31.05.2005. Verworrene Schönheit, ungemeine Bescheidenheit, lebensgefährliche Kritik: all das war drin in den besten Büchern des letzten Monats. Wir haben für jeden Geschmack etwas ausgewählt, vom gekonnten Thriller bis zum meisterlichen Porträt. Lesenswert sind sie einfach alle!
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Lebensgefährliche Kritik
"Ich klage an", der Titel ist Programm. Sehr dezidiert kritisiert
Ayaan Hirsi Ali die Unterdrückung der Frau im Islam Durch Zwangsheiraten würden ihre Leidensgenossinnen zu
"Söhnefabriken" reduziert, Selbstbestimmung sei nicht vorgesehen. Die
FR kann der niederländischen Politikerin und provozierenden Menschenrechtsaktivistin (
"Submission") nur zustimmen, wenn diese zeigt, wie die Fixierung auf die
Jungfräulichkeit die Mädchen in einen Käfig einsperrt, der vor den überall lauernden sexuellen Verführungen schützen soll. Daraus resultiere automatisch eine
Kultur der Lüge. Als Verzerrung und Übertreibung empfindet die
FR hingegen Alis Bild eines generell grausamen Islam.
Lässig in die FremdeGernot Wolfram tut nicht nur lässig, er schreibt auch
lässig, meint die
SZ und bestätigt damit die Meinung der Kritikerkollegen über Wolframs Erstling
"Samuels Reise" Ein so gut lesbarer Roman aus dem deutschen Sprachraum, der eine
gewisse Leichtigkeit transportiert, hat für die
Zeit Seltenheitswert. Auf der Suche nach dem durchgebrannten Ziehsohn entdeckt ein junger Übersetzer im polnischen Krakau seine
Lust an der Fremde. Wolfram beschreibe diese Erfahrung "liebevoll" als Aufbruch, wie die
taz voll Sympathie bemerkt. Für die weit gereiste
FAZ trägt Wolframs Polen der Nachwendezeit zwar eindeutig tschechische oder
ostdeutsche Züge, abgesehen davon hat aber auch ihr der Roman gut gefallen.
Ruhe. Sencha. Krasznahorkai.Laszlo Krasznahorkais schmaler Roman mit dem breiten Titel
"Im Norden ein Berg, im Süden ein See, im Westen Wege, im Osten ein Fluss" wird so hartnäckig gelobt, dass wir diese
"großartige japanische Meditation" (
NZZ) nun endlich empfehlen müssen. Die Handlung ist schnell erzählt. Der mythische Kaiserenkel Genji findet in einem Klostergarten die sprachlos machende Schönheit der Natur. Eine stumme Erkenntnis, von Krasznahorkai mit einer
stilistischen Virtuosität geschildert, die der
FAZ den Atem raubt, den sie ohnehin seit der ersten Seite angehalten hatte. Für die um Nüchternheit ringende
Zeit ist der Roman eine Auseinandersetzung mit der kopflastigen, realitätsversessenen westlichen Gesellschaft, aber auch sie erliegt schließlich diesem Traktat voll
verworrener Schönheit.
Der neue Fitzgerald?Noch ein Buch zum Mythos vom Big Apple, seufzt die
taz zunächst, um sich dann von
Colson Whiteheads "Koloss von New York" schnell eines Besseren belehren zu lassen. Nach den vielbeachteten
"John Henry Days" lugt sie dem Schriftstellertalent nun fasziniert bei der Erstellung eines persönlichen Stadtplans der magischen Orte über die Schulter. Die
NZZ bestaunt vor allem die
"gemeißelten Sätze", aus denen die dreizehn Essays bestehen. Ansonsten verteilt sie große Komplimente. Ein
F. Scott Fitzgerald unserer Tage sei Whitehead noch nicht. "Aber er hat das Zeug dazu". Nur der
FAZ ist das Ganze ein wenig zu verschwommen.
Marlowes MörderAn den Lesesessel gefesselt verfolgen die Rezensenten die desaströsen letzten drei Tage im Leben des
Christopher Marlowe, seines Zeichens Schriftsteller und Spion im elisabethanischen London von 1593.
Louise Welsh hat mit
"Tamburlaine muss sterben" einen historischen Thriller, Literaturkrimi und Sittenroman zugleich verfasst, verkündet die
FAZ, die mit offensichtlicher Freude in die
"stinkende Eiterbeule" Londons eintaucht, in der Marlowe einen wahnsinnigen Mörder sucht, der einem seiner Stücke entsprungen sein könnte. Zusammen mit Spitzeln, Spitzbuben und Teufelsbeschwörern sitzt die
FAZ dann glücklich in der Kneipe und genießt die
schwarze Romantik um sie herum. Rundum gut unterhalten fühlt sich auch die
SZ, die Welsh bei Dialogkonstruktion, Schauplatzwahl und Kulissenbau
großes Können bescheinigt.
Einsam zwischen Tito und EUEinen der interessantesten
slowenischen Autoren hat die
Zeit in
Andrej Blatnik entdeckt, der sie mit dem Erzählband
"Der Tag, an dem Tito starb" beeindruckt Blatniks Stücke handeln von dem Spagat, den sein kleines Land derzeit zwischen
Tito-Kommuinismus und EU-Kapitalismus vollführt. Der verknappte Stil und die vereinsamten Figuren erinnern sie an an Altmeister
Raymond Carver, dessen slowenische Nachfolge Blatnik mit "Bravour" antritt. Durch die elegante Übersetzung verlieren Geschichten wie die des Ehemanns, der seine Frau durch seine
nächtelangen Spaziergänge in den Glauben versetzt, er hätte eine Geliebte, zudem nichts von ihrem
"Swing".
Dicke Fische Zwei zigarrenrauchende, schwergewichtige Männer der Politik werden mit gehaltvollen Büchern geehrt.
Alfred C. Mierzejewskis distanziertes wie sympathisierendes Porträt des "in der Wolle gefärbten Liberalen"
"Ludwig Erhard" bejubelt die
SZ als
wichtigste Veröffentlichung zur deutschen Wirtschaftsgeschichte seit langem Die
Zeit fordert kurzerhand, die Parteivorstände von CDU und SPD mit Freiexemplaren zu versorgen.
David Cannadine beschäftigt sich in seinem Essayband zu
"Winston Churchill" auch mit den
Rhetorikkünsten des Abenteurers, Monarchisten und Staatsmannes. Da passt es gut, dass der Historiker Cannadine selbst ein
"Meister des konzisen Stils" ist, meint die
SZ.
Beethovens Cutter Ein Buch über
"Die Kunst des Filmschnitts" klingt schon recht speziell. Ist es aber nicht, versichert die
FAZ, die
Michael Ondaatjes Gespräche mit der
Cutterlegende Walter Murch jedem ans Herz legt, der einmal einen Film gesehen hat Die
Zeit entzückt vor allem Murchs "ungemein bescheidene" Art und der
Verzicht auf Fachsimpeleien. Hingerissen ist sie von Murchs kenntnisreichen Ausflügen in die klassische Musik, die Literatur, Physik und Philosophie. Zu lernen ist etwa, dass
Beethovens orchestrale Struktur den Filmschnitt vorweggenommen hat. Ondaatje, Autor von "Der Englische Patient", hätte sich zwar etwas mehr zurücknehmen können, meint die
Zeit. Doch für das Husarenstück, den stillen Murch
aus der Deckung gelockt zu haben, verzeiht sie ihm alles.
Gesetzestreue FolterknechteDie Überlegungen
Jan Philipp Reemtsmas zur
"Folter im Rechtsstaat?" werden das Feuilleton vermutlich noch länger beschäftigen Noch hat nur die
Zeit reagiert, die Reemtsma erst mal für die gewohnt kompetente Rekonstruktion der ganzen bisherigen Debatte lobt. Die Frage selbst ist für Entführungsopfer Reemtsma nicht rechtlich zu lösen. Während er für sich persönlich
äußerste Mittel nicht ausschließen will, erlaubt er dies dem Staat jedoch nicht. Die Diskussion darüber, welche Gewaltmittel der Staat anwenden darf, gehört aber durchaus in die Öffentlichkeit, mahnt die
Zeit.