08.08.2011. Liao Yiwu erzählt unverschämt schamlose Geschichten aus dem Gefängnis, Elisabeth Filhol erzählt kühl vom Tscherenkow-Effekt, Annette Pehnt zeichnet ein fieses Porträt einer gutherzigen Studentin. Ralph Bollmann bewundert die Walküre in Detmold. Dies alles und mehr in den besten Büchern des August.
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Leseproben in
Vorgeblättert, der Krimikolumne
"Mord und Ratschlag", den
Büchern der Saison vom
Frühjahr 2011 und unseren Notizen zu den
Literaturbeilagen vom
Frühjahr 2011.
LiteraturLiao YiwuFür ein Lied und hundert hundert LiederEin Zeugenbericht aus chinesischen Gefängnissen
S. Fischer Verlag 2011, 592 Seiten, 24,95 Euro
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Ein
Literaturereignis. Mit seinem Bericht aus den chinesischen Gefängnissen hat Liao Yiwu ein Werk geschaffen, das in seinem literarischen Rang mit den Großwerken der Lagerliteratur von
Solschenizyn bis Kertesz gleichgestellt werden kann. Da sind sich die KritikerInnen von
FAZ bis
taz einig. Allerdings verlangte ihnen Lioa Yiwus drastische Schilderungen von Demütigungen, Hunger und Folter einiges ab. Liao erzähle "verzweifelt, wild,
unverschämt schamlos", schreibt Susanne Messmer in der
taz, für die es das mit Abstand schrecklichste Buch über den Gulag ist. "Ergreifende Literatur" meint Sabine Vogel in der
FR, auch wenn ihr ein mitunter "brachialer Experssionismus" ganz schön zusetzte. Als ein großes Buch bewundert es auch Oliver Jungen in der
FAZ, als "Dokument des Schreckens" und zugleich "monumentales Epos von eigenem literarischen Rang". In der
SZ ruft Detlev Claussen nach dem
Nobelpreis.
Elisabeth FilholDer ReaktorRoman
Edition Nautilus, Hamburg 2011, 128 Seiten, 16 Euro
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Dieser Roman der französischen Autorin
Elisabeth Filhol hat die Rezensenten elektrisiert. Sie staunen über all die unheimlichen Dinge, die im Innern eines
Atomreaktors geschehen, bewundern die Präzision, mit der Filhol all dies beschreibt, und sind entsetzt über das Schicksal von Leiharbeitern, die - "
Neutronenfutter" - das Innere von Atomreaktoren reinigen. In der
FAZ lobt Oliver Jungen den lakonischen und kunstvollen Erzählstil. In der
SZ fühlt sich Alex Rühle an
Houellebecq erinnert und bescheinigte Filhol eine Prosa so
kühl wie ein Abklingbecken. Und in der
taz berichtet Dirk Knipphals fasziniert vom
Tscherenkow-Effekt, der bewirkt, dass das Wasser in eben jenen Becken umso intensiver blau leuchtet, je radioaktiver es ist.
Rosa MatteucciLourdesRoman
Diaphanes Verlag, Zürich 2011, 184 Seiten, 16,90 Euro
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Dieser Roman wurde bisher erst einmal besprochen, aber Franz Haas versichert in der
NZZ, dass die Autorin Rosa Matteucci in Italien
höchste Anerkennung genießt und ihre Übersetzung ins Deutsche überfällig war. In "Lourdes" erzählt sie von einer Pilgerfahrt, die sie als Hilfsschwester mit einer recht ramponierten Truppe Trostbedürftiger unternimmt. Dabei wirft Matteucci "
begnadet böse Blicke" auf die in Lourdes wirkende Dreifaltigkeit aus "Dummheit, Unglück, Niedertracht", frohlockt der Rezensent, der auch Matteuccis sehr eigene, spröde Sprache sehr genießt. Großes Lob geht zudem an die Übersetzerin
Marianne Schneider.
Annette PehntHier kommt MichelleEin Campusroman
Jos Fritz Verlag, Freiburg 2011, 140 Seiten, 9 Euro
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Dieser Campusroman hat erst im zweiten Anlauf seinen Weg aus der Schublade und in die Buchhandlungen gefunden.
Annette Pehnts Hausverlag wollte ihn nicht drucken, aus Furcht um den
guten ernsthaften Ruf der Autorin, weshalb sie ihn kurzerhand im kleinen Freiburger Jos Fritz Verlag herausbrachte. "Hier kommt Michelle" erzählt von den Fährnissen eines ebenso ehrgeizigen wie unbedarften Erstsemesters an einer süddeutschen Universität, genauer gesagt in einer von den Bologna-Reformen verheerten Bildungslandschaft. In der
FAZ betonte Anja Hirsch zwar mehrmals, dass es sich hierbei nicht um hohe Literatur handelt, amüsiert hat sie sich trotzdem. In der
Badischen Zeitung bekennt Bettina Schulte freimütig ihr geradezu diabolisches Lesevergnügen und lobt den Roman als "böses, hinterhältiges,
fieses Porträt einer gutwilligen und im Grunde auch gutherzigen Studentin."
Ai WeiweiMacht euch keine Illusionen über michDer verbotene Blog
Galiani Verlag 2011, 480 Seiten, 19,99 Euro
Über Ai Weiwei wurde in den letzten Monaten so viel berichtet, dass manche schon anfangen abzuwinken. Auch
FAZ-Rezensent Niklas Maak war es ein bisschen zuviel. Trotzdem empfiehlt er Ais Blog unbedingt zur Lektüre. Denn wie der chinesische Künstler mit dem neuen Medium
Blog umgeht, imponiert ihm sichtlich: Ai benutze es einerseits als
künstlerisches Tagebuch und andererseits erlaube es ihm die
journalistische Auseinandersetzung mit Missständen in seiner Heimat. Das könnte auch westliche Künstler inspirieren, hofft Maak. "In seinen Texten sieht man einer
Revolution beim Wachsen zu",
meint Moira Lenz im
NDR. Ähnlich
beschreibt das im
Deutschlandradio Kultur Silke Ballweg. (Hier kann man Auszüge aus dem Blog hören, gelesen von
Martina Gedeck,
Ulrich Noethen,
Hans-Michael Rehberg und
Gottfried John)
KrimiSarah WatersDer BesucherRoman
Lübbe Verlagsgruppe 2011, 573 Seiten, 19,99 Euro
Dieser Roman ist genau das richtige für "lange,
verregnete Abende", verspricht
FAZ-Rezensent Martin Halter. Danke, das brauchen wir jetzt. In einem großen Haus im ländlichen England lebt in den späten vierziger Jahren eine Witwe mit ihren zwei erwachsenen Kindern. Plötzlich
spukt es im Haus. Doch Waters erzählt keine gewöhnliche Schauergeschichte, sondern schafft wirklich
intelligenten Grusel, beruhigt Halter seine Leser. So virtuos wie nur was von Henry James. Und bestimmt hat der Rezensent Recht: Das Buch war 2009 für den
Booker-Preis nominiert. Und im britischen
Guardian feierte Autorin
Hilary Mantel (
"Wölfe") den Roman als "
perverse Hymne auf den Verfall".
ComicDavid MazzucchelliAsterios PolypEichborn Verlag 2011, 344 Seiten, 29,95 Euro
Meisterwerk. Die Rezensenten waren
so begeistert wie man das selten erlebt. Hauptfigur in diesem grafischen Roman ist ein
hochbegabter Architekt, dessen Entwürfe jedoch nie gebaut wurden. Als seine Frau ihn verlässt und sein New Yorker Apartement abbrennt, heuert er in einer Kleinstadt als
Automechaniker an. Der Roman ist durchsetzt mit philosophischen Streitgesprächen, die originell in Bilder übersetzt werden, berichtet Clemens J. Meyer in der
Welt: "Keine Szene bildet narratives Füllmaterial, keine Diskussion nur ein Scharnier zwischen zwei Handlungssträngen". Das beeindruckt auch Christoph Haas in der
taz. In der
SZ ruft Thomas von Steinaecker: "
verrückt,
überambitioniert,
großartig". Und in der
NYT erklärte Rezensent Douglas Wolk: Dieser Roman "fordert von seinem Publikum, dass es
mit ihm kämpft, argumentiert, ihn wieder liest und wieder untersucht. Ist das nicht der ultimative Zweck von Stil?"
ReportageRalph Bollmann Walküre in Detmold Eine Entdeckungsreise durch die deutsche Provinz
Klett-Cotta Verlag 2011, 285 Seiten, 19,95 Euro
Einen großartigen Satz hat Johan Schloemann von der
SZ aus der Lektüre dieses
ungewöhnlichen Buchs mitgenommen: "Wahrhaft provinziell ? ist: die Nichtwahrnehmung der Provinz." Das hieße eigentlich, dass gerade die großen Feuilletons dieser Nation provinziell wären - denn sie sehen nicht, was Bollmann sieht, jedenfalls sehr oft nicht. Bollmann ist an alle
81 Opernstandorte Deutschlands gefahren, hat sich dort mindestens eine Oper angehört - und fand wahre Schätze. In der
taz äußert Katrin Bettina Müller geradezu beschämt über dieses schöne Projekt und diese unaufgeregte Hommage an die
deutsche Kulturnation. Und auch Schloemann empfindet große Sympathie für Bollmanns Anliegen.
Merle HilbkTschernobyl BabyWie wir lernten, das Atom zu lieben
Eichborn Verlag 2011, 275 Seiten, 17,95 Euro
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Merle Hilbk war 17, als das Atomkraftwerk von
Tschernobyl havarierte. Für "Tschernobyl Baby" ist sie nun in die traurige Region des ehemaligen Kraftwerks zwischen der Ukraine und Weißrussland gefahren und porträtiert junge Menschen - Timo Frasch berichtet in der
FAZ mit großer Begeisterung über diese Reportage. Während sie erzählt, reflektiert Hilbk immer auch, wie sich der Reaktorunfall damals für eine
junge,
beeindruckbare Deutsche anfühlte. Und so wird das Buch laut Frasch auch zu einer Auseinandersetzung Hilbks mit den eigenen Ängsten und Vorteilen - und mit ihrer Dolmetscherin und
Fahrerin Mascha, die einige Kapitel lang selbst erzählen darf. Auch Marina Achenbach hat die Reportage in der
SZ empfohlen.
Hans Christoph BuchApokalypse Afrikaoder Schiffbruch mit Zuschauern. Romanessay
Die Andere Bibliothek/Eichborn 2011, 272 Seiten, 29,00 Euro
Hans Christoph Buch gehört zu den ganz wenigen wirklichen Reiseschriftstellern Deutschlands. Unvergessen sind seine Bücher über die Karibik, und besonders Haiti, aber auch in Afrika kennt sich Buch
blendend aus. Für Christoph Ludszuweit in der
FR zeichnet sich "Apokalypse Afrika " nicht zuletzt durch eine "gesunde Skepsis" aus, die aber ohne den in der Afrika-Berichterstattung typischen düsteren Ton auskommt. Buch kennt die
koloniale Vergangenheit Afrikas, schiebt aber die Probleme der postkolonialen Gegenwart nicht allein auf die ehemaligen Kolonialmächte. Jan Röhnert schildert das Buch in der
FAZ ebenso sehr als Besichtigung der "Kollateralschäden der Zivilisation" als auch als Abstieg in die "Abgründe des eigenen Ich".
SachbuchTimothy SnyderBloodlandsEuropa zwischen Hitler und Stalin
C. H. Beck Verlag 2011, 523 Seiten, 29,95 Euro
Das Buch des ambitionierten Yale-Historikers, den Tony Judt in seinen letzten Jahren förderte, versteht sich durchaus als
Paradigmenwechsel: Timothy Snyder begibt sich ins Herz der Finsternis im finsteren 20. Jahrhundert, das große Morden in Polen, den Baltischen Ländern, der Ukraine, Weißrussland und Russland in den dreißiger und vierziger Jahren. Ganze Bevölkerungen wurden dort bekanntlich ausgelöscht, von den Bauern der Ukraine unter Stalin bis hin zu den Juden im Holocaust. Snyder versucht aus der Perspektive der Opfer zu schreiben, sagt etwa Stefan Reinecke in der
taz, und schiebt den Akzent weg von Auschwitz und dem Gulag und hin zu
Massenerschießungen und
Hungermord, die mangels Überlebenden längst nicht so tief in unser Gedächtnis eingesenkt sind. Seltsamerweise sind die Reaktionen in Deutschland auf das in den USA gefeierte Buch bisher allesamt skeptisch: Laut Jörg Baberowski in der
Zeit lässt Snyder am Ende
alle Fragen offen: In welchem Zusammenhang stehen diese Verbrechen denn? Bedingten, legitimierten und radikalisierten sie sich gegenseitig? Wie haben die Menschen diese Gewalträume selbst erlebt? Auch
NZZ-Rezensent Ahlrich Meyer vermisst in dem Buch vor allem Erklärungen. Und Stefan Reinecke wirft Snyder in der
taz vor, die Geschichte nicht richtig verstanden zu haben: Wäre die SPD bereit gewesen zu einem Bündnis mit der KPD, wäre sie nämlich ganz anders verlaufen!
Hier eine Leseprobe.
James WoodDie Kunst des ErzählensRowohlt Verlag 2011, 224 Seiten, 19,95 Euro
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James Wood wird hier gern als der
amerikanische Reich-Ranicki vorgestellt. Er teilt mit MRR einen gewissen Hang zum Klassizismus, allerdings nicht so sehr die Neigung zur Polemik und schon gar nicht das Alter. Alle Kritiker haben Woods "Kunst des Erzählens" bisher positiv aufgenommen. Ijoma Mangold führt James Wood in der
Zeit neidlos als berühmtesten "Literaturkritiker der Welt" ein und empfiehlt ihn vor allem als Autor, bei dem man
lesen lernen könne: Wood fliege nicht im Düsenjet über die Textlandschaften, sondern untersuche sehr genau die Erzähltechniken, Perspektive und Figurenrede, in denen sich die ganze Größe des
modernen realistischen Erzählens zeige. Auch Ina Hartwig kann in der
SZ Woods Plädoyer für den Realismus einiges abgewinnen - und murrt dann doch, dass er sich so gar nicht auf
Experimentelles von Gertrude Stein oder Georges Perec einlässt. Und
FAZ-Rezensent Klaus Birnstiel freut sich, dass Wood von Romanen jedenfalls nicht gesellschaftliche oder politische Relevanz verlangt, sondern dass er sie
ästhetisch lese. (Hier findet man einige
Kritiken Woods für den
New Yorker)