07.08.2012. Hernan Ronsino führt mitten ins Massaker von San Martin. Lukas Meschik führt ins Zentrum des überforderten modernen Menschen. Olga Martynova dichtet von Tschwirik und Tschwirka. Jonathan Littell schickt Notizen aus dem syrischen Homs. Dies alles und mehr in den besten Büchern des August.
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Vorgeblättert, der
Krimikolumne "Mord und Ratschlag", den
Büchern der Saison vom
Frühjahr 2012 und unseren Notizen zu den
Literaturbeilagen vom
Frühjahr 2012.
LiteraturHernan RonsinoLetzter Zug nach Buenos AiresRoman
Bilger Verlag 2012, 104 Seiten, 19 Euro
Auf gerade einmal 104 Seiten entfaltet der argentinische Autor
Hernan Ronsino seine Geschichte, die über vier innere Monologe von vier Figuren vermittelt wird und sich über vier Jahrzehnte erstreckt. Die Handlung führt von der argentinischen Provinz der achtziger Jahre zurück ins Buenos Aires der Fünfziger, zum "
Massaker von San Martin", bei dem Polizisten 1956 eine Gruppe unbeteiligter Zivilisten erschossen. Timo Berger hält den Autor in der
taz für eine singuläre Erscheinung der argentinischen Literatur und fühlt sich von seinem fragmentarischen "
Kammerspiel über Liebe, Macht und Verrat" am ehesten an den Nouveau Roman erinnert. Cornelia Fiedler hebt in der
SZ die
subtile Spannung hervor, die Ronsino durch Auslassungen und Wiederholungen erzeugt. Außerdem lobt sie die treffliche Übersetzung von Luis Ruby und bekennt, dass sie nach der Lektüre dieses Kurzromans am liebsten sofort wieder von vorne begonnen hätte.
Lukas Meschik Luzidin oder Die Stille
Jung und Jung Verlag 2012, 562 Seiten, 25 Euro
Lukas Meschiks fast sechshundert Seiten umfassender Roman "Luzidin oder die Stille" hat
NZZ-Rezensentin Ingeborg Waldinger
mächtig beeindruckt. Das Universum, das Cern, Wien, Gott, eine radikale Widerstandsgruppe und eine
Wunderdroge names Luzidin spielen eine wesentliche Rolle in dieser Gesellschaftssatire, deren
sprachliche Virtuosität und enorme Komplexität Waldinger lobt. Das ist österreichischer Stil,
meint Franz Birkenhauer im sf-Magazin, dieses "Auftrumpfen in Sprachakrobatik", wobei ihm allerdings auch 200 Seiten genügt hätten. Hier kommt einer ganz nah an die "
zentralen Bruchstellen unserer Gesellschaft heran",
meint Evelyne Polt-Heinzl in der
Presse. Der Wegfall jeglicher Sicherheit, die Orientierungslosikeit, Parallelwelten, immer mehr Angebote - alles was den modernen Menschen
tendenziell überfordert, werde in diesem Roman "voller abgründiger Kapriolen" beschrieben.
Chinua AchebeAlles zerfälltRoman
S. Fischer Verlag 2012, 236 Seiten, 19,99 Euro
1958 erschien "Things fall apart", der erste Roman des nigerianischen Schriftstellers Chinua Achebe. Heute gilt er als
Klassiker der afrikanischen Literatur. Achebe erzählt von einem mit drei Frauen verheirateten Mann, der sich an den strengen Regeln seines Stammes aufreibt, um schließlich am Regime der britischen Kolonialherren endgültig zu zerbrechen. Achebe begründete mit diesem Roman, der jetzt in neuer Übersetzung erschienen ist, die postkoloniale Literatur, indem er den Nigerianern zeigte, dass sie eine
präkoloniale Identität haben, erklärt Marie-Sophie Adeoso in der
FR. In der
SZ findet es Hans-Peter Kunisch ziemlich beschämend, dass es über 50 Jahre gedauert hat, bis eine gute deutsche Übersetzung erschienen ist, denn dieser Roman über eine "ungebärdige Repräsentationsfigur eines
Afrikas im Übergang" ist
Weltliteratur, versichert Kunisch. Barbara Wahlster imponiert im
Deutschlandradio der Duktus der
mündlichen Rede, in dem Achebe erzählt.
Karl Heinz BohrerGranatsplitterEine Erzählung
Carl Hanser Verlag 2012, 320 Seiten, 19,90 Euro
So hymnisch wie diese autobiografische Erzählung wurde ein Buch des Intellektuellen und Literaturwissenschaftlers
Karl Heinz Bohrer lange nicht mehr besprochen. Vielleicht hat Bohrer mit seinem Ästhetizismus und seiner Abneigung gegenüber dem deutschen Provinzialismus zu kräftig gegen den Stachel des Feuilletons gelöckt. Aber nun überschlagen sich die Kritiker geradezu und feiern die Rückkehr eines Schriftstellers aus der Theorie: Als "
Meisterwerk der Erinnerung" preist Andreas Platthaus in der
FAZ die Erzählung, als "wortmächtig, elegant, klug und schön". In der
Welt würdigt Stephan Sattler auch Bohrers
rheinisches Naturell, das für Witz und Komik sorge. In der
SZ verspricht Gustav Seibt mit diesen Erinnerungen an Krieg, Schule und Internat, an Aufenthalte in England und erste Shakespeare-Lektüren ein umwerfendes Leseerlebnis: "Man rauscht in einem
abstürzenden Fahrstuhl in die Tiefe der Zeit."
Olga MartynovaVon Tschwirik und TschwirkaDroschl Verlag 2012, 96 Seiten, 16 Euro
Im Juli sorgte
Olga Martynova für Furore, als sie mit dem Text "Ich werde sagen: 'Hi!'" den Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb gewann (
hier ein Video ihrer Lesung,
hier ihr Gewinnertext). In ihrem Band "Von Tschwirik und Tschwirka" kann man sich nun auch von ihrem Talent als Lyrikerin überzeugen. Beate Tröger zeigt sich in der
FAZ hingerissen und sieht in der
Bachmann-Preisträgerin nicht nur eine "würdige Nachfahrin der Klagenfurter Ahnin", sondern entdeckt im gelehrten Anspielungsreichtum der drei im Band enthaltenen Gedichtzyklen auch kunstvolle Verbindungen zu Novalis, Christian Morgenstern, Ossip Mandelstam oder Emily Dickinson. Martynova, die vor 20 Jahren mit ihrem Mann, dem Lyriker Oleg Jurjew, von Petersburg nach Frankfurt am Main zog, verfasste die Gedichte auf Russisch und übersetzte sie gemeinsam mit der deutschen Lyrikerin
Elke Erb ins Deutsche. Kostprobe: "Fort ist der Sommer gesegelt / auf unerwartetem Besen. / Fraß das untere Licht und stellte sich / als Schüssel voll Beeren ab auf dem Tisch."
SachbuchYang JishengGrabstein - MùbeiDie große chinesische Hungerkatastrophe 1958-1962
S. Fischer Verlag 2012, 800 Seiten, 28 Euro
Noch immer ist Chinas große Hungerkatastrophe, in die Mao das Land mit seinem
Großen Sprung stürzte, für die Machthaber in Peking ein Tabu. Mitten in Friedenszeiten und bei guten Ernten starben zwischen 1958 und 1962 über
dreißig Millionen Menschen, allein aufgrund einer Kollektivierung, die die Bauern in Volkskommunen und Volksküchen zwang. Der Journalist
Yang Jisheng hat über Jahre unbemerkt in den Archiven der Partei geforscht und Augenzeugen befragt und die Ergebnisse seiner Recherchen in diesem gewaltigen Buch zusammengetragen. In Hongkong konnte es erscheinen, auf dem chinesischen Festland wurde es sofort verboten. Detlev Claussen hat die deutsche Fassung für die
taz gelesen und berichtet mit Entsetzen von einem politischen Fanatismus, der angesichts eines ungehinderten
Kannibalismus auch in eine zivilisatorische Katastrophe führte. In der
Welt empfiehlt Michael Holmes das Buch, wenn auch nicht unbedingt als leichte Lektüre: "Yang schildert eine Hölle aus Hunger, Angst und Schmerz".
Jonathan LittellNotizen aus HomsHanser Berlin 2012, E-Book, 240 Seiten, 14,99 Euro
Jonathan Littell gehört zu den tollkühnen Autoren in der Tradition von André Malraux, Bernard-Henri Lévy und André Glucksmann, die sich in
Krisengebiete durchschlagen und berichten, was sie gesehen haben. Nicht immer aus journalistischer Perspektive, sondern auch mit dem
spezifischen Blick des Schriftstellers oder auch des Philosophen, der im Namen universaler Prinzipien spricht. Den beiden bisherigen Rezensenten, Andreas Fanizadeh in der
taz und Arno Widmann in der
FR hat Littells Reportage den Atem verschlagen: So physisch und direkt wird der
Krieg in Syrien hier geschildert. Es ist anzunehmen, dass diese Reportage zu den
bleibenden Dokumenten dieses schlecht durchschaubaren und dennoch so empörenden Kriegs zählt.
Robert KnappRömer im Schatten der GeschichteGladiatoren, Prostituierte, Soldaten: Männer und Frauen im Römischen Reich
Klett-Cotta Verlag 2012, 398 Seiten, 24,95 Euro
Bisher waren nur 0,5 Prozent der römischen Geschichte bekannt. Robert Knapp, Althistoriker aus Berkeley, erzählt die übrigen 99,5 Prozent. So verspricht es jedenfalls der Klappentext, der einem Lust macht auf das Leben der gewöhnlichen, von der Historiografie
vernachlässigten Römer. Und es gelingt. Das Buch sei weniger reißerisch als sein Titel, konstatiert Hans-Albrecht Koch in der
NZZ und lobt gerade die sorgsame Behandlung und Präsentation der Quellen. Uwe Walter fühlte sich in der
FAZ gar zu Fragen an die
heutige Gesellschaft angeregt: Wie stark dürfen soziale Unterschiede in einer Gesellschaft sein, dass sie noch funktioniert? Und Burkhard Müller lobt in der
SZ, dass Knapp auch mit
spürbarer Sympathie über die unteren Stände im Römischen Reich schreibt.
Roberto SavianoDer Kampf geht weiterWiderstand gegen Mafia und Korruption
Carl Hanser Verlag 2012, 176 Seiten, 16,90 Euro
Ein Phänomen wie die
Mafia (und die Camorra und die 'Ndrangheta) ist auch immer eine Prüfung der
Immunsysteme einer Gesellschaft: Wer sich gegen sie stellt, wird nicht nur von diesen kriminellen Organisationen bedroht, sondern er muss unter Überwachung leben - und von der Gesellschaft wird es einem keineswegs immer gedankt. Saviano ist einer von denen, die diesen schwierigen Weg gehen, und die in Italien neben den üblichen Gleichgültigen auch viele Bewunderer finden. Sie sind es schließlich, die einen an das Land trotz allem glauben lassen. Saviano warnt hier davor, dass sich die Mafia
nach Norditalien und darüber hinaus ausdehnt und findet hierfür den Dank von Christiane Liermann in der
FAZ. Hingewiesen sei auch auf den jungen Journalisten
Giovanni Tizian, auf den wir neulich
in der Magazinrundschau hingewiesen haben -
rue89 hat ein Interview mit ihm gebracht: Auch er schreibt über die Ausdehnung der Mafia über die italienischen Grenzen hinaus - und besonders auch nach Deutschland. Sein Buch über die "Mafia AG" erscheint dieser Tage
bei Rotbuch.