsteller Thomas von Steinaecker, wie hier der "Wahnwitz des frühen Kapitalismus" unterhaltsam geschildert wird. Steinaecker hat den Band auch im Titel-Magazin besprochen. "Stets geht es in 'Der Jude von New York' um das Verhältnis von Utopie und Tradition; um das Pathos des Neuanfangs und um die unstillbare Sehnsucht nach einer Identität, die sich aus der Herkunft speist", schreibt ein hingerissener Jens Balzer in Literaturen (hier sind auch einige Zeichnungen abgebildet). Und Brigitte Helbling zeichnet in ihrer Kritik in der Berliner Zeitung ein kleines Porträt des Autors.


Sachbuch

Ilija Trojanow, Juli Zeh
Angriff auf die Freiheit
Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte
Carl Hanser Verlag, München 2009, Paperback, 176 Seiten, 14,90 Euro

()

Juli Zeh und Ilija Trojanow hatten den richtigen Riecher. Lange Zeit agierte der Überwachungsstaat, der immer mehr "Geheimnisse" abschafft, immer mehr Telefonate abhört, immer mehr Internetseiten sperrt, recht unbehelligt. Aber in diesem Jahr wurde er plötzlich zum Thema: Die Blogosphäre entpuppte sich mit den Kampagnen gegen Wolfgang Schäubles Vorratsdatenspeicherung und "Zensursulas" Anti-Internetpopulismus als neuer Akteur in der Öffentlichkeit. Zeh und Trojanow warnen vor dem "transparenten Menschen". Uwe Justus Wenzel kann ihnen in der NZZ weitgehend zustimmen, warnt aber vor Alarmismus. Harry Nutt in der FR wendet ein, dass die beiden Autoren mit dem Säbel kämpfen, wo das Florett die bessere Waffe gewesen wäre. Eine kritische Befragung des Publikums und seiner Unbedenklichkeit angesichts der neuen Technologien fehlt ihm in dem Buch. (Hier eine Leseprobe)


Richard Overy
Die letzten zehn Tage
Europa am Vorabend des Zweiten Weltkriegs. 24. August bis 3. September 1939
Pantheon Verlag, München 2009, Kartoniert, 160 Seiten, 12,95 Euro

()

Die letzten zehn Tage verzweifelte Diplomatie, bevor Hitler und Stalin sich Polen als Kriegsbeute aufteilten, schildert dieses Buch pünktlich zum siebzigsten Jahrestag des Kriegsbeginns. Die tragische Dimension darin: Die westlichen Diplomaten rotierten, wenn man Rainer Blasius in der FAZ glauben darf, während Hitler von Anfang ohnehin nichts anderes als Krieg im Sinn hatte. Thomas Urban schätzt in der SZ Overys Fokus auf weniger bekannte Aspekte des Krieges. Und er ist dem Autor dankbar, dass er dabei Hitlers Agressorenrolle dennoch nicht im geringsten in Frage stellt. Als ergänzende Lektüre empfehlen beide Rezensenten Jochen Böhlers Studie "Der Überfall" über Deutschlands Krieg gegen Polen.


Peter Guralnick
Sweet Soul Music
Bosworth Musikverlag, Berlin 2009, Paperback, 544 Seiten, 29,95 Euro

()
Eine äußerst verdienstvolle Übersetzung eines des besten Bücher über die Geschichte der Popmusik, bisher nur einmal besprochen, in der taz, von Lars Bulnheim. Für ihn ist es ganz klar das "Standardwerk": Von den Anfängen des R'n'B, über die Lockerung von Rassenschranken durch Ray Charles, den Schuhputzer James Brown und die Plattenfirma Stax, die ihr erstes Tonstudio aus einem alten Kinosaal bastelte - nichts bleibt unerwähnt. Bulnheim gratuliert Guralnick zu der "wichtigsten Milieustudie und Anekdotensammlung" über die Soulmusik der Südstaaten Amerikas. Seine Linernotes seien "makellos" und perfektionistisch recherchiert und lesen sich für den Rezensenten manchmal gar wie ein Roman. Und da wir das Buch vor Jahren zufällig im Original gelesen haben, können wir nur begeistert zustimmen: Es ist eines dieser gut belegten, unprätenziösen, liebevollen und faktenreichen Reportagebücher, für die man den amerikanischen Journalismus bewundern muss.