Bücherbrief

Dorfbrunnengespräch

09.12.2011. Inka Parei schickt uns in die Kältezentrale des Neuen Deutschlands. Jose Eduardo Agualusa präsentiert tropischen Barock aus Angola. Joseph Roth und Stefan Zweig sehen in ihren Briefen das Unheil heraufziehen. Nuran David Calis findet die Liebe in Bielefeld. Neil MacGregor öffnet eine Schatzkammer. Orlando Figes führt uns durch den Krimkrieg. Dies alles und mehr in den besten Büchern des Dezembers.
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Weitere Anregungen finden Sie in den Büchern der Saison vom Herbst 2011, unseren Notizen zu den Literaturbeilagen vom Herbst 2011, den älteren Bücherbriefen, den Leseproben in Vorgeblättert und der Krimikolumne "Mord und Ratschlag".


Literatur

Inka Parei
Die Kältezentrale
Roman
Schöffling und Co. Verlag 2011, 210 Seiten, 19,95 Euro



In der Kältezentrale wurden zu DDR-Zeiten die stets heißlaufenden Druckerpressen des Neuen Deutschland gekühlt. Die Westdeutsche Inka Parei erzählt von einem Mann, der hier 1986 als Kältetechniker gearbeitet hat und sich zwanzig Jahre später an die damaligen Ereignisse erinnert, an alte Mobbing- und Selbstmordgeschichten und einen möglicherweise verstrahlten Lastwagen aus der Ukraine. Ausgesprochen gefesselt waren die KritikerInnen von diesem streng komponierten und verrätselten Roman. In der FR lobte Judith von Sternburg den Roman als "Meisterstück einer Einfühlung und Anverwandlung". Christoph Schröder bewunderte in der SZ die dichte Atmosphäre, die Parei mit ihrer kühlen, knappen Sprache erzeugt. Und in der FAZ zeigte sich Sandra Kegel fasziniert von diesem "erratischen Werk", und am Ende von der Erkenntnis geschockt, "unter falscher Annahme gelesen, ja gelebt zu haben".

Joseph Roth, Stefan Zweig
Jede Freundschaft mit mir ist verderblich
Briefwechsel 1927 - 1939
Wallstein Verlag 2011, 624 Seiten, 39,90 Euro



Liest man die beiden in FAZ und FR bisher erschienenen Kritiken, so scheint es sich um eine ebenso packende wie tieftraurige Lektüre zu handeln. Roth war der Prophet der beiden, der alles Unheil mit kaum erträglicher Deutlichkeit heraufziehen sah, Zweig der Menschenfreund und Verdrängungskünstler. Beide starben an den Umständen, die in den Briefen herzzerreißend reflektiert werden. Roth trank sich im Pariser Exil zu Tode, Stefan Zweig nahm sich zusammen mit seiner Frau in Brasilien das Leben. FR-Rzensent Rezensent Wilhelm von Sternburg ist bewegt. Der Briefwechsel, der die Jahre 1927 bis 1939 umfasst, ist ein ungleicher, berichtet Sternburg aber auch, die meisten Briefe stammen von Roth und sind zum Teil unter gehörigem Alkoholeinfluss geschrieben, wie der Rezensent vermutet. Katharina Teutsch verweist in der FAZ auf den instruktiven Kommentar- und Anmerkungsteil des nicht ganz billigen Bandes. Auch Peter Stephan Jungk lobt in der Welt den "akribisch betreuten Anmerkungsapparat, der zu jedem einzelnen Brief zum Teil überraschende Zusatzinformationen liefert". Wer - von den Romanen abgesehen - mehr Joseph Roth lesen möchte, dem sei "Ich zeichne das Gesicht der Zeit" mit Essays, Reportagen und Feuilletons aus den zwanziger Jahren ans Herz gelegt.

Jose Eduardo Agualusa
Barroco Tropical
Roman
A1 Verlag 2011, 331 Seiten, 22,80 Euro



Überbordende Fülle verspricht Jose Eduardo Agualusas Roman "Barroco Tropical", der von einem Schriftsteller erzählt, der in die politischen Machenschaften von Angolas Reichen und Mächtigen verstrickt wird. Bodenschätze, Waffenhandel, Immobilienspekulation - Portugals frühere Kolonie in Afrikas Südwesten bietet reichlich Romanstoff. Tropischer Barock, weiß Karl-Markus Gauß nach der Lektüre, ist noch praller und sinnlicher als der europäische: "Die Hölle ist noch höllischer, der Himmel noch himmlischer, und die Frauen, sie sind noch üppiger". In der FAZ rühmte Kernsten Knipp Agualusa als "großen, unerschöpflichen Erzähler" und den ambitioniertesten der Lusophonie.

Miljenko Jergovic
Wolga, Wolga
Roman
Schöffling und Co. Verlag 2011, 328 Seiten, 21,95 Euro



Mit diesem Band beschließt Miljenko Jergovic seine Auto-Trilogie, deren ersten Teile "Freelander" und "Buick Rivera" sehr gefeiert wurden. In "Wolga, Wolga" nun erzählt Jergovic von dem Armeefahrer Dzelal Pljevljak, den mehrere Schicksalsschläge getroffen und zu einem strenggläubigen Muslim gemacht haben. Jeden Tag fährt er von Split nach Livno in die Moschee. Als bei einem Unfall mit seinem Wagen eine ganze Familie ums Leben kommt, nimmt er die Schuld auf sich. Andreas Breitenstein lobt in der NZZ, wie kunstvoll Jergovic persönliches Schicksal mit Jugoslawiens Geschichte verknüpft. Auch die bittere Komik des Romans gefällt ihm sehr gut. "Grandios", meint Christian Hippe in Cicero.

Nuran David Calis
Der Mond ist unsere Sonne
Roman
S. Fischer Verlag 2011, 207 Seiten, 17,95 Euro



Theaterregisseur Nuran David Calis erzählt in seinem Romandebüt "Der Mond ist unsere Sonne" die Geschichte einer wilden, leidenschaftlichen und zum Scheitern verdammten Liebe in - ja - Bielefeld. Es ist die Geschichte des Türstehers Alen und der Bürgerstochter Flo. In der Zeit imponierte Marie Schmidt vor allem die "unspektakuläre Unversöhnlichkeit", mit der Calis erzählt. In der FR freute sich Sabine Vogel über diesen "mörderisch kalten" Roman: Literatur als Gangsta-Rap, das ist nach ihrem Geschmack.


Sachbuch

Ottfried Dascher
Es ist was Wahnsinniges mit der Kunst
Alfred Flechtheim. Sammler, Kunsthändler und Verleger
Nimbus Verlag 2011, 350 Seiten, 39,80 Euro



Alfred Flechtheim, 1878 in Münster geborener Sproß einer jüdischen Kaufmannsfamilie, konnte sich seiner Bestimmung als Getreidehändler entziehen und eröffnete 1913 in Düsseldorf seine Kunsthandlung, die schnell berühmt wurde. Impressionisten, Kubisten, neue deutsche Malerei - das alles fand man bei ihm. 1933 wurde sein Unternehmen liquidiert, Flechtheim starb 1937 im Exil in London elend an einer Blutvergiftung. Er war absolut modern, davon zeugt auch sein kosmopolitisches Magazin Der Querschnitt (eine Auswahl von Artikeln und Fotos erschien 1977 bei Ullstein, nur noch antiquarisch). Ottfried Dascher hat jetzt eine Biografie Flechtheims geschrieben, die Michael Sontheimer in der taz schlicht überfällig und "höchst verdienstvoll" findet. "Vorzüglich" beschreibt Dascher, wie maßgeblich Flechtheim am Durchbruch der modernen Malerei und Skulptur in Deutschland beteiligt war, lobt Eva Hepper im Deutschlandradio.

Günter Blamberger
Heinrich von Kleist
Biografie
S. Fischer Verlag 2011, 688 Seiten, 24,95 Euro



Zwei Kleistbiografien sind in diesem Jahr erschienen. Günter Blambergers Biografie ist schwerpunktmäßig eine Werkanalyse, die den FAZ-Rezensenten Wolfgang Schneider begeisterte. Selten zuvor wurden Kleists "gesplitterte Syntax" und die "Stromschnellen" seines Stils so emphatisch beschrieben, meint Schneider. SZ-Rezensent Mark-Georg Dehrmann findet die Charakterisierung Kleists als am Leben experimentierender "Projektmacher" faszinierend. Und im Times Literary Supplement ist Iain Bamforth überzeugt, dass Blambergers Kleistbiografie "sicher eine Generation lang die definitive Lebensbeschreibung bleiben wird". Auch FR-Theaterkritiker Peter Michalzik hat eine - viel und gut besprochene - Kleist-Biografie vorgelegt, die sich mehr auf die Lebensstationen des Dichters konzentriert.

Bahman Nirumand
Weit entfernt von dem Ort, an dem ich sein müsste
Autobiografie
Rowohlt Verlag 2011, 381 Seiten, 19,95 Euro



Bahman Nirumand ist eine legendäre Figur der 68er-Zeit in Berlin und fügte zusammen mit Gaston Salvatore den doch recht teutonischen Recken dieser Zeit eine leicht exotische Note bei. Nun legt er seine Memoiren vor, die sein Oszillieren zwischen dem Iran und Deutschland, seinen Widerstand gegen den Schah, die anfängliche Sympathie für die iranische Revolution mit anschließender Ernüchterung widerspiegeln und dem deutschen Leser sowohl einen Blick auf die iranische als auch einen gespiegelten Blick auf die eigene Kultur gewährt. Trotz der vielen Rückschläge ist diese Autobiografie keineswegs defätistisch, meint Angela Schader in der NZZ. Und Rudolf Chimelli, der grand old man der Verständigung mit dem Nahen Osten in der SZ, findet das Buch faszinierend - vor allem weil der Autor jenseits des Politischen Unterschiede von Musik, Architektur, Kunst und Literatur in Orient und Okzident besonders hervorhebt.

Jürgen Habermas
Zur Verfassung Europas
Ein Essay
Suhrkamp Verlag 2011, 140 Seiten, 14 Euro



Respekt löst dieser Habermas aus. Spott auch. Gustav Seibt zieh ihn in der SZ einer gewissen professoralen Naivität. Welche europäischen Länder Habermas aus seiner eigenen Anschauung kennne, fragte er polemisch: "Bestimmt nicht Italien oder Griechenland. Dort wird der Staat von einem Großteil der Bürger sowohl als Feind wie als Beute begriffen, nicht jedoch als Bürge für Freiheit und Gerechtigkeit." Bei allen anderen herrscht wie gesagt Respekt vor Habermas' europäischen Enthusiasmus in Zeiten der Krise. In dem Moment, wo nicht mal klar ist, ob sich der Euro retten lässt, möchte Habermas die EU noch auf die ganze Welt ausdehnen und ein Weltparlament institutieren, berichtet Micha Brumlik in der taz und macht seinerseits einen kleinen Einwand geltend: Habermas entwickle seine Ideen so völlig losgelöst von der Realität der EU-Bürger, dass diese völlig abstrakt blieben. Uwe Justus Wenzel kann Habermas' Utopismus in der NZZ dagegen mehr abgewinnen und möchte seinen Traum von der "Weltbürgergemeinschaft" von Zürich aus gern mitträumen.

Orlando Figes
Krimkrieg
Der letzte Kreuzzug
Berlin Verlag 2011, 747 Seiten, 36 Euro

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Sehr positiv wurde auch das neue Buch des britischen Historikers Orlando Figes über den "Krimkrieg" aufgenommen, den Figes als einen Religionskrieg moderner Prägung beschreibt, der trotz seiner immens hohen Kosten und läppischen Erfolge offenbar Schule machte. Epochale Innovationen der Kriegsführung werden dem Leser ebenso präsentiert wie die klassische Schlachtenschilderung, staunt Andreas Platthaus in der FAZ. In der Zeit beäugt Jörg Baberowski angeregt die Interessenkonstellation im Großen Spiel der europäischen Mächte vor dem Ersten Weltkrieg. In der taz fragt Matthias Lohre, warum Figes den Krimkrieg unbedingt als Kreuzzug statt als machtpolitischen Kampf interpretieren will. Dennoch ist dies für ihn ein "brillantes Geschichtsbuch".

Neil MacGregor
Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
C. H. Beck Verlag 2011, 816 Seiten, 39,95 Euro

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Natürlich kann niemand so gut Weltgeschichte erzählen wie die Briten. Auch der Direktor des British Museums, der Schotte Neil MacGregor, wurde für seine "Geschichte der Welt in 100 Objekten" ausgiebig gelobt. MacGregor präsentiert in diesem aus einer BBC-Sendung hervorgegangenen Buch seine Lieblingsartefakte: Kieselsteine, Faustkeile, antike Solarlampen und Götterfigurinen. In der NZZ bewundert Urs Hafner diese Schatzkammer voller Einsichten und Erkenntnsse. Und in der Zeit genoss Elisabeth von Thadden das Buch in seiner Mischung aus "Dorfbrunnengespräch, Spekulationslust und tief gelehrtem Weltwissen". Lesenswert ist auch das Porträt MacGregors, das Tim Adams im Observer geschrieben hat: ein unglaublich vielseitiger, unkonventioneller und - selbst Downing Street - überzeugender Mann.


Bildband

Gundula Schulze Eldowy
Berlin in einer Hundenacht
Fotografien / Photographs 1977-1990. Deutsch -Englisch
Lehmstedt Verlag 2011, 245 Seiten, 29,90 Euro



NZZ-Rezensent Joachim Güntner staunt beim Blättern in diesem Fotoband: Wie fern die DDR schon ist! Was für Gesichter, die Spuren des Lebenskampfes zeigen. Die Schwarzweißfotos, die Gundula Schulze Eldowy zwischen 1977 und 1990 in Ostberlin aufgenommen hat, "sprechen von Versehrtheit, Mühsal, Kummer, Einfachheit, trotziger Vitalität, gelegentlich auch den Freuden eines in Küsse und Bier flüchtenden Daseins". Besonders beeindruckt hat den Rezensenten die Unsentimentalität der Fotografin. Einige der Fotos kann man hier sehen. Im RBB erzählt Schulze Eldowy im Interview, wie ihre Bilder entstanden sind. Interessant ist auch Mareike Nieberdings Artikel in der Zeit über Schulze Eldowys Verleger Mark Lehmstedt, der sich auf Fotobände aus der DDR spezialisiert hat.