03.06.2018. George Saunders feiert mit Abraham Lincoln und den Geistern im Totenreich das Leben, Waguih Ghali erkundet das postrevolutionäre Kairo der Fünfziger, Madame Nielsen erzählt magisch, poetisch und mit einer Prise Düsternis von aristokratischen Hippies auf einem sommerlichen Gutshof in Dänemark, und Michael Angele porträtiert Frank Schirrmacher. Dies alles und mehr in den besten Büchern des Monats Juni.
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Lyrikkolumne "Tagtigall", dem
"Fotolot", in der
Krimikolumne "Mord und Ratschlag", in
Arno Widmanns "Vom Nachttisch geräumt", in unseren
Büchern der Saison, den
Notizen zu den jüngsten
Literaturbeilagen und in den älteren
Bücherbriefen.
LiteraturWaguih GhalaSnooker in KairoRoman
C.H. Beck Verlag. 256 Seiten. 22 Euro
Der Debütroman des Ägypters Waguih Ghala wurde bereits vor fünfzig Jahren veröffentlicht, schildert die
postrevolutionäre Zeit unter Präsident Nasser, als das Land nach allen Aufbruchshoffnungen träge und gelähmt darniederlag und wurde während des arabischen Frühlings zu einem Fanal für die Demonstrierenden, wie uns der Klappentext verrät. Die Geschichte um den einer verarmten
koptischen Upperclass-
Familie entstammenden Ram birgt damals wie heute einige Brisanz, versichert
taz-Kritiker Christopher Resch. Zwischen Alkohol, Frauen, England und seiner Liebe zu der Jüdin Edna hin und hergerissen, schließt er sich der Kommunistischen Partei an, verzweifelt aber auch dort.
SZ-Kritikerin Sonja Zekri hat selten so
hellsichtig und klar über das Verhältnis der
arabischen Welt zum Westen gelesen und staunt, wie der Autor die postkoloniale Zerrissenheit im
Kairo der 50er Jahre, die Sehnsucht nach einem säkularen, weltoffenen Leben und schließlich die Desillusionierung einer ganzen Generation beschreibt. So politisch wie in
Robert Hamiltons "
Stadt der Rebellion" geht es hier nicht zu, das "ironische Parlando" erinnert eher
F. Scott Fitzgeralds "Der große Gatsby",
bestätigt Dina Netz im
DLF. "Schwarzen Humor" und "leise Melancholie"
lobt Martin Ebel im
Tagesanzeiger.
Madame Nielsen
Der endlose SommerRoman
Kiepenheuer & Witsch Verlag. 192 Seiten, 18 Euro
Madame Nielsen wurde als Claus Beck-Nielsen geboren, lebte eine Weile
ohne Papiere auf der Straße und ist in Dänemark längst als Performance-Künstlerin und Autorin berühmt. Und genau diese Kraft, mit der sich Nielsen nach einer Lebenskrise in eine Kunstfigur verwandelte, spürt man in dieser traumverlorenen, aus der Perspektive eines scheuen Jungen erzählten Geschichte um eine hippiesk auf einem Gutshof lebende und
exzentrische Aristokratenfamilie, schwärmt Meike Fessmann in der
SZ, vollkommen verzaubert von der musikalischen Sprache und der Magie des im Text verborgenen
Freiheitsversprechens. Dieser Roman ist ein "
kleines Wunder", meint sie: Märchenhaft, sinnlich, voller Bezüge zur Literatur, zur Bibel und zur Romantik und doch "
realitätsmächtig".
Zeit-Kritiker Ijoma Mangold, der Nielsen zum Kaffee getroffen hat, liest einen "Traum aus Sprache", der ihn zumindest für die Dauer der Lektüre die "Schwerkraft der Wirklichkeit" vergessen lässt. Eine amour fou, eine
Prise Düsternis und der Hauch einer untergegangenen Welt machen das Lesevergnügen für Mangold perfekt. "Alles Konkrete ist wie von einer gleißenden Helligkeit geblendet, mit Figuren statt Namen,
Sommergefühl statt Daten",
lobt Anne Haeming im
Spiegel und im
DLF staunt Antje Strubel, wie Nielsen "das Ich aus rigiden Identitätspolitiken zu befreien vermag". In der
ARD-Mediathek steht ein
Beitrag zum Roman online.
George SaundersLincoln im BardoRoman
Luchterhand Literaturverlag. 448 Seiten, 25 Euro
Als Bardo wird jener Zwischenzustand bezeichnet, der im "Tibetanischen Totenbuch" das Umherirren zwischen Tod, Wiedergeburt und Nirvana beschreibt. Und dennoch hat
SZ-Kritiker Ulrich Baron lange keinen Roman mehr gelesen, der die "
Schönheit der Welt" so feiert wie George Saunders' Debütroman, der uns anhand von Studien, zeitgenössischen Dokumenten, Augenzeugenberichten und mit einer reichen Erfindungsgabe erzählt, wie
Abraham Lincoln seinen früh verstorbenen Sohn Willie eine Nacht lang am Grab in seinen Armen hält und den Gesprächen der Toten lauscht. Dass es mitunter recht derb zugeht in den
Miniaturdialogen der Geister von Sklaven, Geistlichen, Soldaten und Politikern, stört
FAZ-Kritikerin Sandra Kegel nicht, auch
FR-Kritikerin Sylvia Staude mag das Chaos, das Maulende, Fluchende und das "
Dunkel-Zarte" des Gespenstergelages. Gut gefällt den Rezensenten auch, wie Saunders Szenen aus dem Totenreich und solche aus dem Bürgerkrieg zusammensetzt: Laut
DLF-Kritiker Michael Schmitt
wird der Roman gar zum "Spiegel jener Gesellschaft, deren innere Widersprüche die USA in den Bürgerkrieg" trieben. Gabriele von Arnim
lobt im
DLF-Kultur vor allem
Frank Heiberts "prachtvoll-wirbelnde" Übersetzung.
Claire GondorEin Klein aus Tinte und PapierRoman
Klaus Wagenbach Verlag. 112 Seiten. 16 Euro
Nur eine einzige Besprechung hat dieser schmale Debütroman der französischen Bibliothekarin und Autorin Claire Gondor bisher erhalten - die aber fällt hymnisch aus: Eine "wunderschöne, sinnliche Liebesgeschichte", durchzogen von "etwas
Dunklem und Dramatischem" hat
FR-Kritikerin Anja Ruf gelesen. Atemlos lässt sie sich von Gondor mit in die Pariser Juli-Hitze nehmen, in jene Wohnung, in der die junge, in Afghanistan aufgewachsene Leila an einem Hochzeitskleid aus den Briefen ihres Verlobten Dan näht, der sich auf einem Auslands-Einsatz im Sudan befindet. Poetische Sprachbilder, traumverlorene
Erinnerungen an eine Kindheit in Kabul, einen "Himmel aus Milch" oder das Rascheln der Gewürzpflanzen entdeckt die Kritikerin hier neben seltenen Szenen aus dem afghanischen
Kriegsalltag. Am liebsten möchte sie das Buch gleich wieder lesen, ganz langsam allerdings, um in die Poesie der Sprache "einzutauchen".
Brit Bennett
Die MütterRoman
Rowohlt. 320 Seiten. 20 Euro
Erst 26 Jahre alt war die afroamerikanische Autorin Brit Bennett, als ihr Debütroman in Amerika erschien - eine Platzierung an der Spitze der Bestsellerliste, eine Nominierung für den PEN-Award und das Angebot für eine Verfilmung folgten. So scheut Maria Frisé in der
FAZ auch nicht den
Vergleich mit Toni Morrison: Viel "
amerikanische Wirklichkeit" bescheinigt sie dem Roman, der ihr von der siebzehn Jahre alten Nadia erzählt, die nach dem Tod der Mutter in einer von Evangelikalen geprägten schwarzen Gemeinschaft in der kalifornischen Provinz aufwächst, wo jedoch die titelgebenden "Mütter" in einem Chor auftretend Gerüchte verbreiten, "frömmelnd über das Gemeindeleben" wachen und natürlich besonders die vom Pastorensohn schwangere Nadja auf dem Kieker haben, die das Kaff allerdings nach Abtreibung und Stipendium bald verlässt.
Präzise und
unerbittlich wird dieser Ausbruch geschildert, meint Frisé.
Spiegel-Kritikerin Britta Schmeis
liest eine wunderbar geschriebene, traurige Geschichte über das Erwachsensein, die strenge Vorstellungen von Schuld und Moral beleuchtet. Und im
DLF-Kultur
staunt Gabriele von Arnim, wie Bennett den
Rassismus als Normalität darstellt, indem sie ihn kaum zum Thema macht.
SachbuchMichael AngeleSchirrmacherEin Porträt
Aufbau Verlag. 222 Seiten. 20 Seiten
Michael Angele ist mit seinem Schirrmacher-Porträt (das Wort passt besser als "Biografie") ein
diplomatisches Kunststück gelungen. Wie heiß das Thema noch ist, merkt man bei der Lektüre des Buchs allein an der Zahl der Zitate, die nicht namentlich ausgewiesen sind. Wie groß die Faszination der kleinen Feuilleton-Welt, aber auch der viel mächtigeren der Medien und Politik für diesen Charismatiker war, wurde zu seinen Lebzeiten kaum thematisiert. In welchem Medium denn? Angele hält
ironische Äquidistanz und misst Schirrmacher erst gar nicht an Ideen journalistischer Ethik. Wie
hässlich Schirrmachers Gebaren sein konnte, hätte er etwa aus dem
Perlentaucher erfahren können, der als einziges Medium darstellte, wie sich die
FAZ einst etwa an
Klaus Harpprecht rächte. Aber immerhin: Angele verschweigt nicht, was Schirrmacher für eine Machtfigur war und wie skrupellos er teilweise vorging. Das Buch ist schon weithin besprochen. Erstaunlich Andrian Kreyes Verriss in der
SZ. Die meisten anderen Kritiken sind positiv. Nur die
FR wollte lieber das Werk als die Person Schirrmachers dargestellt haben.
Christopher Nehring
Millionär in der DDRDie deutsch-deutsche Geschichte des Kunstmillionärs Siegfried Kath
Büchner Verlag. 200 Seiten. 18 Euro
Davon, wie man im
Sozialismus den
American Dream leben konnte, erzählt uns der Historiker Christopher Nehring in seiner Biografie über den Antiquitätenhändler
Siegfried Kath, der 1961 als arbeitsloser Bergmann eher versehentlich in der DDR landete, schnell bemerkte, dass es eine Menge Geld bringen konnte,
Antiquitäten in der DDR gegen wenig Geld zu kaufen und für viel Geld im Westen zu verkaufen. Bald arbeitete er mit Alexander Schalck-Golodkowskis Stasi-Abteilung "Kommerzielle Koordinierung" (KoKo) zusammen, die dann aber schnell genug von ihm lernte, um ihn fallen zu lassen und in Untersuchungshaft abschob.
FAZ-Kritiker Stefan Locke vermeidet zwar - abgesehen von einem Lob für Nehrings
detailreiche Recherche ein klares Urteil -, seine angeregte Nacherzählung lässt allerdings vermuten, dass das Buch so spannend zu lesen ist, wie die
irrwitzige Geschichte klingt. In der
Welt scheint auch Florentine Kutscher gebannt in das "Gewirr aus zwielichtigen Geschäftspraktiken, Geheimdienstverbindungen und deutsch-deutschen Kontakten" geblickt zu haben. Für die
Berliner Zeitung hat Florian Thalmann mit dem Historiker
gesprochen und im
Spiegel schreibt Nehring selbst über Kath.
Georg SchmidtDie Reiter der ApokalypseGeschichte des Dreißigjährigen Kriegs
C.H. Beck Verlag. 810 Seiten. 32 Euro
Bis es zum Religionsfrieden und irgendwann mal zur Trennung von Staat und Kirchen kam, mussten erstmal ein paar Millionen Menschen sterben. Schmidts Gesamtdarstellung des Dreißigjährigen Kriegs ist sehr positiv aufgenommen worden: Rudolf Neumaier lobt in der
SZ den Quellenreichtum und die
atmosphärische Dichte des Buchs. Andreas Kilb bemängelt zwar eine gewisse Magerkeit der Personenzeichnung, schätzt aber umso mehr die Darstellung des Kriegsgeschehens. "Recht ausführlich widmet sich Georg Schmidt auch der religiösen Propaganda, die den Krieg anheizt und die auch einen Teil der Grausamkeiten erklärt", schreibt Hartmut Schade in einer
Besprechung für den
MDR. In der
Zeit besprach der Historikerkollege
Bernd Roeck den Band: Schmidt deute den Krieg nicht nur als Religionskonflikt, sondern als Machtkampf, als Selbstbehauptung der alten Stände und Staaten gegen die
Hegemoniebestrebungen der Habsburger. Da Schmidt auf Aktualisierungen des Geschehens verzichtet, sieht Roeck in diesem Buch auch das Gegenstück zu
Herfried Münklers Band, der mit seiner aktualisierenden Geschichtsschreibung den "historisierenden Historikern" den Kampf angesagt habe.
Thea DornDeutsch, nicht dumpfEin Leitfaden für aufgeklärte Patrioten
Albrecht Knaus Verlag. 336 Seiten. 24 Euro
Thea Dorns Plädoyer für aufgeklärten Patriotismus bietet in Zeiten von Heimatministerium, Kreuz-Beschlüssen und AfD bestimmt allerhand kontroversen Debattenstoff. So liest
SZ-Kritiker Jens Bisky das Buch denn auch mit gemischten Gefühlen: Dorns Ansatz, statt einer "Leitkultur" den Begriff einer "
Leitzivilität" zu etablieren und den Verfassungspatriotismus um einen Kulturpatriotismus zu ergänzen, findet der Kritiker nicht verkehrt, zudem anhand von zahlreichen Zitaten aus klassischen Texten über Fichte bis Mann und Elias gut belegt. Eine klare Definition des Begriffs "Patriotismus", dafür weniger Meldungen und Äußerungen, etwa zu Flüchtlingen, Europa oder dem Islam, hätte sich Bisky allerdings schon gewünscht. Für den
Spiegel hat
Sigmar Gabriel das Buch
gelesen und bescheinigt Dorn "ein
zeitgemäßes Heimatverständnis ohne Kitsch und Folklore". Ihr gelinge es mit Scharfsinn, die "populistische Verklärung des Nationalen" als "fiebrige Wahnvorstellung" zu entlarven, ohne dabei die "ängstlichen Vertreterinnen und Vertreter der linksliberalen Postmoderne" zu schonen, schreibt er. Überraschend "differenziert" und "
angenehm im Ton"
nennt auch Jens Balzer den Essay im
DLF-Kultur, wenn gleich er jenseits des bildungsbürgerlichen Kanons das Interesse für die Popkultur der Gegenwart vermisst. Stephan Wackwitz empfiehlt das Buch in der
FAZ als gelungenen
Leitfaden für demokratisch Denkende, die Orientierung suchen. In der
taz hat Rudolf Walther nichts als Hohn für Dorn übrig. Für die
Zeit haben Iris Radisch und Adam Soboczynski ein ausführliches Interview mit Dorn geführt. In den Mediatheken von
SWR2 und
ZDF stehen Beiträge zur Verfügung.
Walter Isaacson The InnovatorsDie Vordenker der digitalen Revolution von Ada Lovelace bis Steve Jobs
C. Bertelsmann. 640 Seiten. 26 Euro
Walter Isaacson hat sich durch eine großartige
Biografie über
Steve Jobs empfohlen, die kurz nach dem Tod des Apple-Gründers viel mehr als dessen Geschichte erzählte - das Buch war so etwas wie eine Sozial- und Kulturgeschichte des frühen
Silicon Valley.
FAZ-Rezensent Günter Hack empfiehlt auch diesen Nachfolger: Auch wenn der Kritiker nicht allzu viel Neues erfahren hat, kann ihm Isaacson die IT-Geschichte von Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur
Gründung von Google anhand
interessanter Fallbeispiele und mit besonderem Augenmerk auf die Erfindungen von Frauen, etwa Ada Lovelace oder Grace Hopper, anschaulich machen. Dass Isaacson Entwicklungen außerhalb des angloamerikanischen Raums nur streift, findet der Rezensent zwar schade. Im Interview mit der
Welt (nicht online) dämpfte Isaacson übrigens neulich seinen Techno-Optimismus, den ihm der
Guardian in einer insgesamt
positiven Kritik des neuen Buchs noch angekreidet hatte und lobte
europäische Datenschutzinitiativen.